Tiohtiá:ke

Da ist sie wieder: Audrey Duval. Anwältin für die Rechte der autochthonen Bevölkerung Kanadas und Splitter im Fleisch derer, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Auch dieses Mal sorgt sie wieder für einen entscheidenden Wendepunkt im Leben eines ihrer Mandanten.

Montreals Obdachlose – in der Sprache der Mohawk heißt Montreal Tiohtiá:ke – bekommen Zuwachs durch Élie Mestenapeo. Aus Nutashkuan, woher er stammt hat man ihn verwiesen. Weil er seinen Vater getötet haben soll, wofür er auch im Gefängnis saß. Zehn qualvolle Jahre lang. Die nichts für ihn getan haben außer der Resignation Futter zu geben. Sollte er es wirklich gewesen sein, hatte er unzählige Gründe dies zu tun. Gewalt und Alkoholismus kennt er aus eigener Erfahrung.

Hier in lernt er Tiohtiá:ke die Kehrseiten der Gesellschaft kennen – als ob das Gefängnis nicht genug Schule des Unlebens wären … Aber auch Freunde: Musiker, Foodtruckbesitzer, von den Eltern Verlassene. Sie geben ihm den Mut an die Zukunft zurück. Die Eiseskälte der Stadt kann ihn nicht brechen. Er hat Freunde, die ihn bestärken, ja fast drängen, noch einmal Anlauf zu nehmen. Anlauf und zum Absprung in ein neues Leben zu wagen. Etwas wozu ihnen oft der Mut fehlt. Er will wieder zur Schule gehen. Um dann schlussendlich Jura studieren zu können. Da kommt ihm Audrey Duval gerade recht…

Noch eine Wendung in seinem an Wendungen reichen Leben.

Michel Jean brilliert einmal mehr in der Rolle des leidenschaftlichen Erzählers über das Leben der alteingesessenen Völker Kanadas. Er braucht nur wenige Zeilen, um den Leser in Gefolgschaft zu nehmen und ihn in eine Welt zu führen, die man meist nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen möchte. So viel Leid, so viel Hoffnung. Verzweiflung und Agonie im ständigen Widerstreit mit Licht und Zuversicht. Allein die Dauer der Zustände bestimmen über das Schicksal des Einzelnen.

Spannend wir ein Thriller und einfühlsam wie eine mütterlicher Roman wird „Tiohtiá:ke“ zu einem Buch, das man nicht mehr zur Seite legen möchte. Wie schon in „Maikan“ wird Anwältin Audrey Duval zum strahlenden Licht einer Gruppe von Menschen, die im Dunkeln sich wohler fühlt.