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Beatrice Webb – Aus ihren Tagebüchern

Wer sich eine Biographie zur Hand nimmt, ist meist schon ein Fan desjenigen, dessen Leben beschrieben wird. Ob man ihn dann nach der Lektüre kennt oder „nur besser kennt“, muss man für sich selbst entscheiden. Besonders, wenn das Objekt der Begierde von einem Anderen beschrieben wurde. Je länger die Lebzeit her ist, desto größer der Einfluss und damit die Sichtweise der Gegenwart. Das beginnt bei der Wortwahl, der Biograph benutzt und endet noch lange nicht bei der zigsten Sichtung der Hinterlassenschaften. Und dann ist da immer noch das Damokles-Schwert, auf dem „wem nützt es?“ oder „was ist der Zweck der Biographie“ eingraviert ist… Briefe, Tagebucheinträge sind untrügliche Zitate, Meinungen, Momentaufnahmen. Wahrscheinlich sind sie näher an der Realität als so manche Nachbetrachtung.

Beatrice Webb und ihr Mann Sidney waren zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte Sozialreformer, Politiker mit gewichtigen Ideen und Worten. Sie gründeten die Fabianische Gesellschaft, um weitreichende Reformen in Gang zu setzen. Heute würde man das als Thinktank bezeichnen – so viel zum Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart.

Ihre Arbeit in der Fabianischen Gesellschaft – das war ihnen von Anfang an klar – benötigten sie Menschen mit Reputation, mit Ideen, mit einer weittragenden Stimme. Dazu gehörten in ihrem Fall unter anderem der Schriftsteller H.G. Wells, Upton Sinclair, ebenfalls Sozialreformer, aber auch der als Lawrence von Arabien berühmt gewordene Thomas Edward Lawrence. Und George Bernard Shaw. Wahrscheinlich würden sie heutzutage die sozialen Medien mit ihren reformerischen Ideen fluten und als Berufsbezeichnung würde so manches mal „Influencer“ unter ihrem Namen stehen.

In ihren Niederschriften lässt der spätere Nobelpreisträger und Oscargewinner (für Pygmalion und eine erste Verfilmung des Stoffes) einfach nicht los. Es ist keine süßliche Verliebtheit, die sie fesselt. Es ist der komplexe Kosmos eines findigen Autors, der mit Wortgewalt die Leser bis heute in seinen Bann ziehen kann. Doch ist auch der scheinbar widersprüchliche Charakter. Als Shaw Charlotte Frances Payne-Townshend kennenlernt, benimmt er sich zeitweise wie ein verliebter Teenager, der öfter das Herz sprechen lässt und der Vernunft – und der Etikette – eine Nase dreht. Für Beatrice Webb ein beschauliches Spektakel.

Die im Untertitel angekündigten Enthüllungen sind zeitlos. Wüsste man nicht, das Shaw bereits vor 75 Jahren gestorben ist, man würde ihn einen modernen Zeitgenossen nennen. Nur die Umrechnungen der genannten Summen erinnern einen daran, dass es sich hier um historische Persönlichkeiten handelt. Die Einträge von Beatrice Webb stecken voller Empathie und lesen sich noch heute wie spannende Artikel aus längst vergangener Zeit. Immer schüttelt man sich und kneift sich, weil die Moderne der Gegenwart scheinbar doch nicht so neuartig ist wie man sich selbst gern einredet.

Briefe aus der Asche

Im Januar 2025 jährt sich zum sechzigsten Mal die Befreiung der Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz. Wieder werden Politiker der unmenschlichen Bedingungen und Schandtaten gedenken und große Worte finden. Bis heute ist das ehemalige deutsche Lager auf heutigem polnischem Boden ein zahlreich besuchter Ort, der das Gedenken in Ehren hält. Ein Wissenschaftlerteam ist immer noch damit beschäftigt die Abläufe dar- und Exponate im gerechten Licht auszustellen. Ein Ort, an dem man innehält – ganz automatisch.

Pavel Polian ist Historiker, Geograph und Philologe. Er hat die Grausamkeiten dank der Gnade der späteren Geburt nicht miterleben müssen. Er forscht seit Jahrzehnten zu den Gräueltaten, die hier passierten. So erfuhr er auch von heimlichen Mitschriften der Sonderkommandos in Auschwitz. In diesen Sonderkommandos wurden Gefangene, meist Juden, dazu gezwungen beispielsweise die Asche der Verbrannten zu beseitigen, Leichen auf Karren in die Gruben zu bringen. Sie hatten Sondervergünstigungen. Was es ihnen auch ermöglichte Skizzen zu zeichnen, teils sogar Fotos zu machen, vor allem aber Aufzeichnungen vorzunehmen. Diese Schriften aus der Asche versteckten sie. Erst Jahre, manchmal Jahrzehnte später wurden sie entdeckt, in Laboren untersucht, entziffert und entschlüsselt. Einige Namen der fast zweitausend Zwangsarbeiter in den Sonderkommandos sind bekannt. Erstmals sind in einem Band die Erkenntnisse der Forschungen und die fast kompletten Abschriften zusammengefasst.

Der erste Teil des Bandes ist der wissenschaftliche Teil. Statistiken, Einordnungen der Strukturen sowie die menschenverachtende Sprache werden hier anschaulich dargestellt. So sehr, dass es einen immer wieder verwundert, dass es immer noch Leugner gibt, und willfährige Helfer immer noch deren krude Theorien als Wahrheit annehmen. Und noch widerwärtiger sind die Günstlinge, die aus dieser Verblendung Kapital schlagen wollen – meist sogar im wörtlichen Sinne.

Für den zweiten Teil braucht man starke Nerven. Denn die Niederschriften von Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel, Marcel Nadjari und Abraham Levite sind der Horror in Buchstaben. Führt man sich allein schon vor Augen wie diese Sonderkommandos zusammengestellt worden, dreht sich einem der Magen um. Sie alle wussten, was in den Gaskammern passiert. Landsleute, Freunde, Fremde, Familienangehörige wurden durch Vergasung ums Leben gebracht. Ihre Schreie stecken noch heute in den Wänden. Und dann soll man dort wider für Ordnung sorgen, damit der Menschenmord weitergeht? Keine Chance für Verweigerung! Und dann diese Chroniken. Teils sachlich, teils emotional, immer jedoch wahrhafte Zeugnisse.

„Briefe aus der Asche“ ist ein Mahnmal. Mehr muss man nicht dazu sagen. Man muss es lesen. Das verstehen kommt von ganz allein.

Musik in Wien

Wien, Neustiftgasse Ecke Kellermanngasse. Ein Hauch von Melodik macht sich breit. Die Ersten zögern, bleiben stehen. Dann bricht es aus ihnen heraus: „Oh Du lieber Augustin, Augustin…“. Was ist geschehen? Sie haben das Denkmal vom lieben Augustin entdeckt. Er hat die Nacht in einer Pestgrube überlebt. Schlawiner oder Glückspilz? Das Lied ist bekannt, auch über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Den Grundstein für die Allianz von Musik und Wien hat es bestimmt nicht gelegt, ist aber mindestens genauso eng damit verbunden wie Hietzings bekannteste Mieter: Liszt, Strauss, Beethoven. Apropos Beethoven. Will man Wien zu Fuß auf seinen Stationen folgen, muss man sich gut rüsten. Der gute Mann ist andauernd umgezogen. Mal „nur schräg gegenüber“, mal „gleich ans andere Ende der Stadt“. Ein echter Marathon, der wie so viele Stadtrundgänge auf den Spuren großer Namen (meistens sind es dann doch Musiker, zumindest Künstler) auf dem Zentralen enden.

Peter Rupperts „Musik in Wien“ ist der ultimative Reiseband für alle Musikfreunde, die in Wien schon so manche Ecke erkundet haben und die man nur schwer noch beeindrucken kann. Das geballte Musikwissen der Stadt in einem Buch – Freud und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, triumphale Erfolge und nicht minder bittere Niederlagen und Tumulte. Es sind die kleinen Anekdoten, die dieses Buch so besonders machen.

Und wer weiß schon, dass auch Alma Mahler-Werfel selbst komponierte? Ihre Werke sind leider größtenteils verschollen. Dachbodenfunde zu bestimmten Jubiläen sind also nicht ausgeschlossen.

Auch begnügt sich Peter Ruppert nicht damit nur all die großen Namen aufzuzählen und ihnen auf der Spur zu bleiben. Sie alle hatten Schüler und Verehrer, die ihnen nachreisten oder schon da waren. Haydn lehrte Beethoven. Es passt nicht, geht sich nicht aus. Beethoven grübelt, wettert gegen den Alten. Sucht Rat bei Johann Georg Albrechtsberger. Doch auch der ist mit dem ungestümen Rheinländer überfordert. Später wird Albrechtsberger auf Anraten von Mozart Domkapellmeister zu St. Stephan. Im Wiener Stadtteil Meidling, im Zwölften, ist eine Gasse nach ihm benannt.

Augen auf beim Wienbummel. Immer wieder, fast schon an jeder Ecke, trifft man auf Namen, die der Stadt ein gewisses Flair gaben. Doch das hörte nicht einfach mit dem Ende des Walzerzeitalters oder des Kaiserreiches oder gar mit dem Ende der klassischen Musik auf. Moderne Komponisten wie Arnold Schönberg oder Alban Berg übernahmen den Ruhm ihrer Vorgänger nahtlos. Der Zeitungsausschnitt im Buchklappentext über ein Konzert mit moderner Musik lässt die „ausgelöste Stimmung“ bis heute erahnen – das als Watschenkonzert in die Geschichte eingegangene Ereignis gehört zu Wien wie Falcos „Vienna Calling“ oder Wolfgang Ambros’  „Es lebe der Zentralfriedhof“. Ihnen allen widmet sich dieses Buch und wird für jeden, der mit einem Liedchen auf den Lippen, mit der unstillbaren Neugier eines Wientouristen, ohne Bedenken sich der Stadt hingeben will, zu einem dienlichen Begleiter.

Der letzte Überlebende

Über die Bedeutung von Büchern wie diesem gibt es keine zwei Meinungen. Sie sind wichtig! Und es genauso wichtig, dass sie verlegt und gelesen werden. Was diesem Buch einen zusätzlichen Pluspunkt verleiht, ist die nüchterne Schreibweise einer aufwühlenden Zeit.

Die ersten Erinnerungen an seine Kindheit verbindet Sam Pivnik mit Leckereien in den Sommermonaten. In einer kleinen Stadt im späteren Gau Oberschlesien wächst er mit seinen Geschwistern und seinen Eltern auf. Der Vater ist angesehener Schneider. Doch schon im Jugendalter sind allesamt Fabrikarbeiter. Kriegswichtig. Was zum Einem ein Glücksfall ist, zum Anderen die Perfidität der neuen Herrscher so grausam darstellt. Denn nur wer kriegswichtig ist, darf überleben. Führt man sich dies vor Augen, steigt die Wut automatisch in einem hoch.

Sam Pivnik ereilt dasselbe Schicksal wie die meisten Juden in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Bis er in Auschwitz landet. Er sieht wie mit einem Fingerzeig das Schicksal entschieden wird. Rechts ins Lager, links in die Gaskammer. Binnen Sekunden ist das Leben entschieden, sind Familien zerrissen, beginnt die Hölle aufs Neuerliche. In Będzin, wo er aufwuchs, wo er den Garten Eden erlebte, wie er schreibt, wurde mit der Machtübernahme der Nazis per Aushänge über die Veränderungen informiert. Rechte wurde beschnitten, Verbote übernahmen den Alltag. Doch man lebte. Konnte fast einen Alltag gestalten.

Im vom Stacheldraht umzäunten Auschwitz war nichts mehr wie zuvor. Er zerrt Leichen aus den Waggons. Zuvor stiegen Menschen aus Zügen, um anzukommen, oder bestiegen sie beschwingt, um zu verreisen. Sam sieht schreiende Kinder, die ihren Müttern entrissen werden. Zuvor trocknete die Mutter die Tränen ihrer Kleinen. Er verschleppt nun lieber eine Krankheit als Mengele über den Weg zu laufen. Denn Hauptkrankenbau heißt Tod. Zuvor ging man zum Arzt oder verkoch sich unter der Bettdecke und nahm eine Aspirin.

Würde es diese Aufzeichnungen nicht geben, man würde es nicht glauben können, was an Unmöglichem möglich ist. Ein Durchlesen ohne Absetzen ist nicht möglich. Stoisch, unverhohlen, zielstrebig berichtet Sam Pivnik von seinem Leben, besonders des Teils seines Lebens, der ihn und seine Generation prägte. Auschwitz als Hölle auf Erden, der man nur durch unerschütterlichen Hoffnungszwang entgehen kann. Oft, zu oft stand er am Abgrund. Er ließ sich nicht in die Schlucht stürzen, ging niemals zu weit, um allem ein Ende zu machen. Das zu lesen, es lesen zu könne, macht auf eine Art auch wieder Mut. Gerade wenn die Welt sich momentan wieder in eine Richtung zu entwickeln droht, die man schon hinter sich zu lassen geglaubt hatte.

Man kann die Liebe nicht stärker erleben

War es’s nun oder war er’s nicht?! Diese Frage schwebt wie eine Nebelwolke über dem Leben von Thomas Mann. Andeutungen gibt es wie Sand am Meer. Viele sind sich sicher, dass er’s war. Andere geben die Großfamilie als Zweifelszutat zu bedenken.

Der Paul wird das vielleicht anders sehen. Paul. Paul Ehrenberg. Student der Tiermalerei – so was gab’s tatsächlich einmal. Das Jahrhundert hat zum letzten Mal vor der Jahrtausendwende einen Sprung gemacht. Da trifft in München der junge Redakteur des „Simplicissimus“ Tommy den Maler Paul. Tommy ist sofort hin und weg. Paul sieht in ihm einen Gleichgesinnten. Sie feiern zusammen. Verbringen viel Zeit miteinander. Tommy schreibt Gedichte, über Paul und das, was er für ihn empfindet. Doch für Paul ist Tommy nicht mehr als ein Freund – und das ist schon mehr als widerspenstige Reaktionäre sehen wollen – mit dem man einfach eine gute Zeit hat. Oder doch nicht?

Tommy ist wie im Rausch. Seine Poesie ist getragen von der Sehnsucht nach dem, was eigentlich nicht sein darf. Schert es ihn? Jaaaneeein – Jein! Ein entschiedenes Jein! Kann nur die Antwort sein. Und Paul? Der will nur malen, Spaß haben, erfolgreich werden. Und sicher bald auch schon eine Familie gründen. Eine Familie wie man sie sich damals (und heute auch noch) vorstellt.

Oliver Fischers Buch über die Verbindung von Thomas Mann und Paul Ehrenberg prescht in den Stapel der Bücher zum hundertsten Jubiläum des Zauberberges und schafft Platz für Räume, die schon immer da waren, aber mit dem Zweifel und der Angst der Gralshüter Thomas Manns Erbe gefüllt wurden. Nun gibt es kein Zurück mehr. Unverhohlen gibt Oliver Fischer den Spekulationen um Thomas Mann so viel Futter, dass man gar nicht mehr umhinkommt als ihm Glauben zu schenken. Alles bleibt unausgesprochen bis die Indizien die Waage in Wanken bringen.

Magisch, bis ins kleinste Detail recherchiert, poetisch – in Mann’scher Manier nimmt Oliver Fischer den Leser mit auf eine Reise der unerfüllten Erfüllung. Geht das überhaupt? Anscheinend schon. Es muss nicht immer alles ausgesprochen werden, um wahr zu sein. Doch nicht alles Unausgesprochene ist wahr … oder unwahr. Belassen wir es bei der Illusion, vertiefen wie uns in ein vollgestopftes Leben der Lebenswucht und der Lebensdisziplin. Das ist möglich. Wer sich dem Werk Thomas Manns über dieses Buch nähert, wird es sicher anders wahrnehmen, als diejenigen, denen dieses Buch jetzt – nach der Lektüre unzähliger Episoden aus dem Leben Thomas Manns – in die Hände fällt. Auch das ist ein Verdienst.

Auschwitz Häftling Nr. 2

Im Zuge der mittlerweile über Hand nehmenden True-Crime-Welle passiert es immer wieder, dass man für den einen oder anderen Verbrecher eine gewisse Art Sympathie entwickelt. So wie in den späten Achtzigern/Beginn der Neunziger der Kaufhaus-Erpresser Dagobert zum kleinen Helden aufstieg, der die Polizei ums andere mal foppte. Ein zweifelhafter Ruhm.

Im Falle des Berufsverbrechers (den Titel bekam er in den 30er Jahren, also Achtung! nazideutsch) Otto Küsel ist die Wandlung zum Helden allerdings nachvollziehbar. Drei Jahre saß er bereits im Konzentrationslager Sachsenhausen ein als er im mai 1940 nach Auschwitz deportiert wurde. Mit einem grünen Dreieck gekennzeichnet, das ihn als Berufsverbrecher kennzeichnete. Er war die Nummer Zwei. Was nicht auf seine Stellung hinwies, sondern lediglich die Reihenfolge der Erfassung betitelt. Er war ein so genannter Kapo. Er teilte Gefangene zum „Dienst“ ein. Er entschied, wer welche Arbeiten zu verrichten hatte. Gefangene, die über Gefangene entscheiden, wer zur Arbeit noch taugt und wer … naja, man weiß um die „Alternative“…

Doch Otto Küsel war schon immer ein widerspenstiger Zeitgenosse. Politik interessierte ihn nicht besonders. Der eigene Vorteil war ihm näher. Das und die realistische Einschätzung der allgemeinen Lage war für viele seiner Mithäftlinge ein Segen. Denn Otto Küsel durfte entscheiden, wer arbeitet, und wer davon verschont wurde. Ja, verschont, denn Arbeit in Auschwitz waren mit Qualen, Pein, Prügel und dem sicheren Tod durch ein weithin sichtbares Band verbunden.

Otto Küsel gelang so gar die Flucht aus dem Massenvernichtungslager. Durch Verrat kamen ihm die Häscher jedoch wieder auf die Spur und abermals lautete die Adresse Auschwitz. Block Elf. Der berüchtigte Todesblock. Durch Amnestie des neuen Lagerleiters entging er dem sicheren Tod. Letzte Station seiner körperlichen Leidensgeschichte war Flossenbürg in der Oberpfalz. Auf dem Todesmarsch kamen die Alliierten noch rechtzeitig, um ihn vor dem geplanten Tod zu retten. Er blieb in der Gegend, nach heimatliche Berlin hatte für ihn jeglichen Reiz verloren, heiratete und gründete eine Familie. Mit denjenigen, die ihm ihr Leben verdankten, stand er bis ins hohe Alter in Kontakt. Er wurde von ihnen nicht vergessen. Dennoch ist seine Geschichte in Deutschland kaum bis gar nicht bekannt.

Sebastian Christ folgte jahrelang den Spuren des hierzulande unbekannten Helden von Auschwitz. Diese Biographie ist ein Mahnmal gegen das Vergessen. Immer wieder wurde angeregt sein Leben und das von vielen Anderen nicht auf dem noch zu erledigenden Aktenberg abzulegen. Der ehemalige polnische Außenminister Władysław Bartoszewski erwähnte ihn in seinen Erinnerungen an seine Zeit in Auschwitz. Von deutscher Seite kam nichts. Nur wer intensiv recherchiert, stößt irgendwann unweigerlich auf seinen Namen. Ab sofort ist Otto Küsel nicht mehr nur Auschwitz Häftling Nr. 2!

Der Zauber des Berges

Der Titel ist zweifellos keine weitere Schnulze, die mit zweitklassigen Schauspielerin vor romantischer Kulisse irgendwann einmal verfilmt wird. Wobei die Romantik die Triebfeder dieses Buches, dieser Geschichte ist. Es ist die Geschichte von Willem Jan Holsboer. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war er Kaufmann in London. Erfolgreicher Banker. Mit einem ausgeprägten Sinn für Problemlösungen. Seine Frau Margaret wurde zur Kur in die Schweiz geschickt. Die Reisestrapazen waren derart anstrengend, dass Willem stündlich mit einer Verschlechterung ihrer Situation rechnen musste. Dieser verdammte Berg. Da, in Davos. Mit der Kutsche hier her zu fahren – das ist doch nicht normal! Wie sollen die Patienten so gesunden?! Irgendwann würde er eine Eisenbahnlinie hier bauen lassen – das Geld hatte er ja. Nun … es blieb nicht bei der Eisenbahn. Es kam noch ein Sanatorium hinzu. Und so wie damals, wenige Jahre zuvor, er das Textilgeschäft ankurbeln wollte, indem er Schauspieler eines renommierten Londoner Theaters mit seinen – feinsten – Stoffen ausstaffieren wollte, sollte ein weiteres Stück Kultur seinen Ruhm mehren.

Das klappte nicht ganz. Der Berg, um den es geht, liegt schon wegen des Titels auf der Hand: Der Zauberberg. Es ist sozusagen das Prequel, die Vorgeschichte zu einem der berühmtesten Romane. Thomas Mann kurbelte unbewusst den Kurtourismus in dem kleinen Bergdorf Davos, auf der Schatzalp, in den Bergen an. Und Willem Jan Holsboer bereitete ihm wahrhaft den Weg. Ob Thomas Mann den geschäftstüchtigen Finanzier kannte?

Daniela Holboer – ihr Mann ist der Urenkel eben dieses Visionärs – ist Literaturwissenschaftlerin. Als sie die Geschichte von Willem Jan Holsboer hörte, wusste sie zwei Dinge. Der Mann, der ihr diese Geschichte erzählt, ist ihr Mann. Und Zweitens muss sie die Geschichte von Willem erzählen. „Der Zauber des Berges“ ist das Ergebnis jahrelanger Recherchen.

Im Jahr 2024 feiert man auch mit zahlreichen Büchern das hundertste Jubiläum des „Zauberberges“ von Thomas Mann. Neue Erkenntnisse, Dachbodenfunde, neue Sichtweisen und –achsen sollen neue Schlaglichter auf den Jahrhundertroman werfen. Und meistens gelingt das auch. Daniela Holsboer gelingt es den Startschuss des Zauberberg-Universums um einige Jahre, Jahrzehnte auf der Zeitachse nach vor zu verlegen. Weniger nachdenklich, weniger überbordend, weniger Kommas als bei Thomas Mann. Doch mit akribischer Detailversessenheit schafft sie einen neuen Anfang des echten Zauberbergs.

Die Nacht der Physiker

Wenn im Herbst eines jeden Jahres die Nobelpreise vergeben werden, sorgt das immer (noch) für Aufsehen. Und das obwohl kaum jemand die Preisträger und ihre Verdienste kennt, geschweige denn versteht.

Man könnte sich diesem Buch auch mit der Diskussion um die Erbschaftssteuer in Deutschland nähern. Ein zähes Ringen um Deutungshoheit und Schutz der eigenen Wählerschaft machen es unmöglich etwas Substanzielles zu erkennen. Doch diese Diskussion tritt im Zusammenhang mit diesem Buch in den Hintergrund.

Die Namen von Weizsäcker, Hahn, Heisenberg sind vielen sicher geläufig. Auch dass sie mit der schrecklichsten Waffe, die man Menschen in die Hand geben kann in einem Atemzug genannt werden, ist hinlänglich bekannt. Ebenso die Tatsache, dass diese Namen sich der Tragweite ihrer Entdeckungen ab einem gewissen Zeitpunkt durchaus bewusst waren.

Richard von Schirach – und hier kommt unterbewusst die Erbschaftssteuer im übertragenen Sinne ins Spiel – ist die Zerrissenheit zwischen Tun und Verantwortung wohl bekannt. Sein Vater war Reichsjugendführer.

Die alliierten Amerikaner nehmen kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges die Elite der deutschen Atomphysiker fest und verhören sie präzise dokumentiert auf einem englischen Landsitz. Das dauert nicht nur ein paar Stunden oder Tage. Es dauert Wochen, Monate.

Die Angeklagten – auch wenn es rechtlich zuerst einmal Zeugen und wissenschaftlich und kriegsbedeutend vor allem wichtige Informationsbringer sind – stehen vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Es sind schlaue Leute. Sie sind wissbegierig. Die meisten erfolgreich. Sie sitzen auf dem Thron der Wissenschaft, weil man ihren Ideen Glauben schenkte. Und ein perfides System nutzte diese wissenschaftliche Energie aus, und staffierte sie mit Privilegien aus, von denen sie nie zu träumen wagten. Die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Für die einen nicht schnell und effektiv genug – Diktatoren und ihre Handlanger sind niemals geduldig. Für die Anderen, die Mahner ist das Tempo immer noch zu hoch. Was, wenn Nazideutschland tatsächlich zuerst der Bau einer Atombombe gelänge? Nicht auszudenken welch unermessliches Leid hereinbrechen würde.

Andere machen das Spiel und erbringen schlussendlich den Beweis wie verheerend ein Atombombenabwurf sein kann. Und welche lang sichtbaren Folgen das hat. Hier kommt ein weiteres Mal das Erbe ins Spiel. „Die Nacht der Physiker“ ist im Regal der Sachbücher das Thriller-Non-Plus-Ultra. Von Schirach muss keine Biographien kunstvoll miteinander verweben. Sie sind es bereits. Aber es geling ihm Zerrissenheit, taktisches Kalkül, Forscherdrang, Menschlichkeit und Reue in Einklang zu bringen, so dass man sich wünscht, dass dieses Buch niemals enden würde.

Sonny Boy

Seit über einem halben Jahrhundert rätselt die Filmwelt wer, wenn nicht dieser eine Al Pacino könnte diese Rolle sonst noch formatfüllend spielen. Und seitdem lautet die Antwort: Niemand!

Kaum vorzustellen, dass dieser Leinwandgigant einmal die Hosen voll hatte und daran zweifelte, dass der eingeschlagene Weg Schauspieler zu werden eine Sackgasse sei. Marlon Brando, James Dean und Montgomery Clift – deren Talent konnte er einordnen. Aber als Dustin Hofmann in „Die Reifeprüfung“ ins Kino kam, war der junge Al Pacino eingeschüchtert. Zu diesem Zeitpunkt ist die Revolution in Hollywood im vollen Gange. Der Umbruch ist state of the art. Und Al Pacino aus der South Bronx, den seine Mutter von im Alter von drei Jahren mit ins Kino nahm, quält sich durch den Schauspielunterricht. Sein Lehrer ist schockiert wegen seiner Darstellungen im Unterricht. Kommilitonen sind begeistert. Wem soll er mehr Beachtung schenken?

Die Geschichte lehrt den Zuschauer, Regisseure und Produzenten, dass das Gelernte nur einen Teil des Schauspielers ausmacht. Als Schauspieler muss man selbst seinen Weg finden. Und sich finden lassen. Wer die Probeaufnahmen zu „Der Pate“ mit Diane Keaton gesehen hat, ist verblüfft. Dieses Milchgesicht soll einmal der rigoroseste Gangster der Filmgeschichte werden? Ja! Und niemand sonst hätte es so darstellen können.

Kurze Zeit später ist dieses Milchgesicht ein desillusionierter Cop mit Rauschebart, der der Korruption in den eigenen Reihen bedingungslos den Kampf ansagt. Dann ist er ein Bankräuber, der seinem Freund mit der erhofften Beute eine Geschlechtsumwandlung bezahlen will. Alles von nur einem Menschen verkörpert. Und wiederum die niederschmetternde Erkenntnis: Das kann nur einer spielen – Al Pacino!

Den Namen Sonny Boy bekam der kleine Al von seiner Mutter. Angelehnt an einen Schlager der Zeit. „Sonny Boy“ ist (s)eine Reminiszenz an (s)ein Leben, dass mit stotterndem Motor begann, doch mit Rasanz eine Fortsetzung fand, die niemand erahnen konnte. Er setzte sich gegen scheinbar unbesiegbare Heroen der Leinwand durch, stieg binnen weniger Jahre zu einem gottgleichen Titanen auf und verschwand immer wieder mal gern in der Versenkung, um seine eigenen Projekte in die Tat umzusetzen.

Ohne großartig Schlaglichter zu setzen blickt in diesem Buch ein Mann auf sein Leben zurück, dass einzigartig ist. Ruhig und besonnen, mit der Milde und der Weisheit des Alters, reist Al Pacino mit dem Leser durch mehr als ein halbes Jahrhundert Lebens- und Filmgeschichte. Anekdotenreich und mit dem Willen alles zu erzählen. Für Fans das lang ersehnte Glück, für Biographieleser eine Offenbarung.

Cellini – Ein Leben im Furor

Wäre Benvenuto Cellini heute ein Superstar? Ein über alle Maßen erfolgreicher content creator, der mit allerlei Krimskrams auf sich aufmerksam machen würde? Er müsste es nicht! Denn er war ein begnadeter Goldschmied und Bildhauer. Seine Werke stehen im Louvre, in den Uffizien. Und sein Leben bietet Stoff gleich für mehrere Staffeln einer Serie. Nun war es die Gnade der frühen Geburt, dass er vom Social-Media-Hype verschont blieb – er wurde am 3. November 1500 geboren #cellini1500. Wäre auch ein guter Name für seine eigene Duftmarke.

Und von denen hatte er einige gesetzt. Mit 13 begann er eine Lehre zum Goldschmied. Die meisten seiner Follower versuchen heutzutage ihre mangelnde Hygiene mit angesagten Mittelchen zu kaschieren. Im Alter von 23 wird er wegen Sodomie verurteilt, also Sex mit etwas anderem, was keine Frau ist. So war das damals. Und außerdem hat er sich ganz ordentlich mit einem Mitglied einer anderen Goldschmiedefamilie geprügelt. Er flieht. Nach Rom. Dort spielt er auch im Orchester von Papst Clemens VII. die Flöte. Und bekommt erste Aufträge vom Stellvertreter Gottes auf Erden. Im Alter von 30 wird er zum Mörder – der Papst vergibt ihm.

Na, ist das genug Stoff für eine spannungsgeladene Biographie? Oh ja. Und es bleibt nicht dabei. Immer wieder muss Cellini fliehen. Roma, Mantua, Florenz, Pisa, Siena, Neapel, Frankreich. Immer wieder findet er sofort Anschluss. Erhält Aufträge der Machthaber. Viele seiner Arbeiten gehen verloren, werden vermutlich eingeschmolzen. Doch das, was erhalten bleibt, „Perseus“, „Nymphe von Fontainbleu“ und die „Saliera“, lässt noch heute jeden Besucher innehalten. Die Detailversessenheit ist wegweisend, prachtvoll, atemberaubend.

Andreas Beyer nimmt sich die erhaltenen Seiten der Vita von Cellini – er diktierte fleißig seine Leben einem Gehilfen – und bringt sie in eine moderne Form. Oberflächlich wird die Renaissance von einer Handvoll Künstlern bestimmt, wie Michelangelo und da Vinci. Cellini ist fast in Vergessenheit geraten. Wer will schon einem Mörder frönen?! Einem mehrfachen Mörder.

Was ist er nun, dieser Cellini? Genie, Wahnsinniger, Getriebener, Unbelehrbarer, Freigeist? Wohl eine zum großen Teil ungesunde Mischung aus allem. Von ganz oben protegiert, vom Leben ausgespuckt, von der Muse verschlungen. Dieses Buch ist ein Höllenbrand, der sich in Hirn brennt, und niemals gelöscht werden kann.