Archiv der Kategorie: Tangofieber

Latinoamericana

Nicaragua, Venezuela, Peru, Kolumbien, dazu Mexikaner und Kubaner – diese Reise kann man nicht buchen. So eine Reise entsteht im Kopf und folgt dem Herzen. Marko Pogačar vereint beides. Kopf und Herz, fasst sich letztes und reist wohin es ihn verschlägt. Was „Latinoamericana“ von anderen Reiseberichten unterscheidet sind die Begegnungen mit Menschen, die vielleicht nicht exemplarisch für ihr Land sind, sondern ihre Verbundenheit mit der Stadt, in der sie leben. Keine glücksselige Beschreibung von Freiheit und unsäglichen Ausführungen und Aufzählungen von Begrifflichkeiten. Leben im Hier und Jetzt.

Marko Pogačar begegnet ihnen auf Augenhöhe. Ihm ist bewusst, dass er ein privilegierter Reisender ist. Farbige Fensterläden, Warteschlangen an Eisständen, kurze Wortwechsel und immer wieder das Auge schweifen lassen – so entstehen unvergessliche Momente für den Autor.

Als Leser ist man da eigentlich außen vor. Mal neidisch, mal staunend, doch immer interessiert folgt man Pogačars Ausführungen. Zurückschauen gehört für den 1984 in Kroatien geborenen Autor dazu. Er hat in jungen Jahren Krieg erlebt. Ein Schicksal, das er mit vielen, denen er begegnet, teilt. Doch ihm gelingt es immer wieder genau diese Gemeinsamkeit auszublenden – das Leben ist hart genug. Da muss man nicht zusätzlich Öl ins Feuer gießen.

Es sind einhundert Seiten, die einen ganzen Kontinent so darstellen wie er ist. Bunt, hart, zart, rebellisch, neugierig. Den Gaumen verwöhnt, die Sinne berauscht, das Augen überlaufend kämpft Marko Pogačar den schönsten Kampf seines Lebens. Reisen und davon erzählen – das, was viele versuchen, gelingt ihm spielerisch und bescheiden. Als Zusatzlektüre im Handgepäck ist dieses Buch niemals die falsche Wahl.

Fantomas gegen die multinationalen Vampire

Alles hat einmal ein Anfang. Diese Sammlung von Geschichten aus und über Lateinamerika war das erste Buch, das im Septime-Verlag erschien. Das war 2009. Und gleich im ersten Buch treten Stimmen auf, die bis heute nicht verhallt sind.

Ebenso einen Anfang stellten die Russell-Tribunale dar. In den 60er Jahren wurden – unabhängig von staatlichen Organen – Verbrechen im Vietnamkrieg untersucht. Eine juristische Aufarbeitung war leider nicht bis kaum möglich. Das zweite Russell-Tribunal untersuchte die systematische Missachtung von Völkerrechts- und Menschenrechten in Südamerika unter der Berücksichtigung finanzieller Interessen der USA. Einer der Vizepräsidenten war unter anderem Gabriel García Márquez, kolumbianischer Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1982. Mitglied des Tribunals war der Schriftsteller Julio Cortázar. Der titelgebenden Geschichte steht eine Hommage des Máquez’ für den argentinischen Schriftsteller Cortázar voran. Die Ereignisse dieses Tribunals und die Empfindungen des Autors sind die Grundlage für die fantastische Geschichte mit dem Superschurken, der in diesem Fall mit weißer Maske in die Fußstapfen Robin Hoods tritt.

Dieser Geschichtenband unter anderem mit Werken von Roberto Bolaño und Guadalupe Santa Cruz aus Chile, Guillermo Cabrera Infante aus Kuba und dem Mexikaner Juan Villoro zeigt eine Vielfalt an Literatur. Es sind nicht einfach nur Appetithäppchen, die man mit einem Bissen verschlingt, es sind kunstvolle Preziosen, die niemals ihren Glanz verlieren werden. Sie zeigen einen Kontinent, der stets in Bewegung ist und der nicht minder stets im Fokus fremder Mächte stand. Ob nun die Diktatoren Pinochet und Peron oder die scheinbaren Heilsbringer wie Fidel Castro – das Leid wurde niemals gemindert, das Gegenteil war meist der Fall.

Kraftvoll, poetisch, verborgen, offen dringen die Worte ins Hirn des Lesers, der „es schon immer wusste“ oder mit offenem Mund über so manches literarische Wunder staunt.

Die einleitenden Texte stellen den Autor kurz vor – das sind Appetithäppchen, die man sich in so manchem Buch wünscht. So werden Zusammenhänge offen gelegt und erzeugen die richtige Stimmung für die Handlung.

Die Zeit der Fliegen

Mehr als fünfzehn Jahre ist es her, dass Inés verdächtige Nachrichten bei ihrem Gatten fand. Ernesto hat sie seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Denn ihr Rachfeldzug hatte Folgen für sie. Nun ist sie wieder in Freiheit. Die Sonne scheint nun wieder klarer für sie. Im Gefängnis hat sie sich bedeckt gehalten. Hat sich an Regeln gehalten – Regeln, die nun nicht mehr für sie gelten. Das Haus ist verkauft. Das Gewinn, was Erlös noch übrig bliebe, reicht ihr, um ein Geschäft aufzubauen. Insektenbekämpfung. Ökologisch unbedenklich. Und nur für das Ungeziefer das Finale des parasitäre Lebens.

Ihre Geschäftspartnerin ist Manca. Sie teilten sich eine Zeitlang die Zelle. Unzertrennlich waren sie von Justizias Gnaden. Unzertrennlich sind sie nun freiwillig. Manca hatte mit Drogen gehandelt.

Susana Bonar ist die vorletzte Kundin für Inés an diesem Tag. Sie kennt sie kaum, die Bonar umso besser. Inés ist erstaunt als sie zum Plausch in dem vornehmen Anwesen gebeten wird. Wein und Wasser … und eine ungeheuerliche Überraschung warten schon auf sie als sie die Terrasse betritt. Die Bonar kennt sie. Weiß wer sie ist, wie sie heißt … was sie getan hat. Damals, vor mehr als fünfzehn Jahren. Und sie hat auch gleich Verwendung für die Frau, die die Nebenbuhlerin aus dem Weg schaffte und dafür anderthalb Jahrzehnte einsaß. Denn auch Susana Bonar verdächtigt ihren Gatten eine Affäre zu haben. Und die stört oder besser: Muss aus dem Weg geschafft werden. Ein Bündel Dollar, ein dickes Bündel soll Inés überzeugen noch einmal ihre Fähigkeiten einzusetzen. Doch Inés zögert. Da ist ihre Tochter, die ihr Leben allen Widrigkeiten zum Trotz gut meistert. Ihre Tochter, die sie eigentlich nicht kennt. Die aber glücklich ist.

Manca ist Feuer und Flamme ob der Aussicht auf finanzielle Erlösung. Sie würde den Job sofort übernehmen. Doch die Expertin ist aber Inés. Doch die hat ein Gewissen. Was tun?

Claudia Piñeiro hat die Figur der Inés schon vor über zwanzig Jahren erfunden. Hin und Her gerissen folgte man damals schon Inés auf ihren Weg durch die Straßen auf der Suche nach Erlösung. Die Verurteilung war rechtens, aber Gerechtigkeit sieht anders aus – Inés’ Schicksal bewegte. Nun der Weg zurück ins Leben. Ein Jahre gönnt ihr die Autorin Ruhe bis die Vergangenheit wieder die Kontrolle über Inés’ Leben gewinnen will. Doch Inés ist älter geworden, reifer, schlauer, gewiefter. Ein Segen für alle, die schon einmal mit ihr gelitten haben. Ganz die Eine, die dem Leser nie mehr aus dem Sinn gehen wird!

Ámbar

Die fünfzehnjährige Ambar weiß, was es heißt, ihr Leben immer wieder von Vorne zu beginnen. Ihr krimineller Vater hat ihr dieses Mal versprochen, dass sie an einem Ort bleiben werden – doch dann kommen ihm seine Machenschaften wieder einmal in die Quere. Verletzt und mit einem Toten im Schlepptau heißt es wieder einmal zu fliehen. Doch dieses Mal scheint er auf Rache zu sinnen. Je weiter Ambar ihn dabei begleitet umso mehr Gedanken macht sie sich über sich selbst und ihren Vater.

Das Buch wird als Thriller angepriesen. Als solchen habe ich es nicht empfunden. Es ist eher ein Drama rund um Ambar. Sie erzählt die Geschichte selbst. So erfährt man viel über ihr Leben an der Seite des kriminellen Vaters. Über ihren Wunsch nach einem ganz normalen Leben und ihre Sehnsüchte, die denen anderer Teenies gleichen. Allerdings ist sie kein „normaler“ Teenager. Sie kennt sich mit Waffen aus, kann Wunden versorgen und hat gelernt, dass sie niemandem vertrauen kann – schon gar nicht den Versprechungen ihres Vaters. So wirkt sie einerseits bemitleidenswert, andererseits wieder sehr abgebrüht.

Die Geschichte folgt Ambar und ihrem Vater auf ihrem neuesten Roadtrip durch Argentinien. Könnte nach Abenteuer klingen. Für Ambar ist es aber nur eine erneute Zumutung mit unbestimmten Ausgang. Hier aber wächst sie über sich selbst hinaus und beginnt sich selbst Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen, die nicht immer nur den Vater in den Vordergrund stellen.

Obwohl ich durch die Beschreibung (als Thriller) etwas anderes erwartet habe, hat mir die Geschichte zugesagt. Sie ist sicher nicht leicht zu lesen: Weniger wegen der vielen blutigen und brutalen Szenen als vielmehr wegen dem, was Ambar all die Jahre mitmachen musste. Dennoch merkt man hier, dass sie einen Schritt weitergehen wird und hofft natürlich mit ihr mit, dass sich die Situation ändern wird.

Fazit: Ein krimineller Roadtrip durch Argentinien, bei dem es um die Frage geht, ob sich Ambar aus dem immer drehenden Hamsterrad befreien wird oder nicht.

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

Camanchaca

Die Wüste ist öde. Für einen jungen Mann, dessen Zähne ihn viel älter erscheinen lassen, dessen Gewicht zum Spott von Anderen einlädt, dessen Familie zerbrochen ist, ist die Wüste der ganz normale Alltag. Sein Leben ist öde. Er wäre gern Sportreporter geworden. Fußball. Im Stadion sein, mit Leidenschaft das Goooooooooooooooooooooooooool verkünden.

Doch das Leben war in seinem kurzen Leben schon verdammt hart zu ihm. Die Eltern getrennt, weil Papa eine Neue hat. Mama und ihre chronischen Geldsorgen. Die Einsamkeit.

Nun sitzt er im Auto zusammen mit Papa, Nancy, seiner neuen Frau und seinem Halbbruder, der die ganze zeit nur am Gameboy zockt. Gen Peru geht es. Zum Einkaufen und zum Zahnarzt. Er lässt alles über sich ergehen. Nur die Musik auf seinem mp3-Palyer lässt ihn ein wenig träumen. Er erinnert sich an die Besucher bei Opa und Oma. An die Träume. An das Champions-League-Finale 1999, Manchester United gegen die Bayern. Wie oft hat er – nicht nur in Gedanken – dieses denkwürdige Spiel als Reporter vom Sofa aus noch einmal angeschaut und kommentiert. Der sicher geglaubte Siege der Bayern, der in der Nachspielzeit so effizient wie brutal zermalmt wurde. Fast so wie sein Leben…

Diego Zúñiga lässt die wahren Hintergründe all dessen im Nebel des Vergessens verschwinden. Niemand hat einen Namen, außer Onkel Neno. Der ist tot. Überfahren. Vom Vater des Jungen, der so still und teilnahmslos die Wüste durchquert. Er darf die Einkaufsliste, die ihn seine Mutter gegeben hat nicht vergessen. Doch dabei will er so gern alles Mögliche vergessen. Oder Antworten bekommen. Ein anderes Leben führen.

Für Touristen ist die Reise von Chile nach Peru unter Garantie ein Abenteuer, das sie nie vergessen werden. Für den Jungen ist es lästige Pflichterfüllung. Er braucht keine Zeit, um sich zu erinnern. Die Gedanken um den Tod des Onkels, die Trennung der Eltern sind allzeit präsent. Es wird kein happy end geben. Wie sollte das auch aussehen?

Schwarzlicht

Das Leben von Künstlern ist oft bemerkenswerter als ihre Werke. Und dabei ist es einerlei, ob sie nun erfolgreich waren oder am sprichwörtlichen Hungertuch nagten. Vincent van Gogh verbindet man in erster Linie mit seinem Ohr, das er sich abgeschnitten hat. Dann kommen seine Werke … gefolgt von seinem kargen Leben. Das Interesse an Kunst und Künstlern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten.

María ist so eine, die sich für Kunst und ihre Erschaffer interessiert. Bei Enriqueta Macedo geht sie in die „Schule“ – sie ist die unumstrittene Kennerin der Szene. Sie weiß, was gut ist. Das betrifft die Kunst, aber auch sie selbst und die sie umgebenden Menschen. Schroff und direkt – das weiß sie, damit eckt sie an. Doch María ist das gerade recht. Sie lernt viel von Enriqueta. Auch wie man Kunst von Fälschung unterscheidet. Und dass auch Fälschungen Kunst sind. Oder es zumindest sein können.

Durch Enriqueta lernt sie eine illustre Runde kennen. Allesamt Fälscher, Gauner, Schieber, Künstler.

Als Enriqueta stirbt, ist es an María ihr Erbe fortzuführen. Doch es geht dabei nicht darum Künstler in den Himmel zu loben oder ihnen die Höllenfahrt vorzubereiten. Sie will in die Szene tiefer eintauchen als es jemals jemand zuvor tat. Sie weiß, dass Enriqueta jahrelang Fälschungen zu Originalen erklärt hat. Warum? Spaß an der Freude, Zurechtrücken der Verhältnisse, Geld? Letzteres wohl kaum, kommt María in den Sinn als sie die Wohnung ihrer ehemaligen Gönnerin sieht.

Der Kreis der Fälscher, die sich regelmäßig im Hotel Meláncolico – welch passender Name – trifft, fördert eine weitere Person hervor, die María unbedingt kennenlernen muss. La Negra. Eine Künstlerin/Fälscherin ohne Gesicht, ohne Vita, ohne Vermächtnis. Für María der Beginn einer Jagd, de im Dunklen beginnt, und mit deren Erhellung nichts als Nacht ans Tageslicht tritt…

María Gainza macht aus der Jagd nach der Unbekannten eine Reise in die Zwischenwelt. Hier existieren Schwarz und Weiß lediglich als Kontrast, deren Mischung ein waberndes Grau ergibt, das keinerlei Zugeständnisse macht. Als Leser taucht man in die Kunstwelt ein, wie wenn man an der Hand geführt zum ersten Mal ein Museum betritt. Alles neu, alles leuchtet, aber zugleich schaut man auch neugierig in die dunklen Ecken und sieht dort meist mehr als das, was einem so glanzvoll vorgesetzt wird.

Dringliche Angelegenheiten

Fast schon möchte man Hugo in den Arm nehmen, auch wenn es ihn unfassbar schmerzen sollte. Der arme Tropf hat aber auch das Pech am Fuß wie die sprichwörtliche Sch… Wo anfangen? Also, am Ende des „Treffens“ mit Carlos David steht der Tod. Carlos David ist tot. Erschossen, die Beine gebrochen, die Überreste in einen Sack gestopft und anschließend selbigen in einem Bach „versenkt“. Flucht. Also, Hugo ist geflüchtet. Verständlich. Gerade, wenn man ihm Glauben schenken will, dass er unschuldig ist.

Unterwegs entgleist der Zug, mit dem Hugo in scheinbar sichere Gefilde fliehen will. Eine gigantische Katastrophe mit Dutzenden Toten. Hugo überlebt. Im Leichenberg krallt er sich an das Heiligenbild, das ihm Glück bringen soll. Er reagiert noch auf Nachrichten von Marta, seiner Freundin. Sporadisch. Sie schnappt sich ihre Tochter und bricht auf zu ihrer Schwester. Alles überhastet, scheinbar ohne Plan.

Währenddessen sucht die Polizei in Person von Ermittler Dominguez nach dem Mörder eines jungen Paraguayers namens Carlos David. Und ziemlich schnell stehen sie auch vor der Tür von Marta. Dort ist allerdings nur ihre Mutter Olga anzutreffen. Und die ist ein echtes Goldstück. Gegenüber dem Bullen erzählt sie nur das, was er ohnehin schon weiß. Sie macht sich ihren eigenen Reim auf die Geschehnisse. Auch weiß sie, dass Hugo in dem verunglückten Zug war. Das weiß bald jeder im Land, denn so eine Katastrophe ruft natürlich auf die sensationsgierige Presse auf den Plan.

Und Hugo? Der hängt wie ein verletzter Vogel in den Fängen sämtlicher Leute, die ihm aus unterschiedlichen Gründen auf den Fersen sind. Wie in einem Film von Hitchcock sucht er verzweifelt nach einem Ausweg. Doch die richtigen Entscheidungen zu treffen, war noch nie sein Ding. Der große Wurf ist immer nur anderen gelungen. Hugos „Dingliche Angelegenheiten“ sind nur für ihn von immenser Bedeutung. Genauso wie er eine dringliche Angelegenheit für viel andere ist. Für seine Freundin, seinen Kompagnon, die Polizei, die Hilfskräfte, die Medien…

Paula Rodríguez spinnt ein enges Geflecht aus Hoffnung, Verzweiflung und düsteren Wolken am Horizont. Alles ist vorbei jetzt muss jeder zusehen wie er sich aus seiner Situation befreit. Immer weiter spinnt sie das Netz, in dem die Beteiligten fast bis zur Regungslosigkeit gefangen sind. Ihre Schilderungen sind so eindringlich, dass man sich mitten im Geschehen wähnt. Kopfschüttelnd leidet man mit dem vermeintlich unschuldigen Hugo. Lacht über die Bigotterie der Schwester von Marta. Und fühlt mit Evelyn, Martas Tochter, die Entdeckungen macht, die ihr mindestens genauso peinlich sind wie ihrer Mutter und Tante. Zwischendrin ertappt man sich dabei der Hoffnung Nahrung zu geben, dass das alles ganz schnell vorbei ist. Doch dann wäre das Lesevergnügen ebenso schnell beendet.

Theater laden ein

Tosca auf der Couch. Norma im flauschigen Lesesessel. Aida vor der Glotze. Mit dem entsprechenden technischen Equipment sicher ein Ohrenschmaus. Oberflächlich gesehen. Doch in einem echten Theater, mit der entsprechenden Akustik, auf rotem Samt sitzend, schmachtend den Tönen auf der reich geschmückten Bühne, in einem opulenten Bühnenbild – das ist dann doch eine ganz andere Liga. Eine Liga darüber!

So geht es auch Ulrike Rauh. Die Autorin ist eine Kunstgenießerin, eine Opernliebhaberin, und sie liebt das Theater. Und die Theater dieser Welt. Ihre Spaziergänge zwischen Lüstern und Büsten berühmter Künstler, zwischen Stuhlreihen und Tanzreigen sind ein ziemlich großer  Appetitmacher.

Wie immer in ihren Reiseberichten hat sie sich akribisch auf ihre Geschichten und Anekdoten vorbereitet. Und so wird ein Besuch in der Mailänder Scala zu einer Geschichtsstunde mit den Augen einer wachen Autorin, die sich ihre Neugier bewahrt hat. Denn die Geschichte eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt steckt voller Überraschungen. Und die Liste derer, die die Bühne ausfüllten und vom Dirigentenpult die Zuschauermassen begeisterten ist endlos. Und alle so elegant. Kaum vorstellbar, dass hier einst geredet, geschmaust und gefeiert wurde während auf der Bühne Höchstleistungen vollbracht wurden.

Wer sich einmal eine Führung im Teatro San Carlo in Neapel gegönnt hat – der Eintritt ist im Vergleich zur Pracht in dem Haus mit sechs Etagen, in denen die Logen untergebracht sind, lächerlich preiswert – weiß warum die Autorin so fasziniert von der Architektur der Schallhallen ist. Wie auf rohen Eiern möchte man sich fortbewegen, um bloß nichts mit Abnutzungserscheinungen zu beschädigen. Ein Blick hinter verschlossene Türen lohnt immer. Und Ulrike Rauh ist sehr neugierig…

Von Bayreuth bis Santiago de Chile, vom berühmten Teatro Amazons in Manaus (Kenner wissen um die charakterstarke Darstellung von Klaus Kinski in „Fitzcaraldo“, in dem dieses Theater eine zentrale Rolle spielt) bis in die Gänge des Theaters in der Josefstadt in Wien, von der Arena in Verona bis in die wuchtigen Mauern der Semperoper reist Ulrike Rauh mit dem Leser mit schwergewichtigen Melodien um die Welt. Dass sie dabei leichtfüßig durch Jahrhunderte schlendert, ist das große Verdienst ihrer Leidenschaft. Auf alle Fälle bereichert dieses Buch jeden Besuch in Städten, die ein Konzerthaus oder eine Oper ihr eigen nennen dürfen.

Kathedralen

Kathedralen – so erhaben stehen sie fest im Leben, bieten ihre Pracht feil. Voller Ehrfurcht betritt man sie und staunt über das Übermaß an Eleganz. Auch wer schon längst vom Glauben abgefallen ist, kann sich der Anziehungskraft nicht entziehen. Das muss so sein, denn die Besucherströme in die Gotteshäuser mit Museumscharme reißen nicht ab.

Apropos vom Glauben abgefallen. Lía ist vom Glauben abgefallen. Das gesteht sie sich ein – nicht einfach in einer Familie, in der der Glaube das höchste Gut ist. Ihre Schwester Ana ist vor vielen Jahren ums Leben gekommen. Das ist lange her. Inzwischen ist der Kontakt zur Familie abgerissen. Lía hat ihre Buchhandlung – das ist ihre neue Religion. Bis eines Tages Carmen vor ihr steht. Carmen, ihre Schwester!

Die alten Erinnerungen, der Streit von damals – alles wird wieder ans Tageslicht gespült, in eine Realität, die Lía längst verlassen zu haben glaubte. Der Verlust Anas – damals – und das damit verloren gegangene Vertrauen in Gott haben einen tiefen Graben zwischen den Schwestern entstehen lassen. Und im ersten Moment scheint es so als ob keine der beiden auch nur ansatzweise sich als Brückenbauer betätigen will.

Überhaupt überstrahlt „Kathedralen“ ein immer währender Schein die Szenerie. Denn die ganze Familie schwebt im allgemeinen Kanon der Religiosität auf einer undurchsichtigen Wolke durchs Leben. Nur Lía konnte bisher von dieser Wolke springen.

Dreißig Jahre ist es nun her, dass Ana ihrer Familie entrissen wurde. Jedes Familienmitglied hat seine eigene Sicht auf dieses tragische Ereignis, das nicht einmal Gott verhindern konnte. Claudia Piñeiro pustet noch einmal richtig in die Familiengeschichte rein und entfacht einen Sturm, der allen Beteiligten die Frisur gehörig durcheinanderwirbelt. Denn hier liegt mehr im Argen als man sich selbst eingestehen will. Erst ein Außenstehender, ein unerwartete Gast scheint die Fähigkeit zu besitzen den Sturm zu zähmen. Doch danach sieht es zunächst gar nicht aus…

Einmal mehr setzt die argentinische Schriftstellerin Claudia Piñeiro einen Meilenstein in die reichhaltige argentinische Literatur. Ein Monument, das unumstößlich ist wie eine Kathedrale. Hier und da blättert der Putz ab, was aber dem Gesamtbild nicht im Geringsten schadet. Oft sieht man in Kathedralen Darstellungen aus der Bibelgeschichte. Nicht selten blutig. In diesem Roman ist verflossenes Blut der Grund allen Übels. Einfach aufwischen ist nicht. Hier muss ein professioneller Tatortreiniger ran! Und das ist Claudia Piñeiro! Und zwar in Höchstform!