Dresden MM-City

Es ist unbestritten, wenn es eine Stadt in Deutschland gibt, die seit Jahren stetig wachsende Besucherzahlen zu vermelden hat, dann ist es Dresden. Die Neueröffnung der Frauenkirche war ein Fanal, das in die Welt hinaus hallte. Das bedeutet für Besucher aber auch, gutes Wartefleisch zu besitzen. Denn einfach mal so die Frauenkirche zu besuchen, ist in der Hauptsaison das Ziel der meisten Gäste. Dann vertreibt man sich die Zeit mit dem überaus üppigen „Nebenprogramm“, dass die Stadt an der Elbe noch zu bieten hat. Zwinger, Brühlsche Terrassen sind so fester Bestandteil eines Dresdenbesuches wie der Eiffelturm und Paris oder Ramblas und Barcelona – es geht nicht ohne.

Autorin Angela Nitsche empfiehlt danach noch ein wenig zu verweilen und Dresden noch intensiver kennenzulernen. Oder man macht es umgekehrt: Als Appetitanreger erst die vermeintlich versteckten Höhepunkte besichtigen und dann die Touri-Tour. So hat man schon ein wenig Dresdenluft geschnuppert und ist bestens gewappnet für die Postkartenerlebnisse des Barock. Doch wo anfangen?

Beispielsweise mit Tour 7. Wilsdruffer Vorstadt und Friedrichstadt. Wer Pech hat, erfährt schon bei der Anreise von Wilsdruff. Eine sehr unbeliebte Strecke bei allen, die auf der Autobahn die Zeit im Stau verbringen müssen. Die Autobahnabfahrt Wilsdruff gehört sicher zu den am meisten genannten Staupunkten des Freistaates. Ist man am Ziel angekommen, eröffnet sich eine Welt, die man vielleicht erwartet hat. Schließlich ist Dresden trotz seines Spitznamens „Tal der Ahnungslosen“ – was mit der geographischen Lage und der damit bis in die 1990er Jahre verbundenen schlechten Fernseh- und Radioprogrammversorgungslage zusammenhing – ein Juwel städtebaulicher Kunst. Diese Tour macht den Besucher zum Kenner der Stadt. Vom Sächsischen Landtag, einer Mischung aus Alt und Neu (mit grandiosem Elbblick), über historische Hinterlassenschaften eines gewissen Herrn Semper (der mit der Oper, ein weiteres Must-See Dresdens) am Eingang zu ehemaligen Orangerie bis hin zu einem Bauwerk, das schon immer im Inneren etwas ganz anderes verbirgt als es von außen vorzugeben scheint: Die Moschee. Was drin ist? Erst Tabakfabrik, dann Bürogebäude.

Dresden hat sich gemausert. Einst barocke Perle, dann zerstörtes Mahnmal gegen Krieg und Willkür, nun wieder blühende Metropole und Ausgangspunkt für einzigartige Ausflüge in die Umgebung.

Auch die lässt die Autorin nicht außen vor: Meißen, die Porzellanstadt sowie  Radebeul, das durch seine Architektur und Karl May die Besucher anzieht. Nicht zu vergessen – ganz im Gegenteil – die Sächsische Schweiz. Mit dem Dampfer der Weißen Flotte stilecht wie ein König die schrillen Felsformationen entdecken und per pedes zu erklimmen bis hinauf zur Festung Königstein. Auch eine Zugfahrt entlang der Elbe sorgt für Ahs und Ohs.

Die sorgfältig ausgewählten Hinweise, wo man sich getrost niederlassen kann, um den Gaumen weitere Erlebnisse zu gönnen, sind mehr als nur nachahmenswert, sie bilden den krönenden Abschluss eines jeden Tages. Ob nun Partygetümmel in der Neustadt oder Museumsbesuch im Hyienemuseum (den gläsernen Menschen muss man gesehen haben!) oder ausgedehnte Bummel entlang alter und neugestalteter Alleen und Bauwerke – neben Neugier, Entdeckerlust und Kamera sollte man unbedingt diesen Reiseband dabei haben.

Ariane – Liebe am Nachmittag

Ariane Nikolajewna Kuznetzowa kann einem Fahrradfahrer Benzin verkaufen. Sie ist ein Charmebolzen, eine Intelligenzbestie und Wildfang in einem. Und sie wie das auch! Bei ihrer Abschlussprüfung lässt sie ihre Lehrer nicht zu Wort kommen und brilliert mit einem Vortrag, der alle verstummen lässt. Dass ihr Lehrer mehr als offensichtlich in sie verknallt ist, gerät darüber hinaus zu Nebensache. Die Schule ist vorbei, sie wird studieren. Was ihrem Herrn Papa – wie er ihr in einem Abrief mitteilt – gar nicht gefällt. Ihre Intelligenz und ihre Empathie wären am Herd zu Hause besser angelegt als in einem lotterhaften Leben an der Uni. Ob er weiß, dass er damit bei Ariane auf Granit beißt?

Die Zeit bei Tante Warwara neigt sich dem Ende zu. Schule vorbei, es wartet das Leben. Vorbei auch die Zeiten, in denen Ariane die Männer um den Finger wickeln konnte wie keine Andere. Selbst der aktuelle Freund von Tante Warwara – auch sie ein Freigeist der besonderen Art – schafft es nicht Ariane zu überzeugen, dass sie bei ihm das Paradies auf Erden hätte. Ariane ist viel zu schlau, um die – besser: Den – Hintergedanken zu erfassen. Wer sie will, ist auf ihren Willen angewiesen. Das kann man Emanzipation nennen, oder Frechheit oder Freiheitsdrang. Das Ergebnis bleibt dasselbe.

Nach Moskau zieht es das Mädchen, dem bisher alles und alle (Herzen) zugeflogen sind. Auch in Moskau scheint alles so weiterzugehen wie bisher. Nicht ganz so einfach, aber dennoch zu einer großen Zufriedenheit Arianes. In der Oper lernt sie Konstantin kennen. Wohl erzogen, vorschnell, gewitzt, forsch. So erobert er ihr Herz. Doch an Liebe denken werde er noch sie. Konstantin ist das männliche Gegenstück zu Ariane. Ob das gut geht?

Die selbstauferlegte Liebesabstinenz muss bald schon echten Gefühlen weichen. Ja, Ariane und Konstantin sind ein Paar. Das erstaunt niemand mehr als die beiden selbst. So war das nicht geplant. Das Drehbuch des Lebens sah vielleicht eine Affäre vor, aber doch keine endgültige Beziehung. Und schon bilden sich Risse im harmonischen Geflecht der Irrungen und Wirrungen der Liebe. Und finde sie auch nur am Nachmittag statt…

Ein Skandal war dieser Roman als er 1920 erschien. Die Leser liebten ihn. Die Kritiker auch, weil sie endlich genug Pulver für ihre Moralkanonen bekamen. Eine Frau, die sich die Männer aussucht wie der Züchter das Vieh. Eine Frau, die mit den Männern spielt. Und es auch noch zugibt. Eine Frau, die einfach nur eine Frau sein will. Mit den Rechten wie ein Mann. Doch dazu gehören eben nun auch einmal die Pflichten. Und da gerät der Motor ins Stottern. Wenn kein Mechaniker zur Hand ist, muss man selbst Hand anlegen. Ohne Werkzeug und ohne Lehrmeister kein leichtes Unterfangen. Und Konstantin? Er war begeistert von den Stunden im Hotel. Von der Routine der Treffen, die ihn (und in seinen Augen auch Ariane) glücklich machten. Jetzt wir die Routine von Grenzen und Enge bestimmt. Das freie Leben ist auch für ihn vorbei. Was beide nicht wissen, was auch Claude Anet nicht zu Papier brachte, ist die Zukunft der beiden. Werden sie jemals wieder so glücklich werden wie im Hotel National? Wird die Liebe den Nachmittag überstehen?

Almost

Vielleicht hat der Eine oder Andere das schon mal erlebt. Um sich weltoffen und kreativ zu geben, gestalten Hotels hier und da ihre Zimmer mehr oder weniger geschickt nach gängigen Images verschiedener Destinationen. In der Miami-Suite ist alles quietsch-bunt, dass man Angst haben muss in die 80er zurückkatapultiert zu werden und Don Johnson auf der Straße eine Vollbremsung hinlegt. In der Almhütte sind die Wände mit allerlei Geweih verziert. Und im Raum Paris prangen überall Herzchen. Das ist klischeehaft und nicht im Ansatz originell.

Wojciech Czaja nutzte die coronabedingte Kreativenge als Sprungbrett für Neues. Er cruiste mit seiner Vespa durch Wien und fand … die Welt. Wie das? Ganz einfach. Augen auf, Kamera an und fertig. Immer noch nicht klar wie man im Lockdown die Welt erkundet? Als Architektur- und Stadtkulturjournalist hat er einen besonderen Blick für seine Stadt. Wien. Er ist weit gereist, als das noch ging. Und die Erinnerungen sind immer noch präsent – so stark ist dann halt doch kein Virus! Punkt für das Erinnern. Immer wieder spielte ihm die Erinnerung, wenn man so will, einen Streich. Er schaute links, er schaute rechts, nach Oben, nach Unten. Und schon waren sie wieder da, die Erinnerungen. So manches Haus, so manche Aussicht erinnerte ihn an San Francisco (jeder, der die Riesenradkabinen im Prater betrachtet, kann die Gemeinsamkeiten mit der Cable Car durchaus erkennen). Oder Tel Aviv in der Wolfganggasse im Zwölften. Die Bauhausarchitektur verleitete ihn im Handumdrehen sich an die israelische Hauptstadt zu denken.

Eine Frontseite eines durchaus präsentablen Hauses in Neubau lässt Washington an der Donau erstehen.

Einhundert solcher Flashbacks hatte Wojciech Dzaja. Er holte sein Telefon raus und fotografierte (man stelle sich vor, dieser Satz wäre schon vor dreißig Jahren geschrieben worden – hätte kein Mensch verstanden. Aber Corona ist ja bis heute auch noch nicht bei jedem angekommen…). Kurz und knapp das Wo geklärt, Bild hinzugefügt und fertig ist das ungewöhnlichste Wienbuch, das während der Corona-Pandemie entstanden ist.

Das Besondere daran ist, dass hier kein Homeofficer vom Schreibtisch aus die Stadt immer wieder neu entdeckt. Der Autor ist rausgefahren, durch die Straßen und Gassen einer der lebenswertesten Städte der Welt. Und er fand Letztere an Orten, die viele Touristen nicht entdecken werden. Wie die ehemalige Tabaksfabrik in der Nusswaldgasse in Döbling. In einer Seitenstraße liegt dieses Kleinod. Reichverziert wie ein Märchenpalast aus Tausendundeiner Nacht. Oder aus Isfahan, der iranischen Metropole, die mit ihrem Naqsch-e-Dschahan-Platz und den ihn umgebenden Gebäuden auf Immer und Ewig faszinieren wird.

Doch es ist eben alles nur fast, almost, Quito, Zürich, Helsinki, Gera. Dennoch, oder gerade deswegen ist dieses Buch mehr als nur ein lesens- und betrachtungswürdiges Druckerzeugnis. Es ist nicht das erste Corona-Buch „der Saison“, aber mit Abstand und für sehr lange Zeit das Beste! Ein sehr persönliches Buch, das jeden sofort anstecken wird, mit Reisefieber! Das tut nicht weh, und braucht auch kein Impfmittel.

Du wirst heillos Geduld haben müssen mit mir

Lieber Glauser,

 

ich darf Sie doch so nennen? Ich kenne Ihren Studer, bin fasziniert von dem unnachgiebigen Jäger. Sie Friedrich zu nennen, käme mir nicht in den Sinn. Schon seit sehr langer Zeit habe ich keine Briefe mehr bekommen. Keine richtigen. Keine privaten Zeilen. Immer nur Werbepost mit mehr oder minder moralischen Angeboten. Ihre Briefe, zusammengefasst in diesem kleinen Büchlein sind die ersten in diesem Jahrtausend. Klingt hochtrabend, oder? Aber die nüchternen Zahlen sprechen eine nüchterne Sprache. Und die ist weder Ihrer noch mein Fall.

Sie sind ein echter Schlawiner, lieber Glauser! Die Feder ist schärfer als das Schwert, stimmt’s?! Wie Sie Elisabeth von Ruckteschell umgarnen, Ihre Liso, lässt erahnen was in Ascona passierte. Der Blitz hat mehrmals eingeschlagen. Biswangen und der Enge der Psychiatrie entkommen, war sie der Wind im Segel im Aufbruch zu neuen Ufern. Lange Briefe hatten sie ihr versprochen, hielten es und verwarfen den Gedanken gleichermaßen. Die Masse an Briefen … mochte sie das? Ich glaube schon. Sie wussten, was Sie wollten. Wohlklingende Worte, frei im Geiste und strikt ihren Weg verfolgend. Würden doch mehr Menschen so schreiben (können) wie Sie!

Heute – mehr als achtzig Jahre nach ihrem Tod – zeigt man seine Zuneigung mit kleinen Bildchen, Emojis nennt man das. Doch deren Bedeutung muss man auch erstmal entziffern. Sie hingegen halten nicht hinterm Berg. Sie lieben – als schreiben sie es. Sie darben, also betteln oder flehen Sie. Sie leiden – warum allein leiden? Auch andere sollen daran teilhaben, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Ich frage mich, was Sie wohl denken würden, wenn Sie Ihre „gesammelten Werke“ en bloc – wie in diesem Buch – lesen könnten. Oh my god! Oder doch „ach so war das?“, ich glaube die Erkenntnis liegt irgendwo in der Mitte. Und das obwohl Ihnen Mittelmäßigkeit niemals leid war. Wie kann man etwas leid sein, dass man nicht kennt! Ob man Ihre Liebebriefe wohl als Grundlage für eigene Schwüre benutzen dürfte? Irgendwie fühlt man sich verpflichtet dieses wunderbar gestaltete Büchlein – die Prägung mit den zwei Äpfeln auf der Frontseite haben Sie, wo immer Sie jetzt sind, sicher bemerkt – für sich selbst in die Tat umzusetzen. Es wäre doch schade, sie ungenutzt zu lassen. Nichts ist grausamer als unnütz verschossenes Pulver.

Liebe Glauser, es ist kein langer Brief geworden. Ich wollte nur Danke sagen, für den Studer und die Briefe, die ich lesen durfte. Genießen Sie den Ruhestand, und lassen Sie die Finger vom Morphium. Das ging schon einmal nicht gut! Bis gly.

Agata und ihr fabelhaftes Dorf

Wo gestern noch das Feuer des Kampfes loderte, liegt heute der kalte Körper von Costanzo Di Dio, dem Tabacchere in dem kleinen sizilianischen Ort. Gestern noch, oder besser: Bis gestern noch scharwenzelten der Bürgermeister Don Pallante und seine Kumpane um ihn herum. Sie wollten sich unbedingt Saracina, ein idyllisches, vor allem aber unfassbar wertvolles Stück Land unter den Nagel reißen. Doch der Kommunist Costanzo blieb stur. Keine Unsumme der Welt würde er akzeptieren und das Land, auf dem einmal seine Kinder und Kindeskinder spielen sollen hergeben. Und schon gar nicht dem Faschisten Pallante.

Jetzt ist der letzte Funken Lebensgeist aus Costanzos Körper gewichen. Die Trauerfeier ist pompöser als es ihm liegewesen sein könnte. Doch die Leichenfledderer stehen schon Schlange. Siekreisen um die schöne Agata. Jung, in der Blüte ihres Lebens. Die Frauen des Dorfes neiden ihr das Aussehen und den Status der jungen Witwe, die es über Kurz oder Lang mit der Moral sicher nicht mehr so ernst nehmen wird. Auch der Bürgermeister streckt seine klebrigen Finger nach ihr aus. Was bisher nur im Verborgenen blieb, tritt nun allzu deutlich zutage. Er will Agata endlich erobern. Wegen ihr. Und wegen des Anwesens. Die geplante Mülldeponie ist profitabel.

Pallante, den alle wegen seiner auffälligen Augen nur occhi janchi, weiße Augen, nennen, bietet willfährigen Helfern sogar hochbezahlte Jobs in der Umgebung an. Qualifikation wird ja eh überbewertet. Dieses Helfer haben es aber bis jetzt nicht geschafft, das begehrte Land in den Besitz von occhi janchi überzuleiten. Jetzt scheint die Gelegenheit gekommen, Saracina endgültig vereinnahmen zu können. Die junge Witwe hat momentan sicher andere Sorgen als den Kampf um ein Stück Land…

Dass die Aasgeier sich irren, steht schon während der Prozession fest. Vor der Parteizentrale der Bürgermeisters Pallante bleibt Agata kurz stehen und … spuckt aus. Sie wird für ihren Laden kämpfen (müssen). Sie wird für Saracina kämpfen (müssen). Sie wird jedem Widersacher mehr als nur die Stirn bieten (müssen). Mit Toni Scianna, dem Lehrer – auch schwer verliebt in die bezaubernde Agata – und Lucia, ihrer besten Freundin hat sie Verbündete an ihrer Seite, auf die sie bauen kann.

Verehrer und Feinde sind von nun an im Leben von Agata die Konstanten im Alltag. Ihre Feinde sind zu allem bereit. Das emotionale Band zu ihren Freunden wird immer wieder gespannt, doch es hält.

Tea Ranno gelingt es spielerisch den schmalen Grat zwischen kitschiger Idylle am Meer und akurat gezeichneter Verhältnisse in dem fiktiven sizilianischen Dorf nicht zu verlassen. Mit dem Maresciallo Andrea Locatelli kommt Hilfe von ungeahnter Seite. Ihm sind die Machenschaften des Bürgermeisters und seiner Bande ebenso ein Dorn im Auge, den man besser heute als morgen herauszieht. Das fabelhafte Dorf von Agata strotzt vor Liebe. Aber eben auch vor Hass und Gier. Agata wird ungewollt zu einer zentralen Figur in einem Spiel, das durchschaubar ist, dessen Regeln aber immer wieder gebrochen werden. Und genauso oft gebrochen werden müssen.

Einmal in Sizilien

Einhundert Jahre wäre Leonardo Sciascia 2021 geworden. Vor fünfundsechzig Jahren sind diese Geschichten erstmals erschienen. Grund genug Werk und Autor in diesem kleinen roten Büchlein gebührend zu feiern. In fünf Geschichten erzählt er vom harten Leben in den Schwefel- und Salzminen, von gewissenlosen Landbesitzern und dem Kampf gegen die Korruption und fängt dabei Siziliens Geschichte ein.

Siziliens Geschichte ist voller Trauer, Blut und Gewalt. Das wissen wir nicht erst seitdem Michael Corleone in „Der Pate“ seiner Kate seine Heimat (und so ganz nebenbei sein Leben) erklären will. Leonardo Sciascia gebührt der Ruhm diese Erkenntnis in die Welt hinaus getragen zu haben. So berichtet er vom grausamen Tod des Don Girolamo del Carretto. Der wurde im Mai 1622 von seinem Knecht gemeuchelt. Nicht ganz zu unrecht. Wenn man das Prinzip  „Auge um Auge“ zugrundelegt. Denn der Graf war ein raffgieriger Herrscher. Die Steuern wurden nach Belieben erhoben und mit Brutalität eingetrieben. Einen Vertrag mit den Bewohnern von Regalpetra – dem fiktiven Ort, in dem diese fünf Geschichten angesiedelt sind – beugte er auf schändliche Weise. Gegen eine Einmalzahlung sollten seine Untertanen für alle Zeit von allen finanziellen Belastungen befreit werden. Man zahlte, doch der Graf erhob fleißig weiter Steuern bzw. Abgaben. So ist das eben in Sizilien, wenn Verträge nicht eingehalten werden. Andernorts regt man sich nur darüber auf, resigniert und ergibt sich in fatalistischer Phrasendrescherei…

Jahrhunderte später kamen die Faschisten vielen Sizilianern, vorrangig den Einwohnern von Regalpetra wie Heilsbringer vor. Man arrangierte sich. Die Mahner wurden mundtot gemacht. Doch auch hier wurde man sich schnell bewusst, dass die endgültige Erlösung einem perfiden Blendwerk Platz machen musste.

Später als Lehrer .. man kann es sich denken. Wer sich geschickt durchs Leben mogelt, kommt auch ans Ziel. Nicht selten gewissenlos, aber zumindest mittelfristig einigermaßen glücklich. Was kann man tun? Nichts Offensichtliches. Die Hoffnung, dass der Missetäter einer höheren Macht Antwort geben muss, lindert den Schmerz.

Sciascia beschreibt nicht die glanzvollen Fassaden der Paläste, ihm ist das einfache Volk mit seinen Sorgen und Nöten näher. Der Poesie, die seinen Geschichten innewohnt, tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Hoffnungslosigkeit und die oft vergebene Mühe eine Wendung herbeizurufen, ist mindestens genauso spannend wie ein Spaziergang durch die aufgeräumten Gärten Siziliens.

Ich und der Andere

Immer wenn ein Jubiläum eines Künstlers ansteht, überschlagen sich alle mit neuen Enthüllungen aus seinem ach so lebhaften Leben. Meist geht es dabei um runde Geburtstage. Bei Jim Morrison, Leadsänger der Doors, beschränkt sich die Erkenntniswelle immer auf den runden Todestag. Am 3. Juli 2021 ist es vierzig Jahre her, dass er leblos in der Badewanne seiner Pariser Wohnung gefunden wurde. Die Umstände seines Todes sind unbekannt, ein Grund mehr Spekulationen immer wieder freien Lauf zu lassen.

In diesem Jahre – dem Jahr des 40. Todestages – wird die Fangemeinde, werden die Bücherregale allerdings um ein Buch bereichert, dass sich nicht dem skandalumwitterten Exzentriker widmet, sondern mit der Kraft der Phantasie dem Lizard King neues Leben einhaucht.

Späte Sechziger Jahre. Der Summer of love ist Schnee von gestern. Überall revoltiert man, es fliegen Pflastersteine, Konventionen werden immer stärker hinterfragt. Die Doors spielen noch nicht vor Massen in riesigen Hallen, die Charts sind noch weit entfernt. Wie immer ist James Douglas Morrison ein Nervenbündel bevor es on stage geht. Das Publikum giert nach der neuen Band, ist euphorisch und unsagbar laut. Und manche Dame im Saal macht dem ikonenhaften Adonis auf der Bühne mehr als nur schöne Augen, eine macht eindeutige Angebote. Und dann ist da dieser Typ. Der passt gar nicht ins Bild der mitgerissenen Zuschauer. Ein stiller Mann. Regungslos lauscht er den Klängen von John, Robby, Ray und Jim. Er macht sich sogar Notizen. Auf einem Rockkonzert! Sehr ungewöhnlich.

Aber was will man erwarten, wenn eine ungewöhnliche Band spielt. Und wenn dann auch noch so eine herausragende Persönlichkeit wie Jim Morrison sich endlich traut mit dem Gesicht zum Publikum zu singen, kann man davon ausgehen, dass ihm, dem fremde Gedanken näher sind als jedweder Mainstream, genau dieser eine Typ auffällt, der so gar nicht ins Bild passen will. Er nennt ihn Hölderlin. Nach dem deutschen Dichter.

Als Jim ein kleiner Junge war, konnte er seinen Vater, einen hochgedienten und dekorierten Offizier nur mit dem Lesen von Büchern beeindrucken. Eines davon war von Hölderlin. Ein Mann, der hundert Jahre vor der Geburt Morrisons starb und dessen Leben vom Tod beeinflusst war wie vom Leben selbst. Die Assoziationen, die Jim Morrison für sich selbst erstellte, sind nur ein Puzzlestück im Leben des brillanten Poeten.

Jim lässt sich auf den Sonderling aus dem Publikum ein. Er spricht mit ihm, lässt sich Ratschläge erteilen, verdankt ihm Songtexte. Zugegeben, nichts davon ist jemals so passiert. Es könnte aber so passiert sein. Jürgen Kaizik taucht tief in die Psyche des wilden Musikers ein. Ihn interessiert nicht (mehr) wann er wo welche Körperpartien bei Konzerten freigelegt hatte. Auch nicht die Exzesse, die Jim Morrison (zusammen mit seinem frühen Ableben im Alter von 27 Jahren – wie zuvor Brian Jones (wird gern in der Aufzählung übersehen), Jimi Hendrix und Janis Joplin) vermeintlich zu einer Legende machten. Jürgen Kaizik gibt Morrison eine Stimme, die der Musiker sicher gern angenommen hätte. „Ich und der Andere“ ist nicht die Kirsche auf dem Kuchen des Jubilars, es ist ein komplett neues Gebäck, das auf einem ganz anderen Tisch serviert wird.

Secret Citys Italien

Es ist über sechzig Jahre her, dass Caterina Valente den Wirtschaftswunderkindern ihre Heimat Italien schmackhaft machte. Und noch immer folgt man ihrer Aufforderung mit ihr nach Italien zu kommen. Immer gern, immer wieder, immer wieder gern. Ein Reiseziel zu finden, ist nicht schwer. Die richtige Wahl zu treffen ist hingegen ein echtes Abenteuer. Will man dem Trubel der Großstädte aus dem Weg gehen und das wahre Italien kennenlernen, ist allein schon die Recherche eine kleine Reise.

Blättert man aber in diesem Buch, wird die Anzahl der zur Verfügung stehenden Urlaubstage das einzige Hindernis, das zu überwinden ist. So viele Orte, die man vielleicht schon mal gehört hat, aber deren geheime Ecken eben nun mal das sind, was sie sind, nämlich geheim. Auch wenn man meint, dass Städte wie Turin, Bologna oder Palermo kaum noch Geheimnisse in sich bergen. Autor Thomas Migge beweist auf knappe zweihundert Seiten, dass diese Annahmen nicht mehr sind als Vorurteile, die man allzu gern vor Augen führt.

Kaum hat man das Buch aufgeschlagen, springt einem das Fernweh ins Gesicht! Eine prächtige Treppe im sizilianischen Caltanissetta. Stimmungsvoll erstrahlt im spätabendlichen Licht die viel besuchten (das muss man dann auch mal mit anderen teilen können) Stufen der einzigen Treppe Italiens, die komplett aus handgefertigten Kacheln sind. Wo man sich bisher nur zum Entspannen oder auf ein gelato niedergelassen hätte, lässt man nun das Auge schweifen und bewundert die Kunstfertigkeit der Künstler.

Wenn jemand ausschweifend seine Erkundungstouren durch Italien zum Besten gibt, kann es dann doch mal passieren, dass ein wenig Seemannsgarn gesponnen wird. Auch und gerade, wenn es um das Bergdorf Civita di Bagnoregio geht. Glauben Sie niemandem, der ausführt, wie er den letzten freien (und womöglich kostenlosen) Parkplatz des Örtchens ergattert hat. Über eine Brücke erreicht man dieses idyllische Plätzchen, das sich auf einem Tuffsteinfelsen einen ewigen Platz in der Liste der fotogensten Plätze der Welt sichert. Und über diese Brücke kommt man nur … zu Fuß. Was man dann aber erlebt, ist atemberaubend. Seit über zweieinhalb Jahrtausenden leben hier Menschen, seit den Etruskern. Und deren Priester haben hier über das Schicksal der Menschen entschieden, wahrscheinlich. Auch dieses Buch kann das Rätsel über das Fanum Voltumnae nicht endgültig lösen.

Ob das allerorten bekannte Parma, die geheimnisvollen Gärten der Bomarzo, Tarqunia oder Ostia vor den Toren der Ewigen Stadt – dieser Bildband mit seinen eindrucksvollen Bildern hält das Versprechen dem Charme von sechzig Städten auf den Grund zu gehen. Das Tal der Tempel bei Agrigent, selbst das pulsierende Palermo, aber auch das im Schatten Mailands stehende Pavia hübschen sich auf, um sich von ihrer besten, aber auch ihrer geheimnisvollen Seit zu zeigen.

Der lebende Berg

Schon Hannibal Lector wusste, dass wir das am meisten begehren, was wir täglich sehen. So muss es auch Nan Shepherd ergangen sein. Sie sah Zeit ihres Lebens die Cairngorms vor sich. Diese Erhebungen im Nordosten Schottlands faszinierten sie. Sie reiste viel, von Norwegen bis Südafrika. Doch zu rück in der Heimat wusste sie, dass nur diese Berge ihr Glück bedeuten können.

In der Mitte der Vierzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts begann sie ihre Erlebnisse am, im und rund um die Cairngorms aufzuschreiben. Behielt sie aber drei Jahrzehnte in der Schublade. Nun sind sie in einer wunderbar gestalteten Neuauflage nachzulesen, zu bewundern und machen Lust auf Wandern. Auch diejenigen, denen das Auf und Ab nicht unbedingte Zuneigung abfordern, werden eingestehen, dass Nan Shepherds Worte Spuren hinterlassen.

Ihr Drang sich diesem Berg zu nähern, ihm seine Geheimnisse zu entlocken, ist atemberaubend. Kein Souvenirladen an den Hängen wird, kein Reiseguide wird mehr über diese Landschaft erzählen als die Englisch-Dozentin vom Aberdeen College of Education. Ob wolkenverhangene Gipfel, das glasklare Wasser, das duftende Moos, die gespenstischen Skelette der Bäume, die einzigartigen Aussichten … Nan Shepherd zieht mit ihren klaren Worten den Leser sofort in ihren Bann.

Man muss wirklich kein Wandervogel sein, um beim Blättern und Lesen ins Schwärmen zu geraten. So eindringlich wurde selten zuvor eine Landschaft beschrieben. Man will umgehend sich Wanderschuhe zulegen, die Koffer packen und auf ihren Spuren wandeln. Flora und Fauna kennt man ja bereits aus den zwölf Kapiteln. Und dennoch wird man sicher das eine oder andere entdecken, dass Nan Shepherd vors Auge kam. Denn die Region hat sich verändert.

Als sie zum ersten Mal das Gebirge erkundete, war sie fast allein. Als sie sich entschloss ihre Gedanken zu veröffentlichen, gab es Straßen, Hütten, zarte Anfänge einer Tourismuslogistik. Wie oft Nan Shepherd hier oben war, lässt sich nicht einwandfrei nachvollziehen. Es müssen Hunderte, wenn nicht Tausende Wanderungen gewesen sein. Wo andere ihren Namen ins Gehölz schnitzen, um Nachkommenden ihre Anwesenheit aufzudrängen, schweigt die Autorin. Sie wird das hinterlassen, was wirklich wichtig ist: Den Berg in all seinen Facetten. Sie isst, was ihren Weg kreuzt. Sie trinkt das frische Wasser, dass kaum ein paar Meter zuvor dem Berg entsprungen ist. Sie wandert trittsicher, wo andere ins Stocken kommen. Und sie berichtet so treffsicher wie Robin Hoods Pfeil im Ziel steckt. Ein Klassiker, der niemals seine Kraft verlieren wird!

Wilderer

So romantisch die Vorstellungen von Alabama sind, so roh und unnachgiebig sind die Leute in diesen zehn Kurzgeschichten von Tom Franklin. Schon die erste Geschichte – in der der Autor von seiner Leidenschaft zum Jagen erzählt, wie ihn sein Vater richtig hart rannahm, um richtig zu jagen, und jedweden Fehltritt mit einem Griff am Schlafittchen bestrafte – führt in eine Welt, die rau ist, kein Erbarmen kennt.

In dieser Welt lebt auch Glen. Er ist Geschäftsführer in einem Steinbruch. Die Schulden bei einem seiner Arbeiter plage ihn erst als er Roy (dem er einen ordentlichen Batzen Geld schuldet) entlassen soll. Roy ist ganz gelassen, er weiß schon, dass er fliegen soll. Und er hat auch schon einen Plan, Baby. Er dreht den Spieß um. Schon bald arbeitet Glen für ihn. Seine „Freundin“ Jalalieh, wird auch schon bald mitmischen. Nicht ganz freiwillig wie sie Glen in einem schwachen Moment mitteilt. Doch Glen ist noch nicht genug am Boden, um sich zu wehren. Das passiert erst, als Snakebite, einer anderer Angestellter und Zahnrad im Gefüge von Roys „Geschäft“ Glen droht seine Fähigkeiten auf dem chirurgischen Sektor angedeihen zu lassen. Ein weidwundes Tier ist schwer zu kontrollieren.

Hier ist man immer auf der Jagd. Katzen, Rotwild, Gürteltiere, Menschen. Egal. Das Messer ist immer griffbereit, im Stiefelschaft, am Gürtel oder an der Wand gleichen neben den Kaffeetassen. Alles Fremde bleibt fremd. Der Staub ist die einzige Konstante im arglosen Leben. Grasbüschel, leere Bierdosen, Billard, Dieselgestank – von Romantik keine Spur. Schon gar nicht die eines Truman Capote oder einer Harper Lee, die beide in Alabama geboren wurden.

Tom Franklins Geschichten sind roh und poetisch zugleich. Die Kompromisslosigkeit, mit der seine Akteure handeln, ringt einem schon einen gewissen Respekt ab. Political correctness ist ebenso verabscheuenswert wie die Regeln des guten Benehmens. Gottes Regeln sind noch akzeptabel, sofern sie das eigene Leben nicht unnötig belasten. Voodoo ist nützlicher als das Hallelujah, und das obwohl die Straßennamen nach christlichen Heiligen benannt sind.