Caffè d’Italia – Kalender 2022

Das italienische Lebensgefühl ist nur ein Viertelquadratmeter groß. Klingt erstmal nicht viel, ist aber bei genauer Betrachtung genau das richtige Maß. Fünfzig mal fünfzig Zentimeter ergeben nun mal nur den erwähnten Viertelquadratmeter, was aber schlussendlich nur eine mathematische Fingerübung darstellt. Und beim Lebensgefühl, besonders beim dolce vita geht es nun wahrlich nicht um Zahlen, Fakten und Regeln. Vivere il momento – Leb den Augenblick! Der Augenblick beim Betrachten dieses Kalenders dauert so ungefähr … ein Jahr.

Und so betritt man eine Welt, die jedem offen steht. Die man aber so nur selten zu sehen bekommt. Denn die Fotografien von Toni Anzenberger und Christina Anzenberger-Fink geben dem Alltäglichen den besonderen Anstrich. Es ist ein reduzierter Anstrich. Schwarz-Weiß in all seinen Abstufungen. Was auf Anhieb auffällt: Wer am oder hinterm Tresen steht, lächelt. Da muss wohl was im Getränk sein, dass die Mundwinkel gen Himmel ziehen lässt?! Oder ist es das Ambiente?

Denn das erzählt nicht nur von der „guten alten Zeit“ – es bewahrt sie bis ins Jetzt und Heute. Milano, Roma, Padova, Montepulciano – schon bei der bloßen Erwähnung dieser klangvollen Orte schlägt das Herz eines jeden Italienfans höher. Auch der Gedanke einen echten italienischen Kaffee, sprich Espresso an der Bar genießen zu können, lebt die Sehnsucht nach bella italia schlagartig auf. Selbst eingefleischte Teetrinker werden hier zum Caffenista. Diese Kaffeehäuser muss man sehen.

Jetzt holt man sie sich für ein weiteres Jahr ins Haus. Das Großformat macht es unmöglich sie zu übersehen. Und so manches Mal wird man nicht einfach daran vorbeigehen, sondern innehalten. Vor Ort tritt man einfach über die Schwelle und schreitet in eine andere – sorgenfreie – Welt. Daheim, mit diesem Kalender an der Wand erhält man Einblicke, die man in Torino, Trieste oder Ascoli Piceno suchen muss. Für den Kalender haben diese Suche das Künstlerpaar übernommen. Nur hier gibt es – formatbedingt – den größten Café der Welt.

Sich Italien ins Haus zu holen, beginnt nicht im Vorratsschrank. Es beginnt bei der Einstellung das Wagnis einzugehen. Im eleganten Duotone wird jeder Augenschluck zu einem Augenschmaus und erhöht den Augenblick. 2022 soll nicht noch einmal ein pandemiebedingtes Urlaubsausfalljahr werden. Sollten die Zeichen jedoch wieder auf Homecouching stehen, dann ist dieser Kalender eine Alternative, die zwar die Sehnsucht schürt, aber im Gegenzug auch das Italiengefühl gleichwertig nach Hause holt.

Das Wunder von Runxendorf

Es ist eine trostlose Zeit in den 70ern. Gerald träumt von einem Moped, einem Mädchen und einer Timex. Das ist alles, was er braucht. Doch alles, was er hat, sind seine Zigaretten, die er sich cool anzündet, eine emotionslose Mutter und einen Vater, der einen Plan hat wie er der saarländischen Dorfgemeinschaft ein Staunen abringen kann. Mit einem Partykeller. So kurz vor der WM, 1974, ist das sicher ’ne dufte Sache. Mit Farbfernseher! Wenn schon denn schon. Zur Einweihung gibt’s Schnittchen und Kartoffelsalat. Und Bier, und Mariacron. Steffi, Geralds Schwester soll die Herren der Nachbarschaft bedienen. Dass die dem jungen Mädchen öfter mal an die Wäsche gehen, stört weder Bruder noch Vater sonderlich. Ist ja nur ein Mädchen.

Die Fußballabende enden nicht selten mit einem ordentlichen Kater. Auch für Gerald. Zum Glück lässt man ihn lange schlafen. Doch eines Tages ändert sich alles für Gerald. Der Vater, ein ehemaliger Bergmann, lässt den Sohn an sich ran. Gibt ihm Geld, macht ihm Mut sich mal an ein Mädchen ranzumachen. Allerdings hat die Sache einen Haken. Vater Müller möchte von der Jugendlichkeit, der Unbekümmertheit auch profitieren. Wenn der Junior ein Mädchen mal mitbringen könnte. Während er und seine Kumpane im Partykeller mal wieder Fußball schauen. Dann ist der Weg zum ersehnten Moped nicht mehr weit…

Ein perfides Spiel beginnt. Gerald wird mit den Ritualen der Alten vertraut gemacht. Ewald Müller nimmt seinen Filius des Nachts mit auf … die Jagd. Ein Kalb soll dran glauben. Mit Hammer und Meißel. Gerald traut seinen Augen nicht. Nimmt’s aber stoisch hin. Einmal mit dem Alten was machen – kann ja nicht schaden. Auch als eines der Fußballspiele vorbei ist, das „Mitbringsel“ von Gerald ausgeweidet auf dem Partytisch liegt, schlagen bei ihm noch lange nicht die Alarmglocken an.

Michael Wäser ist der Sensenmann für die piefige Dorfidylle der 70er Jahre. Mit einem Hieb versetzt er der Szenerie einen Schlag, den sie nicht überleben wird. Und das im doppelten Wortsinn. Mit gezielt gesetzten Worten charakterisiert eine Gruppe von Menschen, die jeglicher Illusion auf ein besseres Leben den Rücken zugekehrt haben. Animalische Triebe und profanes männliches Klischeedenken unterdrücken jedes Gefühl von Empathie. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund. Wer was hat, muss es teilen. Und für jeden Gefallen wird postwendend der Gegengefallen eingefordert.

Die Mordserie bildet den Rahmen für diese Gesellschaftsstudie, die sich ebenso jeder Untersuchung verweigert wie dem erhobenen Zeigefinger. Der Erzähler steht mitten im Geschehen. Seine unverblümte, ungeschönte Ausdrucksweise zieht ab der ersten Zeile den Leser in eine Welt, die es so – hoffentlich – nicht mehr gibt. Sie anzuschauen, jagt einem Schauer über den Rücken. Sie zu lesen, ist ein echtes Erlebnis.

Berlin – Moskau, Eine Reise zu Fuß

Der Titel hält. Was er verspricht: Eine Reise von Berlin nach Moskau. ABER: Nicht mit dem Auto, Flugzeug oder Zug, sondern per pedes, zu Fuß. Gibt man die Strecke ohne irgendwelche Haltepunkte heutzutage in sein Navi ein, ergibt sich eine Strecke von 1774 km, die man in 15 Tagen schafft. Zu Fuß! Das wären 120 Kilometer pro Tag und fünf Kilometer pro Stunde. Ohne Schlaf, ohne rast, ohne Begegnungen. Da hat an hinterher … nichts zu erzählen.

Wolfgang Büscher will aber erzählen. In einer Nacht im Jahr 2001 zieht er die Wohnungstür hinter sich zu und läuft der Sonne entgegen. Am Stadtrand der Hauptstadt liegt eine tote Maus. Im ersten Ort nach der Stadtgrenze kauft er Nähzeug, braucht nur die Schere, um Pflaster zuzuschneiden. Denn rechts wird der Schuh immer drücken, bis Moskau.

Je näher er am Ausgangspunkt ist desto ferner sind ihm die Menschen. Je mehr er sich vom vertrauten Zuhause entfernt, desto tiefer taucht er in ihr Leben ein.

Die Karte am Anfang des Buches sieht auf den ersten Blick wie eine moderne Karte mit historischem Weg aus. Immer gerade aus. Berlin – Seelow – Oborniki – Torun – Białystok – Grodno – Minsk – Smolensk – Moskau. Eine Vierteljahr wird er die Last auf seinen Schultern verfluchen. Drei Monate dem Großvater folgen, erinnern, mit ihm fühlen. Fast hundert Tage (Hallo Navi, Deine Prognose war mehr als optimistisch!) immer wieder Menschen begegnen, die ihm warmherzig bis ablehnend entgegentreten, offen und misstrauisch seinem Vorhaben gegenüberstehen, ihn belächeln, bewundern, hinter seinem Rücken tuscheln. Vier Länder sind es „nur“, die durchquert. Noch mehr Kulturen, die ihn immer weiter wegholen von dem, was in seinem fünfzigjährigen Leben als „normal“ erlernt wurde.

Wolfgang Büscher lässt keinen Zweifel daran, dass er in Moskau ankommen wird. Die üblichen Zweifel, das aufkommende Heimweh – das jeder kennt, der in der Fremde seinem Forscherdrang nachgibt – sind essentieller Bestandteil seiner Route. Das Staunen über das gewagte Vorhaben lässt den Leser immer wieder umblättern, um zu schauen, was den Wandersmannautor als Nächstes vor die spitzgefederte Flinte kommt. Und man wird niemals enttäuscht.

Je weiter der Westen (nicht nur geographisch, sondern vor allem soziologisch) am Horizont verschwindet, je näher der Osten rückt, desto flüssiger wird Wolfgang Büschers Aufnahmebereitschaft. Die Assoziationen werden sind immer öfter im Hier und Jetzt verwurzelt als am Anfang seiner Reise. Und fast erscheint es als dass das Ziel Moskau zu schnell erreicht ist…

Rendezvous mit Tieren

Andrea Camilleri war ein Lebewesenfreund. Die Liebe zu den Menschen hat er in jedem seiner Bücher, auf jeder Seite, in jeder Zeile zum Ausdruck gebracht. Die Liebe zu Tieren hat er in diesem Erzählband manifestiert. Um ihn herum waren von frühster Kindheit an Tiere. Hunde, Katzen, Vögel – keine Scheu, keine Angst, nur tief empfundene Liebe. Ein echter Camilleri!

Es ist wenig erstaunlich wie persönlich Camilleri in diesem Buch wird. In all seinen Büchern fließt das Erlebte nicht nur brauchbar ein, es ist essentieller Bestandteil seiner Kunst. Immer wieder liest man aus und in seinem Leben. Warum sollte er also an diesem Erfolgsrezept etwas ändern?

Es beginnt mit einem Hasen. Die Hasenjagd war in seiner Familie schon immer sehr beliebt. Doch Meister Lampe schlägt jedem noch so gewieften Jäger ein Schnippchen. Fast scheint als ob er seine Verfolger verspottet, wenn sie wieder einmal gesenkten Hauptes den beschwerlichen, weil erfolglosen Heimweg antreten müssen. In der Nachbetrachtung kann Andrea Camilleri, der die Geschichte mit dem Hasen als Junge erlebte, herzhaft darüber schmunzeln.

Selbst einem so gewöhnlichen Haustier wie einem Hund kann der Autor eine ausgefeilte Geschichte angedeihen lassen. Aghi hieß sein treuer Begleiter. Ein echter Freund. Doch er hat ein dunkles Geheimnis, das letztendlich dazu führt, dass Aghi von der Familie getrennt werden muss.

Einem Distelfink und einem Papagei mit Namen Pimpigallo verhilft er zu einer dauerhaften Freundschaft. Dass dabei die Stimmgewalt der gefiederten Gefährten eine gewichtige Rolle spielt, ist mehrere Lacher während des Lesens wert.

Andrea Camilleri beim Beobachten, Beschnuppern und Erforschen der Fauna zuzuschauen, ist ein Genuss allerersten Ranges. Die Hingabe, die er seinen zweibeinigen Freunden der Spezies homo sapiens widmet, lässt er auch den Tieren zugute kommen. Das reicht bis hin zum echten Tierretter, der ein kleines Kätzchen vor den ortsüblichen Rowdies rettet.

Als Zugabe zu den eindringlichen Texten spendiert Paolo Canevari seine außergewöhnlichen Zeichnungen, die die Stimmung des Buches so einfangen, dass sich Phantasie und Realität vermengen. Zu diesem Rendezvous erscheint man nicht mit schwitzigen Händen und hochrotem Kopf. Es wird alles gut werden. Das verspricht der Name Andreas Camilleri. Und er hält seine Versprechen…

Selig & Boggs – Die Erfindung von Hollywood

„Ich geh nach Hollywood“ – heutzutage ein Synonym für „Ich will Karriere machen“. William Selig hat diesen Satz vielleicht nie so gesagt. Karriere machen wollte er unbedingt und unbestritten. Doch als Filmproduzent in Chicago, wo der Regen und die Wolken einfach keine guten Bilder zu produzieren sind. Schließlich wird immer noch ausschließlich in Schwarz-Weiß gedreht. Francis Boggs, Seligs Regisseur muss öfter abbrechen als weiterdrehen. Das ist mehr als hundert Jahre her. Charlie Chaplin spielt immer noch Vaudeville-Theater, Mary Pickford verzückt nur vereinzelte Zuschauer und der Begriff Effekt besteht nur auf dem Papier. Hollywood ist ein Flecken Land, auf dem Landwirtschaft betrieben wird und der Hintergrund aus etwas Echtem besteht.

Hier schient die Sonne. Und wenn es mal bedeckt ist, dann kommt das vom Gemisch aus Ammoniak und Salzsäure. Das kann man sich in den Mund kippen und qualmt aus allen Löchern. Das ist der einzige Effekt, den man dem Publikum anbieten kann.

Christine Wunnicke gibt dem Mythos Hollywood Zucker, in dem sie mit der Kunst der Literatur dem Streben nach Erfolg im Lichtspielgewerbe einen kraftvollen Anstrich verpasst. Sie reiht nicht einfach nur Anekdoten „aus der guten alten Zeit“ aneinander – sie verknüpft das Schicksal der beiden Filmpioniere mit der Suche nach dem idealen Firmenstandort.

Zwei Männer, die davon beseelt sind dem Publikum das zu geben, was es gar nicht zu suchen vermag. Für Schauspieler werden Merkzettel verfasst – nicht direkt in die Kamera schauen, unnötiges Schminken vermeiden, Fluchen (taubstumme können auch im Lichtspieltheater Lippen lesen) und übertriebenes Kämpfen vermeiden – die sie gefälligst einzuhalten haben. Grundregeln. Die bis heute gültig sind.

Wie ein Wirbelwind fegt die Autorin durch die Geschichte, von der es weniger Aufzeichnungen gibt als man vermutet. Inklusive Mord und Mordversuchen. Denn das Geschäft ist hart umkämpft. Thomas Alva Edison versucht mit aller Macht seine Erfindungen, die meist auch auf Erkenntnissen anderer fußten, vor dem kostenfreien Zugriff Anderer zu bewahren.

Spannend wie ein Krimi, (er-)kenntnisreich wie ein Sachbuch und wunderbar in Szene gesetzt – so stellt sich Christine Wunnickes Erfindung von Hollywood dar. Es gibt keinen Zweifel: Ohne dieses Buch wäre Hollywood ein viel größerer Mythos als es ohnehin schon ist. Sie sägt nicht am Thron. Sie rückt ihn lediglich ins rechte Licht.

München – Was nicht im Baedeker steht

Wie sich die Zeiten ändern. Wer heute eine Reise plant, sucht sich bei Instagram Hotspots, die er dann besucht und ins rechte Licht rückt. Manch einer greift zum Reisebuch, um sich ereignisreiche Touren zusammenzustellen. Das war vor einhundert Jahren schon so. Also, das mit dem Reisebuch. „Der Baedeker“ war ein geflügeltes Wort. Doch schon damals gab es findige Schreiber, die dem Baedeker Konkurrenz machten. Denn selbst in der Bibel der Reiselustigen konnte bei Weitem nicht alles aufgeführt werden, was die Stadt zu bieten hatte.

Peter Scher und Hermann Sinsheimer machten es sich zur Aufgabe dem Besucher die Seele Stadt anzudienen. Das beginnt beim Franziskaner und hört bei der Weißwurst noch lange nicht auf. Ringelnatz und Valentin gehören ebenso dazu wie Thomas Mann. Dabei vermeiden sie es geschickt den Leser mit Gewalt darauf zu stoßen, wo man die Größen der Stadt antreffen kann. Soweit wollte man dann doch nicht gehen. Man stelle sich vor, dass sie detailliert beschrieben hätten, wann und wo man der Prominenz auflauern kann. Das wäre schon damals – vor fast hundert Jahren – ein Skandal gewesen. Nein, es geht ihnen darum zu zeigen, dass München ohne ihre Charaktere eben nur eine durchaus vorzeigbare Stadt mit mittlerem Charakter ist. Dass dem nicht so ist, davon kann man sich auf den 150 Seiten dieses Büchleins selbst überzeugen.

Ganz wichtig: Wie verhält es sich und man selbst mit dem Eingeborenen? Allein schon die Fragestellung deutet darauf hin, dass es bei diesem Buch keineswegs um einen bierernsten Reiseführer handelt, in dem man die wichtigsten Plätze und Sehenswürdigkeiten abarbeitet wie eine Matheprüfung. Zwischen den Zeilen lesen. Sich nicht zwangsläufig als unbedarfter Neuling zu erkennen geben. Im Strom mitschwimmen können. Darum geht es den beiden Autoren. Doch Vorsicht, München ist eine Stadt im Aufbruch. Vielerlei ungute Gesellen tummeln sich des Nachts in den Bierkellern und auf den Straßen. Ein paar Jahre zuvor, zettelte ein Postkartenmaler aus dem benachbarten Österreich einen Aufstand an, bei dem Tote gab. Dass ausgerechnet der einmal Weltgeschichte schreiben soll, konnte man 1928 noch nicht ahnen. Das allerdings hätte millionenfaches Leid verhindert.

Natürlich ist dieses Buch kein Reiseband, den man an der roten Fußgängerampel schnell mal rausholt, um sich des Weges zum nächsten Stop zu versichern. Es ist ein vergnüglicher Ausflug in die bayrische Landeshauptstadt, die immer noch einen Besuch wert ist. Und vielleicht entdeckt man sogar noch Parallelen von Damals und Heute. Wer genau liest, wird sie finden…

Als ich wie ein Vogel war

  1. Juli 1998. In der Manege des Tempodroms in Berlin sitzt ein betagter Mann, dem man die Verwirrung im besten Sinne des Wortes ansieht. Ein lachendes Auge freut sich über den Zuspruch dieses Konzertes, vor und auf der Bühne. Das weinende Auge bricht sich bahn, als es aus ihm herausplatzt, dass man es in Leipzig nicht auf die Kette gebracht hat das Konzert für seinen Sohn in Leipzig stattfinden lassen zu können. Und man – er, Freunde, Weggefährten – hat vieles versucht. Nun findet das Abschiedskonzert für Gerulf Pannach in Berlin statt. Auch symbolträchtig, aber eben nicht die Heimat, die sich so viele wünschten. Zu diesem Zeitpunkt ist der Sänger und Liedermacher, Texter bei Renft ein knappes Vierteljahr tot. Der Krebs hat ihn doch noch besiegen können.

Auf der Bühne steht, was im Namen des Rock in der DDR, fest verwurzelt ist: Maschine, Tony Krahl, die Lütte, Veronika Fischer, Hans-Jürgen Beyer und und und. Sie trauern um einen der Größten ihrer Zunft. Sie lachen, weil sie sich lange nicht gesehen haben. Und wünschen sich einen fröhlicheren Moment ihres Wiedersehens. Die Musik aus ihrer Heimat ist langsam wieder im Kommen. Die Auftritte werden wieder zahlreicher. Doch Gerulf Pannach wird die Wiedergeburt nicht miterleben. Vielleicht hätte er sich das Etikett Ost-Rock-Legende auch nicht gern umhängen lassen. Mehr als zwanzig Jahre zuvor wurde er nicht nur vor die Tür, sondern vor die Mauer gesetzt. Ausgebürgert. Für Ken Loach spielte er einen Mann, der sein Land verlassen muss, und sich auf die Suche nach seinem Vater macht.

Das Buch „Als ich ein Vogel war“ erschien bereits 1999, und ist seitdem vergriffen. Salli Sallmann, Freund Pannachs, Liedermacher, Schicksalsgenosse hat als Herausgeber die Texte Pannachs noch einmal zusammengetragen und um einige Variationen vervollständigt. Mit Hilfe der … Stasi. Ja, der verein, der dafür verantwortlich war, dass Pannach und er sowie viele andere ihr Land verlassen mussten, ihnen der Nährboden entzogen wurde. Denn die Genossen hielten penibel fest, was wer wann wie und wo von sich gegeben hat. So konnten sogar alternative Fassungen ans neuerliche Tageslicht gebracht werden.

In ihnen schwebt immer noch aktuell der Geist der Zeit mit. Die Zeilen sind zeitlos, ohne die Zeit angehalten zu haben. Die immer noch vorhandene Allgemeingültigkeit erschüttert, bestätigt und verwundert den Leser ein ums andere Mal. Gerulf Pannach stach mit seinen Texten ins die Gefühlsblase seiner Zeit, ohne zu ahnen, dass das, was heraustrat jeder Ideologie widerstehen wird. Gehofft hat er es, da kann man sich sicher sein. Lieder wie „Zwischen Liebe und Zorn“ eignen sich nicht als Stadionhymnen, als idealistisches Kampflied sind sie fortwährender Bestandteil unserer Kultur. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Was heute unter der Marke Ostrock vermarktet wird, verdient sicher dieses Siegel. Aber es ist nur der Kern, die populäre Essenz dessen, was auf 108.000 Quadratkilometern den Kampf gegen die Zensur gewonnen hat. Die, die keine Medaille um den Hals gehangen bekamen, rücken in den Hintergrund und sind nur noch einem speziellen Publikum bekannt. Dieses Buch öffnet die Türen für die alten Fans, um sich einmal mehr zu erinnern. Und es ist ein Buch, um einen neuen Publikum eine Zeit näher zu bringen, die immer mehr in die Regale der Geschichte gedrängt wird.

Als Erzähler, als einführende Stimme in die einzelnen Kapitel fungiert Christian „Kuno“ Kunert. Er war nach der Ausbürgerung weiter mit Gerulf Pannach unterwegs. Nach der Wende trat er in mehr oder weniger vollständiger Besetzung wieder mit Renft auf.

Wagnerheldinnen – Wagnerian Heroines

Es gibt wohl keinen Menschen auf der Welt, der von sich behauptet am Abend in die Oper zu gehen, um Wagner zu genießen. Am frühen Abend sehr wohl, aber ab 20 Uhr. Da ist man ja nicht vor 2 Uhr in der Nacht im Bett! Wagners Opern sind kolossal. Brachial, sie hauen einen um. Und sie sind sehr laaaang. Am Komponisten scheiden sich die Geister. Über die Musik – und da sind sich Publikum und Kritiker einig – kann man nicht streiten. Über seine Gesinnung muss man diskutieren. Als Antisemit – zu Recht! – verschrien, als Komponist verehrt. Weltweit treffen sich Wagnerianer, um dem Meister zu huldigen.

Oft werden darüber hinaus die wahren Helden vergessen. Die Darsteller. Sie stehen stundenlang auf der Bühne, spielen Stücke, die eine Zeitlang als unspielbar galten. Sie strapazieren ihre Stimmen bis zur Belastungsgrenze, dass man meint, dass sie es verdient hätten abzugsfrei in Frührente gehen zu dürfen. Kirsten Liese setzt den Wagnerheldinnen mit diesem Buch ein Denkmal. Frauen, die wohl niemals eine Talentshow von innen gesehen haben. Weil sie es einfach nicht nötig haben, sich von quäkigen Stimmen vorführen zu lassen. Wer Wagner singt, hat naturgegebenes Talent und … hat es geschafft! Und sollte bei seinen Leisten bleiben.

Der Intendant der Metropolitan Opera in New York Rudolf Bing verlängerte 1953 den Vertrag mit Helen Traubel nicht, weil sie in den Jahren zuvor Operetten sang. Als Wagnerheldin, bleiben wir bei der von Kirsten Liese eingeführten Bezeichnung, steht man rund um die Uhr unter Beobachtung. Denn fällt die Erstbesetzung aus, ist es fast unmöglich adäquaten Ersatz zu finden. Nicht jede, der laut singen kann, kann Wagner.

Viele der Portraitierten hat die Autorin kennengelernt. In ihren kurzen Portraits, oder besser Huldigungen, vermittelt sie anschaulich deren besondere Gabe und den Geist der Zeit. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten bläst Wagners musikalisches Genie dem Publikum entgegen. Immer wieder gab es Widrigkeiten. Die Sporanistin Marie Louise Dustmann-Meyer sollte um 1860 herum die Isolde spielen. Der männliche Part, Alois Ander hustete sich mehr von Auftritt zu Auftritt, so dass nach siebzig Proben die Aufführung endgültig abgesagt wurde. Unaufführbar lautete das Urteil. Wagner selbst war von der Sopranistin sehr angetan.

Viele derartige Anekdoten machen dieses Buch auch für Nicht-Wagnerianer zu einem lesenswerten Buch, das vielleicht den einen oder anderen Unentschlossenen dazu verleitet seinem Sitzfleisch einen echten Ohrenschmaus zu gönnen. Zwei Pausen Minimum inklusive. Mit diesem Buch werden diese Namen bald schon wieder in aller Munde sein: Frida Leider, Martha Mödl, Dame Gwyneth Jones, Nina Stemme. Auch als Zusatzlektüre zum Programmheft sehr zu empfehlen.

Schaurig-schönes Deutschland

Es geht doch jedem so, der schon einmal die Natur um sich herum mit wachem Auge wahrgenommen hat. Bizarre Formen von Bäumen, ein besonderer Lichteinfall, diese eine spezielle Perspektive: Das Hirn schient einem einen Streich spielen zu wollen. Denn mit einem Mal wird die Pelle zur Huckelpiste, Gänsehaut wandert über den Körper, das Blut gerät in Wallung. Denn irgendwie flößt einem der Anblick Angst ein. Nein, es ist nicht Halloween, das ist eine ganz natürlich Reaktion, wenn Phantasie und Realität eine Allianz eingehen.

Marieluise Denecke kennt sicherlich viele solcher Momente. Ihre Mission: Das Gänsehautgefühl in den Bücherschrank zu stellen und bei Bedarf zur vollen Entfaltung bringen. Jede Seite dieses Erlebnis-Reisebandes garantiert, dass sich die Härchen aufstellen. Wer schon einmal – nicht im Kahn mit Dutzenden anderen plappernden Vergnügungssüchtigen – den Spreewald durchquert hat, kennt das Gefühl. Dort hinter dem umzukippenden Baum könnte sich jemand verstecken, der jeden Moment mit einem „Huh“ hervorspringen könnte. Herunterhängende Äste und Zweige tauchen die Landschaft in eine verwunschene Welt. Und wenn dann noch dicker Nebel über dem Boden liegt, ist der Gruselfaktor um einiges höher.

Sagenhaftes taucht Gevatter Rhein in ein mystisches Flair. Angefangen bei der Loreley bis hin nach Worms, wo schon Siegfried um Kriemhild warb. Sagen und Legenden bringen die Phantasie auf Touren.

Und selbst Städte, denen man nicht auf Anhieb eine Mystik zuschreibt, wie etwa der ehemaligen Schwerindustriestadt Riesa in Sachsen, haben für die Autorin eine dunkle Komponente. Dabei ist es der Name der Stadt, der eine Legende vermuten lässt. Der Hügel, auf dem das vor rund neunhundert Jahren errichtete Kloster steht, soll der Sage nach von einem – na, was schon? – Riesen stammen. Der wanderte an der Elbe entlang. Zur Rastzeit entledigte er sich seines Schuhwerkes. Heraus purzelten Steine und Geröll. So entstand der Hügel und später die Stadt.

Schaurig-Schön. Mystich. Sagenhaft. Märchenhaft. Von Ost mach West, von Nord nach Süd, über Stocke und über Stein, durch Flüsse und bezaubernde Landschaften entdeckt Marieluise Denecke Landschaften, die dem geneigten Leser und Beobachter die Synapsen erklingen lassen. Ein Reiseband für besondere Ausflüge, der allein schon durch die Fülle an Zielen – immerhin einhundertfünfzehn – den Leser in Erstaunen versetzen wird.

Staatsräson

Was darf der Bürger (wissen)? Was darf Literatur (schreiben)? Was darf der Staat? Keine Fragen, die man mit seinem Nachbarn in der Warteschlange beim Discounter bespricht. Daniel de Roulet stellt sie, nicht in der Warteschlange, sondern in diesem Buch. Dass er anecken wird, ist ihm klar. Genauso wie seinem Ermittler, dem Journalisten Niklaus Meienberg. Gefeierter Reporter, der es in der Vergangenheit einigen zu weit getrieben hat. Beim Tages-Anzeiger in Zürich darf er nicht mehr schreiben. Nun lebt er mehr schlecht als recht in Paris. Zusammen mit Flavia. Sie fotografiert neben ihrem Studium, das ihr ihre Eltern finanzieren. Sie können das. Denn als Bundespräsident hat der Vater durchaus die finanziellen Mittel. Und diesen, Kurt Furgler, will Meienburg, der Ermittler, unbedingt interviewen.

Es ist das Jahr 1977. In Deutschland erreichen die Aktivitäten der RAF ihren Höhepunkt. Seit einigen Wochen ist Arbeitgeber Präsident Schleyer Geisel der RAF. Im Jura wird der seit Wochen verschwundene Offiziersaspirant Flükiger gefunden. Tot. Ebenso wie schon bald darauf der Polizist Heusler, der im Tod Flükigers ermittelte. Flavia findet eine Krawattenspange in der Nähe des Fundortes. Die sieht so aus wie die von Schleyer. Dort werden dann auch zwei RAF-Terroristen verhaftet.

Es bleiben nicht die einzige Leichen in Daniel de Roulets kurzen Romans „Staatsräson“. Denn hier kommt so ziemlich alles zusammen, was einen aufwühlenden, sich an der Realität orientierenden Krimi zusammenzukommen hat. Zu dieser Zeit gewann die Bewegung zur Gründung des Kantons Jura immer mehr Aufwind. Auch durch den bereits erwähnten Kurt Furgler. Mit militanten Aktionen machten die Separatisten Furore. Und Vater Staat? Er muss zusammenhalten, die Form wahren, die Ordnung aufrechterhalten. Alles zusammenkneifen, was zusammenzukneifen ist. Stramm stehen vor dem Erreichten, und einen Weg finden, wie ohne Gesichtsverlust die unabänderlichen Veränderungen durchzusetzen sind. Opfer auf beiden Seiten sind vorprogrammiert.

Auf den ersten Blick scheint es unmöglich zu sein ein derart umfassendes Thema auf so wenigen Seiten, nur knapp über einhundert, abschließend abbilden zu können. Doch wie sein Ermittler Niklaus Meienberg schafft er es komplexe Sachverhalte mit wenigen Worten nicht nur zu umreißen, sondern sie genau so darzustellen wie sie waren. Das ist wahre Schreibkunst! Und so ganz nebenbei: Alle in diesem Buch vorkommenden Personen sind real. Ihre Handlungen legte ihnen Daniel de Roulets Phantasie zu Füßen. Wer nach dem Lesen immer noch der Meinung ist, dass Staatsräson das Nonplusultra sei, liest es noch einmal. Widerstand ja, aber nicht um jeden Preis.