Unter der Sonne von Saint-Tropez

Wie fest gemauert steckt die Tricolore im provenzalischen Boden. Ernest Charmasson, der Bürgermeister von Ardinoschou hält seine schwungvolle nachdem die Tonanlage kurz ausfiel. So was mag er ganz und gar nicht. Und als er sich dem Höhepunkt seiner Rede nähert, die Kinder immer wilder um den Platz herumtollen, gerät die Fahne ins Schwanken. Niemand mehr hört dem Maire zu. Incroyable! Unglaublich! Alle wenden sich dem Fahnenträger zu. Der ist zusammengebrochen, die Augen geschlossen liegt er im Staub des Dorfplatzes. Unerschütterlich brennt die Sonne auf die Häupter der Anwesenden.

Das war ja klar! Jérôme Laskar, der Dorfpolizist, hat wohl beim Umtrunk beim Bürgermeister – vor dessen Rede, vor dem Festakt – zu tief in eines der zu vielen Gläser geschaut. Und da haben wir die Bescherung! Sturzbetrunken liegt er im Dreck der Schande, neben ihm die ruhmvolle Fahne. Un scandale!

Jérôme Laskar ist wirklich die ärmste Sau im Dorf. Seine Frau Colette spricht kein Wort mehr mit ihm, seit zwei Jahren! Und der Bürgermeister würde am liebsten den Polizisten aus dem Amt und gleich noch aus dem Dorf jagen. Jérôme ist sicherlich nicht der hellste Zapfen an der Pinie, dennoch ist er ein rührender Polizist, der jeder Arbeit oft mit überbordendem Pflichtbewusstsein annimmt. Noch bevor ein Bobonpapier zu Boden fällt, fängt er es auf und trägt es stolz zum nächsten Abfalleimer. So einer ist Jérôme Laskar.

Nun will es der Zufall, dass vor einem großen Pétanque-Turnier einige Spielgeräte verschwinden. Sie wurden gestohlen. Das ist die Chance für den Dorfpolizisten sich zu bewähren und zu beweisen, dass er zurecht an Ort und Stelle ist – vielleicht gibt man ihm ja sogar seine Dienstwaffe zurück?! Am nächsten Tag werden wieder Pétanque-Bälle gestohlen, zwei Tage später wieder. Schon bald will Jérôme den Täter kennen. Doch niemand glaubt den überschnellen Ermittlungsergebnissen. Vielmehr belächelt man dessen sprudelnder Quelle. Auch Charmasson schickt ihn einmal mehr lieber ins Café um dem Dorftratsch zu frönen als ihm weitere Ermittlungen zu überlassen. Doch Jérôme hat der Ehrgeiz gepackt…

Benito Wogatzki wollte eine Trilogie schaffen, in dessen Mittelpunkt immer ein Polizist steht, der durch ein Fanal aus seiner Lethargie gerissen wird. Es blieb bei dieser einen Geschichte, Wogatzki starb bevor er die Skizzen zu den weiteren Romanen in Romane verwandeln konnte. Dieser eine Roman zeigt eindrucksvoll welch großer Verlust dem Leser entgangen ist. Voller Empathie und feinsinnigem Humor beschreibt der Autor die Tristesse eines Mannes, der nicht viel vom Leben erwartet. Jérôme Laskar ist zufrieden, merkt jedoch (zu spät?), dass er als Lachnummer herhalten muss. Er könnte sich vergraben, schmollen, die Welt zum Teufel wünschen … doch er kämpft, macht seine Arbeit. Und erntet Applaus.

Sardinien

Ein beliebter Witz unter Sardinien-Urlaubern: Was ist das wichtigste an Sardinien? Das zweite I! Sonst wäre man in einer von Öl durchdrängten Dose unterwegs, und das ist will wirklich keiner. So was nennt man Schiffsverkehr.

Nachdem die Plattitüden also geklärt sind, kann man sich diesem mehr als brauchbaren Reiseband widmen. Sardinien hat ein nicht ganz greifbares Image. Auf der einen Seite das maßlos überteuerte Costa-Smeralda-Milliardärs-Gehabe, auf der anderen Seite die Ursprünglichkeit einer wahrhaft wilden Landschaft. Hier kommt das Fleisch noch als ganzes Tier auf den Tisch. Hier kann man von karg bewachsenen Hügeln meilenweit bis auf s Meer hinausschauen. Hier kommen erfahrene Autofahrer schon mal an die Grenzen der Mobilität. Ach, und ja, das Wetter ist naturgemäß eine Wucht. Sonne satt, ein laues Lüftchen und oben in den Bergen ab fortgeschrittener Stunde schon mal kühler als man es im Mittelmeerraum vermuten mag. Also alles klar: Auf nach Sardinien.

Gut gerüstet ist man auf alle Fälle mit diesem Buch. Fast siebenhundert Seiten. Wer da nichts findet, der wird Sardinien auch nicht erkunden wollen. Wer sich aber für Sardinien entschieden hat, aber noch nicht weiß, wo er sich für die Urlaubszeit ansiedeln möchte, was er alles erleben kann, dem sei empfohlen einfach mal im Buch nachzublättern. Irgendeine Seite aufschlagen. So liest man dann wahrscheinlich zum allerersten Mal von Castelsardo. Schon beim Namen weiß man genau, wo man ist und was es wohl zu sehen gibt. Und ohne den Begriff Folklore episch zu dehnen, gibt’s obendrauf gleich noch das, was man unbedingt sehen muss. Und vielleicht auch gleich eine Anregung für ein unvergleichliches Souvenir. Ein Korbflechter zeigt geduldig sein Geschick. Doch zurück zum Ort Castelsardo. Auf der Karte auf der letzten Umschlagseite sieht man die Nähe zum Meer im Norden der Insel. Die Genueser Familie Doria baute hier eine Festung, die später von den Spaniern genutzt wurde. Wer Geschichte sucht, kann schon mal das Häkchen an der richtigen Stelle machen. Kein Strand und trotzdem Meer – kein Widerspruch und schon gar nicht ein Grund dem Sechstausend-Seelen-Örtchen den Besuch zu verweigern. Der bevorstehende beginnt schon mit dem zweiten Absatz des Kapitels. In dem wird glasklar beschrieben wie man sich dem Ort nähert und wo man – wenn nötig – sein Auto parkt. Denn das centro storico, die Altstadt, ist autorfrei. So muss Urlaub sein! Oder?! Wenn man frei in der Wahl der Urlaubszeit ist, empfiehlt sich ein Besuch des Ortes vom Montag vor Ostern. Festa Lu Lunissanti heißt das Spektakel. Eine Prozession mit einem Christuskreuz (Cristu Nieddu – schwarzer Christus), dem ältesten der Insel, das binnen einer Stunde an den Stadtrand getragen wird. Und das unter mittelalterlichen Gesängen und in Gewändern, die einem schon mal das Blut in den Adern gefrieren lassen können.

Wenn allein schon derart viel Detailverliebtheit zu einem vergleichsweise kleinen Ort begegnet, kann man sich leicht ausrechnen, was Peter Höh, dem Autor dieses Reisebandes in Orten wie Cagliari, der Hauptstadt der Insel, begegnet ist. Ein schier unergründlicher Wissensschatz, der einen Zwei-Wochen-Urlaub wie im Flug vergehen lässt. Jeder Ausflug ist so exakt beschrieben, dass man sich gar nicht verlaufen kann. Und wenn doch, dann genießt man einfach die Eindrücke. Man wird schon wieder auf den rechten Pfad zurückkehren und dann ist man einmal mehr mit diesem Buch bestens ausgestattet. Von versteckten Stränden (gibt’s wirklich) über frei zugängliche Grotten bis hin den Orten, die man einfach gesehen haben muss, versammelt sich der gesamte Schatz der Insel in diesem Buch. Man muss nur aufpassen, dass man vor lauter Staunen beim Lesen nicht das echte Sardinien verpasst. Es wäre eine Schande das leckerste Kaninchen der Welt zu verpassen, auch wegen der besonderen Zubereitungs- und Darbietungsweise.

Landlust Kalender 2022

Nun sind wir alle durch die Pandemie zu einem anderen – neuen – Lebensstil bzw. –ablauf gezwungen worden. Viele lernten sich einmal mit sich selbst zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Andere suchten und fanden neue Hobbies. Ein nicht geringer Teil nutzte die gewonnene Zeit sich auf die eigenen Wurzeln zurückzubesinnen, das Einfache schätzen zu lernen. Der optische Reiz, den man täglich kaum noch wahrnahm, verstärkte sich erst wieder als der Aktionsradius sich langsam wieder ausdehnte.

Das Jahr 2022 wird hoffentlich das Jahr, in dem der Aktionsradius wieder Ausmaße annehmen wird, die uns allen als „normal“ erscheinen. Als kleiner Appetitanreger kann man sich jetzt schon auf den 1. Januar 2022 freuen. Die Völlerei liegt hinter uns, das aufregende Jahr noch genauso lange vor uns. Dann darf man wieder tief einatmen und vor allem stark auspusten. Das entspannt. Und man darf sich auf das freuen, was es (wieder) zu entdecken gibt. Die ersten zarten Triebe an Bäumen und Sträuchern. Eisgebilde an Ästen und Zweigen. Zerbrechliche Blüten an zierlichen Pflanzen. Es wird zeit sich die Natur zurückzuerobern, sie sich in die eigenen vier Wände zu holen. Und in freier Wildbahn der Fauna fröhlich zuzuwinken. Wenn im späten Frühjahr, im frühen Sommer die Blüten überbordend ihren Farbspeicher leeren und knallbunt die Sinne erfreuen, ist es bald schon soweit, dass der Herbst mit der Kraft der letzten Sonnenstrahlen sich gegen die einbrechende Kühle mit Vielfalt entgegenstemmt. Das Winterfell wird rausgekramt. Mutter Natur hüllt sich ein ums andere Mal in wohlige Formen. Sieht so das Jahr 2022 aus?

Ja! Und dieser Kalender beweist jeden Monat aufs Neue.

Das großformatige Wandgemälde in zwölf Variationen lässt keinen Zweifel offen, dass Großes bevorsteht. Im Wechsel der Jahreszeiten verschönert der Kalender den Raum, beflügelt die Phantasie, erfreut das Auge, macht Lust auf Land und Leute. Egal wo. Egal wann. Hauptsache endlich wieder Lust!

The blacker the berry

Als Anfang der 90er Stevie Nicks Album „Timespace“ erschien verzauberte das Ex-Mitglied von Fleetwood Mac den Hörer mit den Zeilen: „I cried a river of tears from the pain
I try to dance with what life has to hand me
My partner’s bring pleasure…my partner’s bring pain”

Ein reichliches halbes Jahrhundert zuvor erschien Wallace Thurmans “The blacker the berry”, ein Klassiker der Harlem Renaissance, der nun erstmals auf Deutsch erschienen ist. Obwohl viel später ersonnen, klingen die Zeilen der Flower-Power-Ikone wie Guardian-lines für das Leben von Emma Lou, der Protagonistin des Romans.

Irgendwo in Idaho, dem Gem State, Edelsteinstaat, ist sie aufgewachsen. Als in ihren Augen einzige Schwarze. Und sie ist nicht einfach nur schwarz. Sie ist purpurschwarz, tiefschwarz. Als einzige in der Familie. Das hat sie von ihrem Papa. Und sie hasst es. Auch am College in Los Angeles fällt sie auf. Selbst unter Schwarzen. Dennoch findet sie hier die große Liebe, wie sie meint. Doch es wird „nur“ die erste Liebe sein. Das Ausgegrenzt sein, das sie aus Idaho kennt, setzt sich in Kalifornien fort. Als sie Ende der 1920er Jahre nach Harlem kommt, hofft sie das Paradies vorzufinden. Hier ist sie Schwarze unter Schwarzen. Kein Tuscheln hinter ihrem Rücken, kein peinliches Gaffen mehr. Harlem! Doch es kommt ganz anders!

Denn auch Harlem ist weit entfernt von ihrer Vorstellung vom Paradies. Sie findet zwar eine Anstellung, die es ihr erlaubt das Leben zu genießen – die nostalgische Vorstellung vom wilden Nightlife bedient Wallace Thurman vortrefflich – dennoch wird Emma Lou sich permanent ihrer schwarzen Hautfarbe bewusst. Sobald sich zwischen ihr und einer anderen – schwarzen – entschieden werden muss, zieht Emma Lou den Kürzeren. Sie zweifelt an sich und verzweifelt an ihrer Farbe. Das Schwarz in ein „gewünschteres“ yeller, also ein helleres Schwarz, zu verwandeln misslingt ein ums andere Mal. Will sie etwas ändern, muss sie mutig werden. Will sie siegen, muss sie Verluste einstecken…

Wallace Thurman war als Mitgründer der Zeitschrift Fire!! grundlegender Teil der Harlem Renaissance. Harlem und seine Mitbewohner, und deswegen vor allem Mitgestalter, sind das Spiegelbild einer Gesellschaft, die sich (immer noch) schwer tut Menschen mit anderer Hautfarbe ohne jegliches Vorurteil zu begegnen. So wie Emma Lou. Sie macht ihrer Arbeit, mit ebenso so vielen Fehlern wie alle anderen auch. Doch es ist einzig allein ihre Hautfarbe, die sie am Aufstieg hindert. Und das sogar mitten in Harlem.

Con gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht

Was wollen wir heute essen? Spaghetti!, tönt es keine Sekunde abwartend aus Dutzenden von Kindermündern. Das kennt wohl jeder. Steht irgendwie im Widerspruch zum Klappentext dieses Buches, in dem Autor Dieter Richter ein anderes Bild vom Image der italienischen Küche zeichnet. Ungenießbar. Gesundheitsschädlich. Diese Aussagen hat er sich nicht ausgedacht. Und schon gar nicht meint er sie ernst. Es gab tatsächlich mal eine Zeit – und das ist wirklich gar nicht so lange her – in der Pasta und Pizza als Reaktion auf „Was essen wir heute?“ Stirnrunzeln und verzogene Mundwinkel hervorrief. Das war die Zeit, in der man im Goggomobil oder Käfer nach Bella italia fuhr, um in der unerträglichen Hitze ein Eisbein zu bestellen. Zu viel Neues (des Guten) war dann eben doch zu viel.

Die Zeiten haben sich geändert. Pizza ist das Fastfood numero uno, weltweit! Und Pasta … ja, Pasta führt zu schon zu einem Aufschrei, wenn in der Fertigpackung klammheimlich der Parmesan aus der Packung entfernt wird.

Dieter Richter erzählt uns, den Lesern warum wir Italien so lieben. Denn Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Mit den Gastarbeitern kamen die Nudeln und die Teigtaschen über die Alpen. Erste trattorien entstanden. Und im Handumdrehen waren Braten und Klöße als Festschmaus von Spaghetti, Maccaroni und Pizza salame Verkaufsschlager und das Lieblingsessen freudig strahlender Gesichter jeden Alters. Bald schon hatte man seinen Lieblingsitaliener, den man duzte, der einem respektvoll mit dottore anredete.

Die Kolonisierung der Welt basiert auf der einfachen Küche. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnete in der neuen Welt die erste Pizzeria. Durch die Lieferdienste wurde die Eroberung der kulinarischen Welt manifestiert.

Mit Anekdoten und belegbaren wissenschaftlichen Thesen rückt Dieter Richter dem Mythos der cuicna italiana auf den Pelz. Tiefgründig erörtert er, warum wir so hoffnungslos Italien verfallen sind. Dabei bleibt er nüchtern, fast schon teilnahmslos, um jede Skepsis an seiner Analyse im Öl der Erkenntnis zu ertränken.

Treten Sie ein, der beste Platz im ristorante der Kulinarik ist bereits reserviert für den kundigen, neugierigen Italienliebhaber. Ein opulentes Wissensmahl wartet bereits. Das verträgt sich gut mit der dieta mediterranea, der bekömmlichsten aller Diäten.

Heiteres Wetter zur Hochzeit

Der schönste Tag des Lebens – von wegen! Dolly Thatcham lässt sich von Owen Bingham zur Frau nehmen. Das ist standesgemäß. Seit einem Monat kennen sich die beiden. Er wird bald in den diplomatischen Dienst in Übersee eintreten. Sie wird dann an seiner Seite stehen. Romantik ist was anderes.

Aber so sind nun mal die Zeiten. Und jeder der Beteiligten weiß, was hier gespielt wird. Es war schon immer so, es wird schon klappen. Umso wichtiger ist es jetzt, dass die Zeremonie perfekt ablaufen wird. Perfekt, nicht annähernd perfekt, sondern 100 Prozent. Jeder ist in heller Aufregung. Und wer es nicht ist, stichelt gegen jeden, der es ist. Da nervt der eine Bruder den anderen, weil ihm seine Socken nicht passen. Mama wird sehr böse sein. Doch das brüderliche Machtspielchen scheitert kläglich.

Ach ja, das Brautpaar. Ja … dem geht es so mittelprächtig. Man muss halt tun, was getan werden muss. Nach und nach trudeln die Gäste langsam ein. Unter ihnen auch Joseph. Er und Dolly waren einmal ein paar Wochen im Sommer ein Paar. Jetzt weiß es der Leser – jetzt kommt Schwung in die beschauliche Szenerie. Owen entdeckt plötzlich so was wie Gefühle – Machtansprüche träfe es wohl besser. Und Dolly? Was entdeckt Dolly? Ihre Liebe zu Rum. Flaschenabfüllung, natürlich. Wenn man schon dem puren Leben abschwören muss, dann so ordinär wie möglich. Was halt so in ihren Kreisen als ordinär gilt.

Joseph gerät zwischen die Fronten. Auf der einen Seite das behäbige Getue am großen Tag, an dem man unter seinesgleichen nur die Schokoladenseite zeigt. Auf der anderen Seite die Erinnerung der Ex an die schönen Zeiten. Doch wer jetzt denkt, dass alles im Chaos endet, gar ein Mord geschieht, der hat die Rechnung ohne die ironische Sanftheit in Julia Stracheys Schreibkunst gerechnet. Sie amüsiert sich über ihre Geschichte ohne dabei den Beteiligten die Würde zu nehmen. Fast meint sogar ein bisschen Bedauern in ihren Worten erkennen zu können. Denn Dolly und Owen und Joseph sind Produkte ihrer Zeit. Sie müssen so handeln wie sie es tun, in ihren Augen. Warum also nicht ein bisschen Schabernack mit ihnen treiben?

Lost & Dark Places Berlin

Eine Brotfabrik, ein Funkhaus und ein legendärer Flughafen – komm, lass uns Urlaub machen! Die in diesem Buch vorgestellten Ausflugsziele stehen nicht auf allzu vielen Wunschzetteln für einen erholsamen Urlaub. Was aber auf alle Fälle feststeht, ist, dass diese Expeditionen jedem Hobbyforscher einen Denkzettel verpassen. Corinna Urbach und Christine Volpert haben dreiunddreißig Orte in und um Berlin gefunden, die ihr Leben gelebt haben, die mittlerweile nicht nur sprichwörtlich ihr Dasein im Schatten fristen. Lost places, dark places nennt man solche verlassenen Orte, die ihre Pracht, ihren Sinn im Laufe der Jahre verloren haben. Hier gilt es Vorsicht walten zu lassen. Hier benimmt man sich wie es sich gehört: Achtsamkeit und Ehrfurcht vor der Geschichte stehen an oberster Stelle. Dafür wird man aber auch außergewöhnlich belohnt.

Der Zahn der Zeit, das Vergessen, der Unwillen zur Erhaltung oder ungeklärte Besitzverhältnisse haben so manchem Ort ein Schicksal in den eigenen Mauern beschieden. Oft sind diese Orte abgesperrt, weil die Holzböden morsch sind, die Statik nicht mehr überprüft wird und somit akute Einsturzgefahr besteht.

Auf der anderen Seite gibt es Orte, die eine dunkle Vergangenheit haben und nun als Mahnmal, niemals zu vergessender Ort der Nachwelt ihre Geschichte erzählen. So wie das Geheimobjekt 05/206. Klingt erstmal nicht besonders spektakulär. Doch der nichtssagende Name in Märkisch Oderland ist nicht mehr und nicht weniger als der Atombunker, der im Ernstfall einmal als Organisations- und Rechenzentrum für die Nationale Volksarmee hätte dienen sollen. Von außen eher unscheinbar, so sollte es ja auch sein, von innen immer noch in erstaunlich gutem Zustand. So dass heutzutage eineinhalbstündige Führungen stattfinden.

Die NS-Zeit ist zum Glück vorüber, die Folgen sind bis heute sichtbar. Aber nicht alles ist noch zu besichtigen. Dank dieses Buches und den darin enthaltenen Abbildungen kann man allerdings einen Blick darauf werfen. So wie in die Siedlung der SS-Leitung des KZ Ravensbrück. Nach dem Krieg eroberten die Sowjets das Gebiet und machten sich bis zu ihrem Abzug Anfang der 90er Jahre sich hier breit. Seit rund einem Jahrzehnt kann man in einzelnen Gebäuden wieder Ausstellungen zur besonderen Geschichte besichtigen.

Auf eigene Faust in abbruchreife Häuser einsteigen, ist ein wahrlich gruseliges Abenteuer. Sollte man unterlassen, da man sich mindestens des Landfriedensbruchs strafbar machen kann. Wer sich dabei die Taschen füllt, ist ein Dieb. Ganz davon abgesehen, dass man sich selbst in Gefahr bringt. Die beiden Autorinnen stellen Orte vor, die Geschichte machten, die man besichtigen darf, aber auch Orte, die der Öffentlichkeit verschlossen bleiben. Nichts desto trotz machen diese Orte Lust auf erlebbare Geschichte. Und dort, wo man nicht rein darf, ist dieses Buch mehr als ein Trostpflaster. Was immer noch besser ist als ein echtes Pflaster auf blutigem Körper…

Partytime

Wird heutzutage von Party gesprochen, hat man in Sekundenschnelle ein Bild von einer grölenden Menge vor Augen, die mit einer überzuckerten Limo in Dosen die Hände gen Gebäudedecke recken und sich gegenseitig unverständliche Laute zugrunzt. Die Zeiten haben sich geändert.

Als es das letzte Mal hieß Party in den 20ern, war man da etwas verhaltener. So wie in der ersten Geschichte dieser Party-Geschichten-Sammlung von F. Scott Fitzgerald. Rags Martin Jones kehrt mit einem Ozeanriesen aus der alten Welt ins wunderbar moderne New York zurück. Die Presse lauert auf ein gestelltes Winken und den neuesten Tratsch, die neueste Mode aus Paris an den Körpern der gutbetuchten (und das ist wohl mehrdeutig gemeint) Passagiere, die die Gangway herunterschreiten. Nur Rags wird nicht erwartet. Ihre Familie ertrank in der eisigen Flut als vor Jahren die Titanic im Kampf mit einem Eisberg kläglich versagte. John Chestnut ist der einzige, der die Millionenerbin erwartet. Rags ist das nun gar nicht recht, obwohl sie ihn um den Empfang bat. So ist sie halt: Jung, unabhängig in jeder Hinsicht und ein vergnügungssüchtiges junges Ding. Das Geplänkel im Hafen ist für sie mehr Erheiterung als für ihn ein Liebesbeweis. Denn John ist bis über beide Ohren in Rags verknallt. Als sie ihm eröffnet, dass sie den Abend nicht mit ihm verbringen möchte, zieht er einen letzten großen Trumpf aus dem schicken Ärmel. Ob sie nicht den Prince of Wales kennenlernen möchte? What? DEN Prince of Wales?! Sure! J sieht sich schon auf der Zielgeraden seines größten Triumphes. Doch der Abend wird anders enden, als er, als sie, als die Partygäste, inkl. „Prince“ es sich vorgestellt hatten. Uneingeladene Gäste sind als Partycrasher einmal mehr Spielverderber, denen man nur mit Witz und Chuzpe ein Schnippchen schlagen kann.

Ob Bernice ihrer Umgebung ein Schnippchen schlagen will, kann man nicht abschließend sagen. Ihr ist klar, dass sie als Partygängerin auffallen muss. Das hat sich wohl bis heute nicht verändert. Wenn es noch einen Beweis für die Nachhaltigkeit der Worte von F. Scott Fitzgerald benötigt hätte, bitte sehr! Hier ist er! Ein Bubikopf verleiht ihr etwas rebellisches. Zumindest ist sie dieser Meinung. Die vorhergehende Generation sieht das natürlich ganz anders. Ihre Freunde finden es radikal und einen mutigen Schritt hin zur Selbstständigkeit.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Lektüre über Parties – seien es ausgelassene Teenagergelage oder eine lässige Zusammenkunft von stresserprobten Neueltern, die ihrem Nachwuchs auch mal das gewisse Party-Erlebnis gönnen – liest sich immer ein Blick durchs Schlüsselloch. Wer ist da? Wie benimmt man sich? Was hat er / sie nun schon wieder am Körper oder dabei? F. Scott Fitzgerald bemüht sich nicht den gesellschaftlichen Konventionen den Witz entlocken, er amüsiert sich in Anwesenheit der Gäste und der Leser köstlich über das kontrollierte Ausgelassensein, das mehr Schaulaufen ist als echte Lebensfreude.

100 Highlights Jakobswege in Spanien und Portugal

Die Berichte über den Jakobsweg haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. War anfangs „nur“ von dem Jakobsweg die Rede, hat man sich mittlerweile eines Besseren belehrt und spricht – was der Wahrheit entspricht von den Jakobswegen. Wobei keineswegs ein Nachmittagsbummel durch die Gemeinde mit einem Abstecher in den Jakobsweg gemeint ist.

Dieses Buch verdient im Berg der Bücher über den Weg der Wege eine besondere Erwähnung. Zum Einen geht es um den einen Weg nach Santiago de Compostela und wie man über die klassische Route von Frankreich aus kommend in Spanien, die Traumroute am Meer, den ältesten Weg oder die Pfade in Portugal wandert. Zum Anderen besticht dieses Buch durch die eindrücklichen Bilder und verführt durch die appetitanregenden Zeilen von Grit Schwarzenburg und Stefanie Bisping. Stefanie Bisping ist Reiseberichtlesern wohl bekannt. Bei der Wahl zur Reisejournalistin des Jahres landet sie regelmäßig in den Top Ten, 2020 als Gewinnerin, im Jahr darauf auf dem zweiten Platz. Von der Antarktis bis Rio, von den Virgin Islands bis Australien, von Russland bis Bali ist ihr keine Destination fremd. Sie macht ihr Reiseziele und –routen zur ihrer Sache.

Einhundert Mal machen die beiden Halt. Einhundert Mal machen die beiden ihrem Erstaunen mit unvergleichlicher Empathie Luft und dem Leser Lust. Einhundert Mal Rührung, Staunen, (Be-) Wundern, Innehalten, Schwelgen, sich lukullischen Genüssen hingeben. Jedem einzelnen der beschriebenen einhundert Orte entlocken sie seinen eigenen ganz besonderen Reiz. Es wird nicht langweilig beim Durchblättern und Lesen in diesem Prachtband.

Ob nun das einst arg gebeutelte Guernica, eine Flasche asturischer Apfelmost in Sidreria, das niemals alternde Salamanca oder Federvieh wohin man schaut, wenn man sich in Barcelos umschaut (kein Schreibfehler, es ist nicht Barcelona gemeint).

Wer hier wandert, weil es andere vor einem ja auch geschafft haben, und weil es momentan irgendwie trendy ist hier zu wandern, kommt Seite für Seite zu der Erkenntnis, dass man sehr wohl hier wandern kann, weil es andere auch tun. Gleichermaßen muss man sich eingestehen, dass der Antrieb dies zu tun ein Irrweg ist. Hier wandert man, um mit allen Sinnen zu genießen. Und so erlebt man auch dieses Buch. Mit unstillbarer Vorfreude blättert man hoffnungsvoll durch die Seiten und man weiß, dass da schon das nächste Abenteuer wartet.

Barroco tropical

Alles Gute kommt von Oben! Von wegen. Fragt man Bartolomeu Falcato, was er von dieser These hält, erntet man mehr als nur ein geringschätziges, viel mehr Wissen verheißendes Lächeln. Wenn man nicht sogar ausgelacht wird. Denn ihm ist etwas vor die Füße gefallen. Von Oben! Eine Frau. Was für Viele auf den ersten Blick wie eine Wunschvorstellung klingt, ist für ihn das Fanal für eine Odyssee, die vierundzwanzig Stunden anhalten soll. Dass er dabei in die tiefsten Abgründe seiner Stadt Luanda, der Hauptstadt Angolas, abtauchen wird, ist ihm zu Beginn noch nicht klar. Aber er hat eine Ahnung…

Die Tote hatte er ein paar Tage zuvor kennengelernt. Im Flugzeug. Núbia ist, war, ihr Name. Sie erkannte Bartolomeu, den Schriftsteller. Und sie machte ihm Avancen. Es war wie ihm Traum. Doch der Realist Bartolomeu blieb standhaft. Oder war er nur peinlich berührt? Nun sieht er im Fernsehen die Frau schon zum dritten Mal (Flieger, Straße, TV). Und er erinnert sich. Núbia berichtete ihm ganz freimütig, dass sie einst in höchsten Kreisen verkehrte. Verkehrte in jeder Hinsicht. Höchste Kreise, jawohl, bis hinauf zum Präsidenten. Das Telefonklingeln reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Raus hier! Weg da! Hau ab! Es klingt wie ein Befehl, wie ein Flehen, wie ein gut gemeinter Rat. Na, was soll man davon nun halten?! Und was macht Bartolomeu Falcato, Schriftsteller, Dokumentarfilmer, auf so mancher Todesliste Stehender? Er lässt die Zeit Revue passieren.

Es erzählt von geheimnisvollen Zentren für nichttraditionelle Medizin, unsagbaren, unter dem Deckmantel obskurer Rituale stattfindenden Folterungen und von zufälligen Begegnungen, die wie ein Spinnennetz allesamt miteinander verbunden sind. Die kleinen Regentropfen darin sind flüchtige Schicksale einzelner Beteiligter, die schlussendlich eine andere – manchmal größere – Rolle spielen als man anfangs denkt.

Es ist erstaunlich wie schnell José Eduardo Agualusa den Leser in diesem Spinnennetz gefangen nimmt. Nach der über dreihundert Seiten dauernden Welle des Erstaunens ist man verdutzt wie leicht es dem Autor gelingt die Welt um sich herum zu vergessen. Ohne Abzusetzen liest man sich in einen Rausch, der nur eine Nebenwirkung hat: Ein glückliches Lächeln, das man diesem Autor bei der Arbeit zusehen durfte.

José Eduardo Agualusa nimmt eine Ausnahmestellung unter den Autoren Afrikas ein. Seiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. So real die Geschichte wirkt, so viel Fiktion birgt sie in sich. Und das obwohl einiges in „Barroco tropical“ dem echten Leben entlehnt ist, wie er im Nachwort zu bedenken gibt.