Ist Gudrun Ensslin fast fünfzig Jahre nach ihrem Tod überhaupt noch greifbar? Fest steht, dass sie nach dem fast schon siamesisch verklärten Zwillings-Führungsduo Baader/Meinhof eher ein Schattendasein fristen muss in der Nachbetrachtung der Zeit des RAF-Terrors. Sie gab es nie als DIE Gudrun Ensslin, sie war immer die PFARRERSTOCHTER Gudrun Ensslin.
Ingeborg Gleichauf macht sich auf Spurensuche nach der attributfreien Person Gudrun Ensslin. Ja, sie war nun mal die Tochter eines Pfarrers. Eines Pfarrers, der in den Krieg zog, sich gegen die Nazis stemmte, der sich künstlerisch betätigte, um sich abzulenken. Die Kindheit war geprägt von Freiheit. Aber nicht diese momentan überstrapazierte, allem gegenüber gleichgültige Freiheit, sondern entscheidungsfreie Selbstentwicklung. Natürlich ermahnten die Eltern ihre Kinder zur Sorgsamkeit. Aber, was die daraus machten, wenn sie in der Natur herumtollten, entzog sich ihrer direkten Kontrolle.
Gudrun Ensslin fiel schon früh durch ihre Sprachgewandtheit und ihre Konzentrationsfähigkeit und den unaufgezwungenen Leistungswillen auf. Diktatorisch wurde sie nicht wahrgenommen. Wie es zum Bruch mit dieser Kindheit kam, die „ihr doch alle Türen öffnen könnte“, kann man nicht (und schon gar nicht mehr heute) nachvollziehen. Das alles liegt im Land der Spekulationen. Und in dieses will die Autorin nicht einreisen. Auch deswegen sind ihre die Kritik und das Unverständnis über so manche subjektive Expertise über die im Schatten agierende Gudrun Ensslin gedanklich abzunehmen.
Man stelle sich vor, dass neben Irmgard Möller auch Gudrun Ensslin den Selbstmord – bleiben wir mal bei der These – überlebt hätte. Sie wäre heute eine Frau in den 80ern. Öffentliche Ämter hätte sie nie wahrnehmen können. Ihrer Stimme Aufmerksamkeit zu verleihen, wäre um einige schwieriger gewesen als es beispielsweise für Hinterbänkler des Parlaments ist krude Ideen zu postulieren. Ihre Texte wurden in Theaterstücken und Opern verwendet, was auch kaum jemand weiß. Wäre Gudrun Ensslin heute eingeladen, um in Geschichtsstücken in einem Greenroom als Expertin ihr Wissen mit der Fernsehnation zu teilen? Hätte sie überhaupt dabei mitgemacht?
Es ist schwierig der Pfarrerstochter Gudrun Ensslin den Schleier herunterzureißen. Warum sollte man auch. Ein gewisses Geheimnis schadet keiner Legende. Was dieses Buch so einzigartig und vor allem so lesenswert macht, ist die Tatsache, dass die Autorin überhaupt keinen Zweifel aufkommen lässt, dass es zahlreiche Gründe gibt sich Gudrun Ensslin nähern zu müssen. Sie ist vielleicht das Korrektiv in der Geschichtsschreibung über eine Gruppe, die den Mut hatte Veränderungen herbeizuführen. Sich dabei aber gehörig in der Wahl der Mittel vertan hat.