Archiv der Kategorie: Urlaubslektüre

Musik in Wien

Wien, Neustiftgasse Ecke Kellermanngasse. Ein Hauch von Melodik macht sich breit. Die Ersten zögern, bleiben stehen. Dann bricht es aus ihnen heraus: „Oh Du lieber Augustin, Augustin…“. Was ist geschehen? Sie haben das Denkmal vom lieben Augustin entdeckt. Er hat die Nacht in einer Pestgrube überlebt. Schlawiner oder Glückspilz? Das Lied ist bekannt, auch über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Den Grundstein für die Allianz von Musik und Wien hat es bestimmt nicht gelegt, ist aber mindestens genauso eng damit verbunden wie Hietzings bekannteste Mieter: Liszt, Strauss, Beethoven. Apropos Beethoven. Will man Wien zu Fuß auf seinen Stationen folgen, muss man sich gut rüsten. Der gute Mann ist andauernd umgezogen. Mal „nur schräg gegenüber“, mal „gleich ans andere Ende der Stadt“. Ein echter Marathon, der wie so viele Stadtrundgänge auf den Spuren großer Namen (meistens sind es dann doch Musiker, zumindest Künstler) auf dem Zentralen enden.

Peter Rupperts „Musik in Wien“ ist der ultimative Reiseband für alle Musikfreunde, die in Wien schon so manche Ecke erkundet haben und die man nur schwer noch beeindrucken kann. Das geballte Musikwissen der Stadt in einem Buch – Freud und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, triumphale Erfolge und nicht minder bittere Niederlagen und Tumulte. Es sind die kleinen Anekdoten, die dieses Buch so besonders machen.

Und wer weiß schon, dass auch Alma Mahler-Werfel selbst komponierte? Ihre Werke sind leider größtenteils verschollen. Dachbodenfunde zu bestimmten Jubiläen sind also nicht ausgeschlossen.

Auch begnügt sich Peter Ruppert nicht damit nur all die großen Namen aufzuzählen und ihnen auf der Spur zu bleiben. Sie alle hatten Schüler und Verehrer, die ihnen nachreisten oder schon da waren. Haydn lehrte Beethoven. Es passt nicht, geht sich nicht aus. Beethoven grübelt, wettert gegen den Alten. Sucht Rat bei Johann Georg Albrechtsberger. Doch auch der ist mit dem ungestümen Rheinländer überfordert. Später wird Albrechtsberger auf Anraten von Mozart Domkapellmeister zu St. Stephan. Im Wiener Stadtteil Meidling, im Zwölften, ist eine Gasse nach ihm benannt.

Augen auf beim Wienbummel. Immer wieder, fast schon an jeder Ecke, trifft man auf Namen, die der Stadt ein gewisses Flair gaben. Doch das hörte nicht einfach mit dem Ende des Walzerzeitalters oder des Kaiserreiches oder gar mit dem Ende der klassischen Musik auf. Moderne Komponisten wie Arnold Schönberg oder Alban Berg übernahmen den Ruhm ihrer Vorgänger nahtlos. Der Zeitungsausschnitt im Buchklappentext über ein Konzert mit moderner Musik lässt die „ausgelöste Stimmung“ bis heute erahnen – das als Watschenkonzert in die Geschichte eingegangene Ereignis gehört zu Wien wie Falcos „Vienna Calling“ oder Wolfgang Ambros’  „Es lebe der Zentralfriedhof“. Ihnen allen widmet sich dieses Buch und wird für jeden, der mit einem Liedchen auf den Lippen, mit der unstillbaren Neugier eines Wientouristen, ohne Bedenken sich der Stadt hingeben will, zu einem dienlichen Begleiter.

Fenua

Wie sieht das Paradies aus? Für die Einen ist es eine Insel im Mittelmeer, auf man sich eine neue Existenz aufbauen will. Doch der Wille allein ist niemals ausreichend… Für einen Fußballprofi beispielsweise ist es das siegbringende Tor am Tage der Geburt des ersten Nachwuchses. Da trägt man schon mal gern die Kugel vor sich her… Für echte Träumer, Phantasten, kreative Seelenwanderer ist es die Südsee.

Paul Gauguin wählte eine der Inseln als sein Elysium. Hier schuf er Werke, die an Reinheit nicht zu überbieten sind und Groß und Klein, Jung und Alt, Kunstbesessene und Genießer gleichermaßen immer noch in Verzückung setzt. Die Meuterer der Bounty fanden hier ihr Glück bis der Alltag (inkl. der „kleinen Wehwehchen“) sie einholte und ihr Captain so manchen Kiel holen ließ.

Ach ja, die Südsee. Das Paradies! Das Paradies? Erst kürzlich bekam es Risse, als die Bewohner Vanuatus (immer wieder spannend wie viele Aussprachemöglichkeiten immer noch im Fernsehen kursieren) ihr Paradies fast wortwörtlich untergehen sahen. Patrick Deville ist auch dem Mythos Paradies auf der Spur. Auch er ist Gauguin auf der Spur. Und den Meuterern der Bounty. Und Herman Melville. Und Robert Louis Stevenson. Und Jack London. Und und und. Dieses Paradies – das von Patrick Deville – ist rissig. Loser Boden, von klitzekleinen Atomen aufgesprengt. Stürmische Winde, die die Palmen nicht nur romantisch von Links nach Rechts wehen lassen, sondern ihre mächtigen Stämme brechen lassen wie Streichhölzer. Gigantische Stahlrösser, die mit rauschenden Bugwellen den Horizont binnen Sekunden verschwinden lassen. Und dennoch taucht man ein in eine Welt, die eben trotz aller Unkenrufe und sichtbarer Verletzungen immer wieder und immer noch als Paradies in den Gedanken verankert ist.

Die Welt ist hier schon lange nicht mehr in Ordnung. Romantisch mit bitterer illusionsbefreiter Poesie reist er übers Meer, um … Ja, warum? Was sucht er? Bestätigung, dass seine Vorstellung vom Paradies nicht falsch ist, sie niemals falsch war? Oder kratzt er wie eine Berserker an der Oberfläche, um Schätze zu bergen, die man einfach bergen muss, um nicht gänzlich der Realität anheimzufallen?

Es ist von allem ein bisschen. Aber in erster Linie ist „Fenua“ ein Buch zum Träumen. Gedankenverloren blättert man Seite um Seite durch eine Welt, die selbige erst zur Welt macht. Sich Illusionen hingeben zu können, ist nicht einfach nur blinde Folgsamkeit. Bei Patrick Deville ist es eine Kunstform, die nur er beherrscht. Preisgekrönt, betörend, verstörend und verführerisch knüpft er kaum sichtbare, aber unverhohlen spürbare Bande zwischen dem, was im Bücherschrank seit Generationen Sehnsüchte schürt und dem, was in den Nachrichten für Entsetzen sorgt. Sich auf dieses Abenteuer einzulassen, verlangt nicht Mut. Nur die Bereitschaft sich dem Paradies annähern zu wollen. Dann ist das Lächeln im Gesicht wahrhaft und … paradiesisch. Willkommen in der Heimat, denn nichts anderes bedeutet im Tuvaluischen Fenua (Betonung auf der ersten Silbe!).

Teneriffa

Und immer wieder die Kanaren: Das trubelige Gran Canaria, das verträumte Lanzarote und das stachelige Teneriffa. Das stachelige Teneriffa? Soll das Titelbild dieses Reisebandes etwa ein Hinweis auf die Undurchdringbarkeit der Insel hinweisen? Mitnichten. Denn Irene Börjes schlägt Schneisen ins Dickicht des Unbekannten, das einem die Augen übergehen. Wer sich für Teneriffa entscheidet, tut das in dem Bewusstsein Natur und Mensch sich gleichermaßen anzunähern. Hier steht man sich nicht gegenüber, hier geht man Hand in Hand und erlebt die schönste Zeit des Jahres.

Das kann zum Beispiel beim Lucha Canaria geschehen. Wer sich beim allabendlichen Fernsehen die Sinne schon mal beim Wrestling versengt hat, dem ist Lucha Libre ein Begriff. Die mexikanische Variante des Wrestlings, mit viel Show, Tamtam und bunten Kostümen. Weniger Show, trotzdem viel Tamtam und echter Leidenschaft stehen sich Mann gegen Mann und auch schon mal Frau gegen Frau gegenüber. Man reicht sich die Hand. Brega – es geht los. Wer nun mit einem anderen Körperteil als dem Fuß den Boden berührt, hat verloren. Es gibt sogar eine Liga. Und für die meisten ist erst dann Wochenende, wenn lucha canaria die Menschen zusammenbringt. Ein Spektakel, das man sich als Besucher nicht entgehen lassen sollte.

Teneriffa kann sich außerdem rühmen die höchste Erhebung Spaniens zu besitzen, den Teide. Kann man relativ einfach erklimmen. Aber Vorsicht, hier zieht’s, an den Klamotten, an der Kondition, manchmal auch und gerade deswegen an den Nerven. Wie, wann, von wo man am besten nach Oben kommt – hier steht’s, ab Seite 170, in der zehnten Auflage dieses Reisebandes ohne den man die Insel gar nicht erst zu besuchen braucht. Mehr als in diesem Buch steht, weiß sicherlich auch kein Einheimischer!

Costa del Silencio verspricht schon vom Namen her eintönige Ruhe, die man nicht lange suchen muss. Quirliger, aber nicht abgeschmackt geht es in Los Cristianos zu. Die Beats der Retortenorte Playa de las Américas und Costa Adeje hinter sich lassend, ist man hier noch lange nicht im Nirgendwo. Aber alles ist ein bisschen ruhiger und dennoch städtisch angenehm erschlossen.

Egal, wo man sich auf Teneriffa wie auch immer erholen möchte, die Tipps von Irene Börjes treffen jedes Mal mitten ins Herz des Begehrens. Die farbigen Kästen machen nicht nur das Buch bunter, sondern auch den Aufenthalt. Wie sonst sollte man sonst vom lucha canaria erfahren?!

Lanzarote

Lanzarote ist derart gut erschlossen, dass man eigentlich kein Reisebuch mehr braucht. Das mag stimmen, wenn man den Urlaub in einem Reisebüro planen und sich dann vom Taxi abholen lässt, über den halben Kontinent und einen Teile des Atlantiks fliegt. Sich dann ins Hotel bringen lässt, auspackt und dann zwei Wochen am Pool die Drinks genießt, die man daheim in jeder halbwegs vernünftigen Bar ebenso genießen kann.

Oder man nimmt die Planung selbst in die Hand. Das kann schon mal ein paar Stunden oder Tage dauern. Aber wie beim Warten aufs Christkind ist die Belohnung umso schöner, wenn man dann endlich die Geschenke auspacken darf. Mehr als nur eine hilfreiche Stütze ist bei letzter Planung dieser Reiseband. Reisebuchautor Eberhard Fohrer hat eine persönliche Beziehung zur Insel. Er lebte hier, machte hier unzählige Urlaube und recherchierte hier noch öfter. Zieht man ihn zu Rate, dann erblasst jedes Reisebüro. Und ereignisreicher werden die ein oder zwei oder mehr Wochen ohnehin. Die 416 Seiten dieses Reisebuches sind nicht nur chic anzusehen, sie sind ein El Dorado für alle, die Lanzarote erkunden und im besten Sinne für sich erobern wollen. Ein Appetitmacher, der hält, was er verspricht!

Das beginnt bei der exakten Beschreibung von Festen, die die Inselbewohner und Touristen zusammenbringt und hört bei Restaurantstipps noch lange nicht auf. Ausgedehnte Touren, bei denen man allein oder in Gruppen vieles zu Gesicht bekommt, was anderen verwehrt bleibt. Echte Geheimtipps, die man sich erarbeiten darf und die Erholung und einzigartige Eindrücke garantieren. Schon mal von Jameos del Augua gehört? Ein Höhlensystem, das vor dreitausende Jahren nach dem Ausbruch des Monte Corona entstand. Nun ist der Name Corona mittlerweile in aller Munde. Und durch eben einen solchen steigt man hinab oder hinein in eine neue Welt. So wie schon vor ein paar Jahren. Aber dieses Mal hat alles ein gutes Ende. Und noch nachhaltigere Erinnerungen. Die exakte Beschreibung der Gegebenheiten machen einen die Entscheidung einfach: Ja, ja, ja. Oder Si, si, si. Muss man gesehen haben, wenn es die körperliche Verfassung zulässt. Und Uga ist noch weniger besucht. Und wenn man von hier nach Puerta de Carmen wandert (nur eine von vielen Wanderungen, die im Buch genau beschrieben werden, inkl. GPS-Daten), kann es sein, dass man tatsächlich stundenlang keiner Menschenseele begegnet, obwohl man auf einer Insel ist, die für Touristenströme bekannt ist.

Lanzarote ist und bleibt immer ein Reiseziel, dass besonders zur Weihnachtszeit oder generell in der kälteren Zeit gern als Fluchtpunkt ausgewählt wird. Verständlich, wenn man sich intensiv mit diesem Reiseband auseinandersetzt.

Der letzte Überlebende

Über die Bedeutung von Büchern wie diesem gibt es keine zwei Meinungen. Sie sind wichtig! Und es genauso wichtig, dass sie verlegt und gelesen werden. Was diesem Buch einen zusätzlichen Pluspunkt verleiht, ist die nüchterne Schreibweise einer aufwühlenden Zeit.

Die ersten Erinnerungen an seine Kindheit verbindet Sam Pivnik mit Leckereien in den Sommermonaten. In einer kleinen Stadt im späteren Gau Oberschlesien wächst er mit seinen Geschwistern und seinen Eltern auf. Der Vater ist angesehener Schneider. Doch schon im Jugendalter sind allesamt Fabrikarbeiter. Kriegswichtig. Was zum Einem ein Glücksfall ist, zum Anderen die Perfidität der neuen Herrscher so grausam darstellt. Denn nur wer kriegswichtig ist, darf überleben. Führt man sich dies vor Augen, steigt die Wut automatisch in einem hoch.

Sam Pivnik ereilt dasselbe Schicksal wie die meisten Juden in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Bis er in Auschwitz landet. Er sieht wie mit einem Fingerzeig das Schicksal entschieden wird. Rechts ins Lager, links in die Gaskammer. Binnen Sekunden ist das Leben entschieden, sind Familien zerrissen, beginnt die Hölle aufs Neuerliche. In Będzin, wo er aufwuchs, wo er den Garten Eden erlebte, wie er schreibt, wurde mit der Machtübernahme der Nazis per Aushänge über die Veränderungen informiert. Rechte wurde beschnitten, Verbote übernahmen den Alltag. Doch man lebte. Konnte fast einen Alltag gestalten.

Im vom Stacheldraht umzäunten Auschwitz war nichts mehr wie zuvor. Er zerrt Leichen aus den Waggons. Zuvor stiegen Menschen aus Zügen, um anzukommen, oder bestiegen sie beschwingt, um zu verreisen. Sam sieht schreiende Kinder, die ihren Müttern entrissen werden. Zuvor trocknete die Mutter die Tränen ihrer Kleinen. Er verschleppt nun lieber eine Krankheit als Mengele über den Weg zu laufen. Denn Hauptkrankenbau heißt Tod. Zuvor ging man zum Arzt oder verkoch sich unter der Bettdecke und nahm eine Aspirin.

Würde es diese Aufzeichnungen nicht geben, man würde es nicht glauben können, was an Unmöglichem möglich ist. Ein Durchlesen ohne Absetzen ist nicht möglich. Stoisch, unverhohlen, zielstrebig berichtet Sam Pivnik von seinem Leben, besonders des Teils seines Lebens, der ihn und seine Generation prägte. Auschwitz als Hölle auf Erden, der man nur durch unerschütterlichen Hoffnungszwang entgehen kann. Oft, zu oft stand er am Abgrund. Er ließ sich nicht in die Schlucht stürzen, ging niemals zu weit, um allem ein Ende zu machen. Das zu lesen, es lesen zu könne, macht auf eine Art auch wieder Mut. Gerade wenn die Welt sich momentan wieder in eine Richtung zu entwickeln droht, die man schon hinter sich zu lassen geglaubt hatte.

Pura Vida

Wer sich mit Geschichte auseinandersetzte, begegnet auf seiner Reise so manchem Revolutionär. Che Guevara gehört sicher zu den bekanntesten. Tito sagt dem Einen oder Anderen immer noch etwas. Aber William Walker? Who the f*** ist his guy?! Wahrscheinlich liegt es daran, dass in unserem Teil der Welt Lateinamerika nur als letztes Paradies für backpacker gilt und die Geschichte nur in ganz groben Zügen bekannt ist. Verdichtet man sein Blickfeld dann auch noch auf Nicaragua, wird’s eng mit dem Wissen um die Geschichte. So ziemlich die letzten Bilder aus dem Land hat man aus Rückblicken auf das Wendejahr 1989 als im Palast der Republik in Berlin Erich Honecker mit „befreundeten Staatsoberhäuptern“ den 40. Jahrestag der Gründung der DDR feierte. Da saß Daniel Ortega, Präsident Nicaraguas mit am Tisch. Zusammen mit Ceaucescu und anderen … kurzum mehrmals lebenslänglich – wenn man es satirisch betrachten möchte.

Patrick Deville hat sich in „Pura Vida“ nun dieses Land als Tummelplatz für seinen Roman ausgesucht. Als erfahrener, unfassbar umfangreich belesener Historiker ist ihm William Walker nicht unbekannt. Und nach der Lektüre dieses Buch ist er vielen Anderen ein fast schon vertrauter Revolutionär … mit einem fast schon logischen Schicksal.

Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und William Walker hat mittlerweile Medizin studiert, lebte in Paris, studierte in Heidelberg. Als Junge aus Nashville/Tennessee wäre hundert Jahre später wahrscheinlich Rockstar geworden. Aber als Junge aus Nashville/Tennessee, der im Frühjahr 1824 das Licht der Welt erblickte, wurde er … Freibeuter. Anwalt war er auch noch. Lateinamerika sollte von weißen Nordamerikanern beherrscht werden. Protektion aus Washington war vorhanden.

Die große Stunde schlug 1855/56 als in Nicaragua Bürgerkrieg herrschte. Kriegs- und Herrschererfahrung hatte Walker da schon zur Genüge gesammelt. Mit einem Mal war William Walker, der Junge aus Nashville/Tennessee Präsident von Nicaragua. Doch der Ruhm stieg ihm zu Kopf. Die Widrigkeiten – in Form von in seinen Augen unerfüllbaren Forderungen seiner einstigen Beschützer aus Washington – machten ihm das Leben schwer. Die Regierung zerbrach – Walker war Freiwild. Honduras war sein Schicksal, dessen Regierung Vollstrecker. Walker wurde hingerichtet. Zugegeben eine sehr verknappte Zusammenfassung dieses einzigartigen Buches. Patrick Deville nimmt sich auf über dreihundert Seiten Zeit eine Sinfonie aus Hoffnung, Tatendrang und Illusion zu erschaffen. Ab der ersten Seite wähnt man sich am Ort des Geschehens. Deville zweifelt nicht – er gibt der Geschichte den Spielraum, den sie benötigt. Wo Fakten fehlen, spekuliert er nicht wahllos, sondern lässt die Umstände eine Welt erschaffen, die genau so gewesen sein muss. So wie das echte leben!

Sturz in die Sonne

Die Erde, die Menschheit musste und muss so einige Katastrophen ertragen: Hunger, Krieg, Vertreibung, Dürre und andere Klimakatastrophen. Dagegen kann man etwas tun. Man kann! Tut es aber nicht! Doch was, wenn tatsächlich etwas passiert, wogegen man als normaler Mensch, als Manager, als Politiker, als General nicht – gar nichts – tun kann? Man ignoriert es. Und lässt den Dingen ihren Lauf. Also wie immer?!

Charles Ferdinand Ramuz lässt in seinem Roman „Sturz in die Sonne“ der Menschheit keine Wahl. Ein Fehler im Gravitationssystem lässt die Erde in die Sonne fallen. Das ist Science fiction in seiner natürlichen Form. Ja, alle haben die Warnungen, zumindest die Information irgendwie zu Gesicht bekommen. Doch was soll man damit anfangen. Dann wird’s halt wärmer. Ja, wird es auch. Aber darüber hinaus wird es auch windiger. Man schlafft ab. Die Arbeit geht nicht mehr so leicht von der Hand. Auch wenn die Arbeit völlig unsinnig ist. Wozu noch Plakate kleben für eine Show, wenn eh bald alles vorbei ist?! Die Winzer freuen sich über das produktfreundliche Klima. Diesen Jahrgangswein wird niemand mehr genießen können, auch wenn die Preise stabil bleiben. Erste, fast unbemerkte Anzeichen einer größeren Veränderung sind die aufziehenden Truppen vor der Nationalbank. Das Wort von der Revolution schleicht herum.

Und schließlich ist es ja auch nicht so, dass die Erde mach zweiundsiebzig Stunden wieder aufersteht, sich dann knapp sechs Wochen herumtreibt, um sich dann als Paradies zu entpuppen. Es gibt einfach auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Man kann niemanden fragen, wie habt Ihr das damals geregelt, als die Erde unterging? Und so versinkt man im Alltagstrott, der noch unerträglicher ist als zuvor. Wegen der Temperaturen und so. Und im Netz nach Informationen suchen geht auch nicht. Das gibt es noch nicht. Das Wort Computer existiert nur im Englischen. Und wird äußerst selten benutzt.

Charles Ferdinand Ramuz hat diesen dystopischen Roman vor mehr als hundert Jahren geschrieben. Er ist aktueller denn je. Auch wenn die Erde nicht aus ihrer Umlaufbahn zu brechen droht. Das könnte man vielleicht vorausberechnen… Er schaut dem Volk ziemlich genau aufs Maul und die Finger. Die Idylle am Genfersee bricht auseinander. Und nicht nur dort. Flucht ist keine Option. Denn die Gazetten sind sich einig, dass nicht der Genfersee in die Sonne plumpst, sondern alles andere herum – die gesamte Erde – schon bald verglühen wird. Es kommt wie es kommen muss. Allerdings zum letzten Mal. Alles zum letzten Mal.

Ein Blick zu wilden Tieren

Woran erkennt man einen ungewöhnlichen, und darüber hinaus auch noch erstklassigen Roman? Den Titel? Okay! Es ist faszinierend wie unbeeindruckt diese animalischen Wesen sich vor unserer Kamera bewegen und uns überhaupt nicht beachten. Sie geben sich schamlos ihrem Treiben hin. Es dient wahrscheinlich ihrer Sozialisation in der Gruppe.
Oder sind es die handelnden Personen, die in unterschiedlichen und doch so nahen Regionen der Welt ihr Leben leben? Okay! Der junge FDJler Konrad (wie die meisten hat er einen FDJ-Ausweis – damit ist das Thema aber auch schon abgeschlossen) ist ab dem ersten Anblick den neuen Nachbarsmädchen hin und weg. Die geheimnisvolle Aura der jungen Heranwachsenden zieht ihn in seinen Bann. Er malt sich eine rosige Zukunft in einem sozialistischen Land auf, dass beide von nun an gemeinsam gestalten und weiterentwickeln werden. Unterstützung erfahren sie dabei …
Im „freieren“ Teil der klingt das dann wohl so: Der zwielichtige Paul hat es sich zur Aufgabe gemacht ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Dass er dabei die Grenzen des guten Geschmacks und darüber hinaus auch die Grenzen des geltenden Rechts übertritt, macht ihm keineswegs zu schaffen. Und so ist es nicht verwunderlich, ja fast schon schlussfolgerichtig, dass er die pikanten Fotos, die er am Strand von kopulierenden Pärchen macht, gewinnbringend verkaufen kann. Dass hinter dem Stacheldraht, in der so genannten Ostzone, eine ältere Dame über ihn weiß (und auch wieder nicht), ahnt er zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1978 noch nicht. Doch schon bald werden sich die Dinge dramatisch wenden.
Wieder zurück im Osten. Im Auftrag der Partei- und Staatsführung hat der Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, Genosse Alexander Gross dem Klassenfeind in der Bundesrepublik unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel einen so genannten Deal im Kunstbereich auf die Beine gestellt. Ihm gelang dank Staatsauftrag einige wertvolle Kunst-Gegenstände im Westen zu verkaufen.
Sie alle machen auf ihre Art Karriere. In der Oper, in speziellen Kinos. Und manchmal ist man sich näher als es die Zeit erlaubt, als man es vermuten könnte. So wird aus mehreren, fast schon skurrilen Geschichten ein wahrhaft großartiger Roman. Mit Fingerspitzengefühl schreibt Christoph Cornel eine deutsch-deutsche Geschichte, die man so einfach nicht erwarten kann. Die wilden Tiere sind immer drüben. Egal, wo man gerade steht. Und selbst das „gerade stehen“ ist so vielschichtig deutungsfähig, dass man gar nicht anders kann als immer weiter zu blättern, den Kopf zu schütteln, sich den Bauch vor Lachen zu halten und – je nach Verwurzelung – sich zu erinnern. Dieser Roman ist eine Wohltat im Wust der Ossi-Wessi-Geschichten, in denen die Geschichte immer wieder neu erklärt wird – und wofür man lautstark und im hauseigenen Dialekt Werbung macht. Denn Christoph Cornels Blick zu den wilden Tieren ist mehr als nur linientreuer Voyeurismus und anti-anti-anti-was-auch-immer-Haltung. Es ist ein Blick auf Menschen, die in ihrer Umgebung das suchen, was naturgemäß jedem zusteht. An dieser Stelle wird versucht der kaugummiartigen Dehnung des Begriffes Freiheit den so gern bereitwillig gegebenen Rahmen zu ermöglichen… Preisverdächtiger Roman!

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

Jean Sbogar

Was macht man als gescheiterter Herrscher über ein Riesenreich, wenn man von Gefolgsleuten und Gegnern ans andere Ende der Welt verbannt wurde? Sinniert man über das Leben? Schmiedet man Pläne für eine (neuerliche) Flucht und einen Angriffsplan zur (neuerlichen) Machtergreifung? Schleicht man herum und ergötzt man sich an den Naturschönheiten? Wahrscheinlich.

Doch wahrscheinlicher ist es, dass man sich der Literatur hingibt – Zeit hat man schließlich genug. Und dann fällt einem ein Werk in die einst lenkenden Hände, dass man einfach nicht mehr beiseitelegen kann. Ein Tag – ein Buch. Fertig ist die Legende. Wenn man Napoleon heißt. Und auf St. Helena die letzte Zeit seines Lebens verbringt.

Ist es ein Zufall, dass dem einstigen Herrscher Europas genau dieses Buch in die Hände fiel? Vielleicht. Dass es ihn in seinen Bann gezogen hat, ist dagegen kein Wunder. Eine Frau, ein Mann verlieben sich ineinander. Sie, Antonia, aus reichem Haus und er, Lithargo, ein wenig geheimnisvoll. Er macht wenig Worte. Doch, wenn er was sagt, dann das Richtige. Und trotzdem schweben zwischen den Beiden die Wolken des Zweifels. Denn Lithargo ist nicht nur Lithargo. Er ist auch Jean, Jean Sbogar. Von Beruf: Räuberhauptmann. Will der vielleicht nur an die Mitgift der zarten Antonia? Oder hat er ehrbare Gefühle für sie? Vollzieht er gar die Wandlung vom Saulus zum Paulus?

Charles Nodier gehört neben Victor Hugo und Honore de Balzac zu den Vätern der französischen Romantik. In „Jean Sbogar“ zog er einst Napoleon und bis heute – seit zweihundert Jahren begeistert er seine Leser – jeden, der das Buch in die Hand nimmt und erst nach der letzten Seite wieder ablegen kann. Pure Fiktion. So wunderschön gefühlvoll, kraftvoll und von bemerkenswerter Eleganz. Triest und Venedig sind allein schon wegen ihres Rufes prädestiniert für eine romantische Handlung. Doch Charles Nodier setzt dem Ganzen die Krone auf. Wer auf spannende Abenteuer mit mehr als einer Nuance Romantik steht, wird mit „Jean Sbogar“ ein wahres Inferno der besten Sorte erleben.