Geneviève – Ein französischer Sommer

Für den jungen Gérard ist dieser Sommer ein Sommer voller Erinnerungen. Auch wenn seitdem mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, sind die Ereignisse von damals immer noch präsent. Als junger aufstrebender Banker an der Pariser Börse – kurz nach dem Krieg, als boche, nicht selbstverständlich – darf er den Sommer auf der kleinen Privatinsel seines Chefs verbringen. Die Bretagne weit am Horizont, verbringt er hier den Sommer zusammen mit Madame, der Hausherrin, den Bediensteten Pierre und Phiphine sowie der Tochter des Hauses Geneviève und ihren Freundinnen Minouche und Garance.

Geneviève wird bald heiraten. Ihre Freundinnen und sie stecken ständig die Köpfe zusammen, sehnen den großen Tag herbei. Gérard fühlt sich wie das fünfte Rad am Wagen. Einzig Minouche zeigt zurückhaltendes Interesse an dem großgewachsenen Besucher auf dem idyllischen Eiland. Eine zarte Liaison entspinnt sich zwischen der kecken Minouche und dem vorsichtigen Gèrard. Er will die Gastfreundschaft seines Chefs nicht schamlos ausnutzen und sein berufliches Vorankommen gefährden. Minouche und er kommen sich näher. Sie fordert aber von ihm – bald schon nennen es die Vier Minouches Vertrag – den letzten Schritt nicht einzufordern oder gar zu wagen.

Als Minouche die Ferienidylle für ein paar Tage verlässt, um auf dem Festland Freunde zu besuchen, ändert sich die Stimmung vor Ort. Geneviève zeigt immer mehr und offener Interesse an Gérard. Immer mit der gebotenen Vorsicht treffen sich die beiden, verbringen Stunden am Strand und teilen sich das Nachtlager. Minouches Vertrag stets im Hinterkopf. Gegen Ende der Ferien macht Geneviève ihm ein Angebot…

Gérard ist mittlerweile ein alter Mann. In einem Brief von einer ihm unbekannten jungen Frau tauchen in den Erinnerungen die Tage und Wochen von damals wieder auf. Die junge Dame hat niemals abgeschickte Briefe ihrer grande-mère gefunden. Voller Liebe und Zuneigung berichtet die inzwischen Verstorbene von einem letzten Sommer voller Glück. Es sind die Briefe von Geneviève. Und die Autorin des Briefes trägt denselben Namen, es ist ihre Enkelin.

Immer wieder werden die Erinnerungen durch Textpassagen des Briefes der Enkelin an Gérard durchbrochen. Sie sind kleine Messerstiche im romantischen Verweilen. Unsicher, ob sie ihn überhaupt anschreiben solle, rückt sie spät mit ihrer wahren Absicht heraus…

Gerd Pfeifer beschreibt einen wahren Sommer der Liebe. Die Insel vor der Küste der Bretagne vor Jahre zuvor noch hart umkämpft. Jetzt erobert sich eine Jugend die Zeit und die Insel zurück, um sich auszuloten wie weit Freiheit gehen kann. Unter dem Deckmantel der Konventionen kein leichtes Unterfangen.

Die Nächte der Gräfin de Polignac / Aline, Königin von Golkonda

Zwei Geschichten, ein Buch, unzählige Bettgeschichten. Und Band 21 der Schlaflosreihe lässt sich nicht lang bitten und startet mit einer saftigen Überraschung. Der anonyme Autor lässt kein Detail seiner Affären aus. Keines! In den Monaten vor der französischen Revolution – er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem, was später einmal in die Weltgeschichte eingehen wird – verschlägt es den finanziell angeschlagenen Ich-Erzähler an den Hof von Versailles. Hier tummelten sich zu der Zeit allerlei Adelige, um sich im Glanze des Hofes das Adeligsein versüßen zu können.

Ein Prinz erbarmt sich seiner und nimmt ihn unter seine Fittiche. Er wird ihm beibringen sich standesgemäß zu verhalten und sich zu vernetzen. So würde man es heutzutage wohl nennen. Doch der smarte Jüngling wird umgehend an seine jugendliche Triebhaftigkeit erinnert als der die Gattin des Prinzen entdeckt. Auch sie hat ein Auge auf den Neuankömmling geworfen. Es kommt wie es kommen muss – die beiden werden zwar kein Paar für die Ewigkeit, dennoch ein Paar für ein paar Nächte. Bis der Prinz die Sache spitz bekommt.

Der Rausschmiss vom Hof ist aber nichts mehr als der Beginn eines weiteren Abenteuers. Gleich zwei Damen buhlen um ihn. Die Ruhigere von beiden macht indes das Rennen. Immer wieder. Und lässt sich den Spaß sogar etwas kosten. Er solle mit dem Geld und den Preziosen ein Liebesnest erwerben, so dass ihr Gatte nichts von ihren Amouren erfährt. Dann taucht die andere der beiden aus ihrer Deckung hervor. Nicht minder willig, nicht minder fordernd. Es scheint das Paradies zu sein. Aber ach, der Pöbel fordert Gerechtigkeit. Der Adel muss fliehen, bluten und um die heile Haut fürchten.

Geschichte Nummer Zwei ist weniger deftig, aber in keiner Weise weniger amourös. Wie die zwei Königskinder, die nicht zueinander finden können, wird ein Paar auf die härteste Probe gestellt, die ein Paar haben kann. Sie werden getrennt. Während er dem Alltag nachgeht, wird sie unter der Fuchtel der Stiefmutter zu einer erfahrenen Kurtisane herangezogen. Später, auf Reisen, entdeckt er sie wieder. Sie ist im Stand aufgestiegen. Regiert ein ganzes Königreich an der Seite ihres Gatten. Doch die Lust in ihr konnte niemals gestillt werden. Hier ist der Autor bekannt, Stanislas-Jean de Boufflers, ein Freund Voltaires.

Beide Geschichten entstanden in einer Zeit des Umbruchs. Auch in der Literatur wurden neue Töne angeschlagen. Mal andeutend, mal direkt, ohne Scheu anzuecken. Ob nun pornographisch oder anregend andeutend, beide Male wird die Schlaflosreihe für schlaflose Nächte sorgen. Und das ist in diesem Fall erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht…

Frenzel

Je länger man sich mit Frenzel beschäftigt, je mehr man über ihn liest, könnte man das Gefühl bekommen, dass er das geborene Opfer ist. Schon als Kind wurde ihm von Polizisten übel mitgespielt. Später wurde es schlimmer, bis hin zu Terrorverdacht. Alles, was Uniform trägt, wird von ihm bis in alle Ewigkeit mit Nichtachtung und Schweigen bestraft.

Arbeit kennt Frenzel, aber nicht dauerhaft. Dauerhaft dagegen schon, zumindest für neun Jahre. Hat einmal, nur einmal, zu kräftig zugeschlagen. Den Anderen gibt’s nicht mehr. Da war Frenzel schon Millionär. Geerbte Lottomillionen. Das einzige, was vom Vater übrig blieb. Frenzel ist es recht so.

Er zieht von Stadt zu Stadt. Kohle hat er ja genug. Er nimmt seine Umgebung verdammt schnell, verdammt genau wahr. Macht sich Notizen. Könnte ja sein, dass man sich mal verteidigen muss. Da ist es ratsam etwas in der Hand zu haben, um potentielle Stänkerer in ihre Schranken weisen zu können. Klappt ganz gut. Dennoch ist Frenzel immer unterwegs. Nun wohnt er auf einem alten Fabrikgelände und hat die lästigen Untermieter im Griff. Frenzel scheint angekommen zu sein. Wird auch Zeit, so kurz vor der Fünfzig.

Auch findet er die örtliche Lokalität zum Durstlöschen genau nach seinem Gusto. Samt Inventar. Walli, die gerade den Verlust eines Angehörigen verkraftet, hilft er aus der Patsche, als sie von einem schmierigen Typen übers Ohr gehauen werden wollte. Charly und Hanno. Allesamt Menschen, mit denen Frenzel was anfangen kann. Dann stirbt Charlys Sohn als er in einen Kleidercontainer klettern wollte. Und bald darauf sind Walli und Hanno verschwunden. Die Beerdigung der beiden schweißt die Tresengemeinschaft enger zusammen.

Hier stimmt was nicht. Frenzel hat da so eine Ahnung. Auch dass die Bullerei ihn wieder drangsaliert passt ihm gar nicht. Als Mann der Tat nimmt Frenzel die Sache selbst in die Hand. Vier Tote in seinem Umfeld, die Uniformierten tun nichts. Zum Glück hat Frenzel sich noch nie an Recht und Ordnung gehalten. Dieses Mal ist es sogar von Vorteil für ihn. Denn er kann ganz anders ermitteln…

Tommie Goerz schafft mit Frenzel einen Typen, den die Krimilandschaft braucht. Ein Rauhbein mit dem Herz am richtigen Fleck. Ein Einzelgänger, der es geschickt versteht die Menschen um sich herum für sich einzunehmen. Mit locker sitzender Geldbörse, kompromisslosem Vorgehen und klarem Blick macht er sich auf die Suche nach einem gewissenlosen Verbrecher. Ehre? Das kennen weder Frenzel noch der Mörder. Und der Begriff Gerechtigkeit ist sehr dehnbar … wenn man Frenzel heißt.

Die im Schatten, die im Licht

Die einen jubeln als der Tross von schwarzen Limousinen durch den Ort fährt. Andere prügeln sich bis aufs Blut. Einem Kind wird die ersehnte Torte aus dem Gesicht geschlagen, nicht sprich-, sonder wortwörtlich. Man darf das eigene Schloss nicht mehr betreten, weil man sich mit den falschen Leuten traf. Das Radio wird immer öfter ausgeschaltet, weil die knarzige Stimme der immergleichen Sängerin einem die Laune vermiest. Man muss sich regelmäßig bei den Behörden melden. Das Leben wie sie es kannten ist vorbei!

Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verändert sich für die meisten das Leben. Die Einen steigen auf, sind rege dabei sind zu profilieren ohne dabei auch nur einen Funken Verstand und Menschlichkeit zu versprühen. Die Anderen gehen in Deckung, weil das der einzige Weg ist zu überleben.

Sabine Scholl lässt neun Frauen in den Vordergrund treten, die ihr Leben von nun an im Licht oder im Schatten fristen müssen. Ob auf der Bühne oder im Keller – sie leben in einer Zeit, in der die Angst rund um die Uhr ihr Begleiter sein wird. Die Schicksale orientieren sich an echten Schicksalen der Zeit. Literatur darf, nein muss, sich an der Realität beweisen und sie sich Untertan machen. Seite für Seite taucht man in eine Zeit ein, die längst vorbei zu sein schien. Die Aktualität holt die Träumer und Phantasten auf den Boden der Tatsachen zurück.

Aktueller denn je kommt dieses Buch zur rechten Zeit in die Regale. Dort greift man zu und liest, was perfide Machtphantasien anrichten können. „Die im Schatten, die im Licht“ als reines Lehrbuch zu sehen, würde am ziel vorbeigehen. Dennoch sind die beschriebenen Frauenschicksale exemplarisch nicht nur für die Zeit der Nazidiktatur in Österreich, sie sind mahnendes Beispiel für diejenigen, die bei autoritären Umwälzungen sich ein „So schlimm kann es nicht werden“ oder „Ich find das gut, was der da macht“ nicht verkneifen können. Wer sich selbst ins Licht stellt, in dem er andere in den Schatten schiebt, lässt keinen Zweifel daran, dass er zu mehr fähig ist.

Jedes der Frauenschicksale in diesem Buch rüttelt auf und zeigt wie tiefgründig (und vor allem wie schnell) die neuen Herren ihre Arbeit vorantrieben. Eben noch die jubelnde Menge auf Photos festgehalten, im nächsten Moment die Säuberung des Ortes angeordnet. Eben noch ein Star auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sich dem savoir-vivre hingegeben. Und schon gehen die Lichter aus. Es ist erschreckend zu lesen wie schnell aus der Freiheit Beengtheit, Diskriminierung und Hass werden kann. Das war so, und noch immer haben nicht alle daraus gelernt.

Inselabenteuer Mallorca

Malle und Abenteuer – ja, das geht auch am Ballermann. Dreiunddreißig Möglichkeiten sich auf abenteuerliche Weise zu blamieren, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und dem Körper übel mitzuspielen. Aber dafür braucht man kein Buch, nicht einmal nachdenken muss man dabei.

Bleiben wir noch ein bisschen beim frivolen Klischee der Baleareninsel. Wie wär’s denn mit Entenhintern und rotem Blitz? Kurz nachdenken. Nee, kommt man nie drauf! Die Rede ist zunächst einmal von Entenhintern-Orangen. Auf einer kleine Plantage im Nordwesten der Insel reifen sie prächtig und in überschaubarer Menge. Die Eigentümer führen Interessierte gern herum und lassen die aus den Früchten entstandenen Produkte gern probieren. Den Rucksack kann man sich anschließend mit allerlei einzigartigen Mitbringseln füllen. Hier gibt es sogar Bäume, die mehrere Sorten Orangen tragen. Und mit dem roten Blitz, einer betagten Bahn geht es dann bis in die Inselhauptstadt Palma.

Eine lukullische Besonderheit gibt es auch beim Schneckenkönig. Ja, Schnecken, kann man essen, auch wenn der Kopf sagt, dass man davon lieber die Finger lassen soll. Dann nimmt man eben den Mund! Auf einer Farm werden sie gezüchtet und gegrillt oder in einer leckeren mallorquinischen Sauce serviert. Wer sich immer noch nicht traut, der nimmt halt den Nachtisch. Der wird mit einer Puderzucker-Schnecke serviert. Wie das aussieht, muss man allerdings selbst herausfinden.

Ein echtes Abenteuer (wie im Film, wie in den Abenteuerbüchern der Kindheit und Jugend) ist der Weg zu wahrhaft gigantischer Kunst. Riesige Skulpturen, die mehr an die Osterinseln erinnern als ans westliche Mittelmeer, wollen erobert werden. Doch zuvor hat der Reisegott die nicht ganz offensichtliche Anreise, sprich den Weg dorthin, gesetzt. Da muss man schon mal den einen oder anderen Zweig beiseite biegen und so manche Pflanze sich Untertan machen. Aber das Ziel entschädigt für die Strapazen. Stein auf Stein, wie im Maya-Reich oder doch Angkor Wat oder eben die Osterinseln? Wie so vieles auf Mallorca, so haben auch diese Kunstwerke deutsche Wurzeln. Rolf Schaffner schuf diese überdimensionalen Gestalten, die man in kleinen geführten Erkundungen besichtigen kann.

Raus aus der Stadt, rauf auf die Insel. Für Autor Frank Feldmeier ist Mallorca seit fast zwanzig Jahren Heimat und Arbeitsstätte. Auf jeder Seite spürt man das Meer rauschen und die unbezwingbare Liebe zur Insel. Hier ist kein einziger Tipp von der Stange. Alles selbst erkundet, getestet und der Leserschaft zum Nacherleben auf dem Silbertablett präsentiert. Hier muss keiner kapitulieren, wenn es mal nicht sofort weitergeht. Schritt für Schritt erobert man eine Insel, die längst als weißfleckfrei gilt. Frank Feldmeier beweist, dass es hier tatsächlich noch Flecke gibt, die den Massen verborgen geblieben sind.

Drei daneben

Fangen wir ganz vor an. Beim Titel. Nein, auf dem Bild ist nicht Terry Jones abgebildet, der als marodierende alte Lady eine englische Kleinstadt terrorisiert und Babies aus Kinderwagen klaut.

Es folgt eine ungewöhnlich lange Einführung in das, was auf den folgenden Seiten Herz und Hirn des Lesers aufs Vortrefflichste animieren wird. Nicholas Hytner, Theaterbetreiber und Regisseur wurde wenige Tage nach Beginn des Lockdowns in Großbritannien gebeten die „Talking Heads“ von Alan Bennett für die BBC neu zu inszenieren. Unter den gegebenen Umständen eine willkommene Abwechslung. Unter den gegebenen Umständen auf alle Fälle umsetzbar. Unter den gegebenen Umständen ein probates Mittel, um drohenden Wiederholungsexzessen vorzubeugen. Er gibt darin ein sehr direktes Bild von Produktionsbedingungen der Gegenwart wieder. Als Freund von Alan Bennett könne er ihn auch davon überzeugen selbst wieder tätig zu werden und die Erfolge der „Talking Heads“ (nicht der Band, sondern der BBC-Serie) noch einmal aufleben zu lassen.

Die Texte von Alan Bennett erschüttern nicht von Anfang an den Leser. Es sind Alltagssituationen, die vielleicht nicht jeder selbst durchlebt, aber auf alle Fälle kennt jeder jemanden, der so agiert. Die Fassade muss auffallen. Was dahinter passiert, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Da sitzt eine trauernde Witwe vor dem digitalen Publikum, um ihre Trauerrede auf den verblichenen Gatten zu üben. Nun haben wir in der Covid-Zeit gelernt, dass virtuelle Treffen sich durchaus für peinliche Momente eignen können. Doch in diesem Falle ist peinlich noch ein sehr mildes Urteil…

Alan Bennett versteht es vorzüglich dem Volk aufs Maul zu schauen und seinem Treiben durchaus ein Schmunzeln abzuringen. Das Scheitern als Chance doch noch halbwegs unbeschadet aus der Situation herauszukommen, gibt ihm die Möglichkeit Unzulänglichkeiten aufzudecken und der Peinlichkeit einen Riegel vorzuschieben. Zwischen den Zeilen offenbaren sich die Männer und Frauen, die Alten und die Jungen, die Gebrechlichen und die Starken als Abziehbild einer Gesellschaft, die denen die geblendet werden wollen, das Paradies verspricht. Ein Spielverderber ist Alan Bennett dennoch nicht. Denn diejenigen, die sich selbst treu bleiben, zaubert ein Lächeln ins Gesicht, das jeden Antagonismus der Zeit ad absurdum führt.

Der Ursprung der Gewalt

Ein Sprichwort besagt, dass Neugier der Katze Tod sei. Das trifft im günstigsten Fall darauf zu, wenn man einen elektrischen Viehzaun berührt und einen schwachen elektrischen Impuls zu spüren bekommt. Das überrascht, tut aber nicht weh.

Nathan Fabre, Lehrer für Literatur in Paris, hingegen hat sich schon öfter dem Fall des Engels Satan beschäftigt. Als geistige Ehrausforderung im Spiel mit seinen eigenen grauen Zellen. Das soll ihm bald schon zugute kommen. Als Lehrer ist er mit einer Klasse in Weimar zu Gast. Der Stadt Goethes, und Schillers. Die entsprechenden Sehenswürdigkeiten sind schnell abgearbeitet, die Horde Fünfzehnjähriger ist noch halbwegs gebändigt. Als der Ausflug zum KZ Buchenwald auf dem nahe gelegenen Etterberg sein Ziel erreicht, wird auch die Klasse mucksmäuschenstill. So ergeht es jedem, der diesen unheilvollen Ort besichtigt. Selbst der stets vorhandene Wind wird im Angesicht solcher Hinterlassenschaften und dem damit nicht wegzudiskutierenden Leid zur Nebensache.

Nathan entdeckt in einem Schaukasten ein Foto, das seine Aufmerksamkeit erregt. Der Lagerarzt Wagner, schneidig, fast schon mit einem Lächeln wird von einem Mann angeschaut, angestarrt, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Unmöglich. Papa ist erst 1942 geboren worden. Und niemand aus der Familie wurde jemals deportiert. Sein Großvater konnte unter dem Regime von General Pétain sogar weiter seiner Arbeit nachgehen. Was ein kleiner schwarzer Fleck in der Familienchronik ist.

Dieses Foto lässt Natahn nicht los. Er ruft in Buchenwald noch einmal an. Über Wagner könne man ihm viel erzählen. Auch über das Datum, wann das unscharfe Foto entstanden ist. Sogar der genaue Ort. Aber der Mann, der den Lagerarzt ins Visier nimmt, weiß keiner. Nur ein Mann, ein ehemaliger Mitgefangener, den Natahn recherchiert hat, den er um Hilfe bittet, kann ihm weiterhelfen. Wagner heißt der Mann, der dem Lagerarzt tief ins Gesicht zu sehen scheint. Wagner? So wie der Lagerarzt? Ist halt ein Allerweltsname in Deutschland. Wagner sei aber tot. Der Lagerarzt Wagner, der sich Jahre später selbst das Leben nahm, als er unter falschem Namen in Bayern lebend Angst haben musste enttarnt zu werden, hasste diesen Wagner regelrecht. Für Natahn Fabre beginnt eine Reise, an die er nie zu denken wagte. Denn Wagner ist ihm näher als die Familie zugeben möchte…

Autor Fabrice Humbert nutzt seine eigene Familiengeschichte, um mit dem Mittel der Fiktion die Realität abzubilden. „Der Ursprung der Gewalt“ ist stark biographisch, einigen Personen wurden andere Namen gegeben, doch die Geschichte ist im Großen und Ganzen die Geschichte seiner Familie. Das muss man erstmal sacken lassen. Ohne falsche Scham richtet er nicht über die Handelnden, er versucht auch nicht deren taten zu rechtfertigen. Vielmehr nutzt er die ihm zur Verfügung stehenden Mittel – Sprache, die Fähigkeit sie pointiert einzusetzen – echte Geschichte nahbar zu machen. Ein wichtiges Buch, das immer noch zum Kopfschütteln anregt, die Gemüter erhitzt und immer wieder daran erinnert, dass die Vergangenheit stets ein Teil der Gegenwart sein wird.

Gespräch in Sizilien

Lange ist es her, dass Silvestro, der nun bald nach Sizilien reisen wird, daheim war. Als Jugendlicher flüchtete er. Vor der Beengtheit der Heimat und der Familie, vor der Hoffnungslosigkeit der Zeit, vor allem, was ihm die Luft nahm. Eines Tages erreicht ihn ein Brief des Vaters. Der hat mittlerweile die Mutter, seine Frau verlassen. Auch ihm war es zu stickig geworden. Spät, sehr spät, aber nicht zu spät ist er sich dessen bewusst geworden. Er bittet nicht um Verzeihung, will einfach nur Abschied nehmen. Sein Sohn solle doch dieses Jahr auf die Karte zum Namenstag der Mutter verzichten und sie stattdessen höchstpersönlich in Sizilien besuchen. Die Zeiten sind hart. Italien ächzt unter den kruden Phantasien des Duce. Sizilien blutet aus. Wer flüchten kann, flüchtet. Wer es nicht kann, redet am besten hinter vorgehaltener Hand.

So muss man auch dieses Buch verstehen und lesen. Es erschien in einer Zeit, in der offene Kritik mit prompter Strafe eine unheilige Allianz einging. Umso verwunderlicher ist es, dass es in zwei Versionen fast zeitgleich erschien.

Silvestro reist dem Wunsch des Vaters entsprechend in die Heimat. Vorbei an den Orten, die er bei seiner Abreise in umgekehrter Reihenfolge durchfuhr. Je näher er der Mutter kommt, desto konkreter werden die Erinnerungen. Die Orte klingen wie ein zartes Lied aus Kindertagen. Dann ist es geschafft! Die Mutter wartet schon auf ihn. So scheint es. Das Essen steht auf dem Tisch. Als ob er nie wirklich weg war, entspinnt sich ein reges Gespräch zwischen Mutter und Sohn. Wer ein wenig zwischen den Zeilen liest, kommt im Handumdrehen der Schönheit dieses Buches auf die Spur.

Elio Vittorini beschreibt ein Sizilien, das so gar nichts von der Postkartenidylle der Touristenzentren in sich trägt. Selbst der ersehnte Regen hämmert gegen die Stirn und macht es fast unmöglich hier Schönes zu erkennen. Wenn es denn nicht die Heimat wäre. Hier ist er zuhause. Hier ist er sicher. Hier fühlt er sich geborgen. Auch wenn nicht alles eitel Sonnenschein ist.

Silvestro ist Realist, die Mutter hat den entbehrungsreichen Leben nichts mehr entgegenzusetzen. Selbst die Freude über die Rückkehr des Sohnes weicht der Aktualität der Dinge. „Gespräch in Sizilien“ ist trotz alledem kein trauriges Buch. Weit entfernt von sonnenverbrannter Erde und fassungsloser Freude – was Touristen gern in der Insel sehen möchten – gelingt es ihm trotzdem ein flammendes Plädoyer für die Insel und seine Bewohner zu schreiben. Kein Reisebericht, der einem ruckzuck den Koffer packen lässt, dennoch ein Buch, das man gern noch einmal zwischen Messina, Catania und Siracusa lesen möchte. Und sei es nur, um festzustellen, dass es hier jetzt noch schöner ist.

Berlin außenrum

Dass Berlin immer eine Reise wert ist, dass hier (zwar niemals ungestört, doch) immerfort etwas Neues entdecken kann, was beim letzten Besuch noch nicht da stand, ist mehr als nur eine Annahme und zweckmäßige Werbung für Berlin. Und dass es drumherum, außenrum nur Wasser gibt, man nur Beine und Seele baumeln lassen kann, gehört ins Reich der Fabeln. Denn außenrum, gibt es mindestens genauso viel zu erkunden, wie mittendrin. Gabriele Tröger und Michael Bussmann müssen’s wissen, schreiben darüber und überlassen nun dem Leser die Qual der Wahl.

Fangen wir janz eenfach an, mit’m Museum. Museum geht immer. Berlin hat unzählige davon. Und außenrum? Naja, man muss schon wissen, wo man suchen muss. Beeskow. Der Ort südöstlich von Berlin, auf halber Strecke nach Polen, wird vielleicht noch Paddlern was sagen. Aber Kunst in Beeskow? Ja, sogar ganz große Kunst. Aus der DDR. Auftragsarbeiten – Moment mal, das ist kein Grund die Nase zu rümpfen. Renaissance-Künstler haben auch nicht einfach mal so gigantische Statuen aus dem Marmorblock gemeißelt, weil sie gerade nichts zu tun hatten. Die haben auch auf den Kontostand kieken müssen. Von der Burg Beeskow, ’ne Burg hamse och, gelangt man auf die Spreeinsel. In dem zweckmäßigen Bau verbirgt sich ein Schatz mit über tausend Werken von Walter Sitte bis Walter Womacka mit Bildern von Marx bis Thälmann. Wer das alles noch „live erleben durfte“, kann sich sicher ein Schmunzeln nicht verkneifen, alle anderen wird ob der schieren Menge der Mund offen stehen bleiben. In der Mimik kann man gleich verharren, denn wenn man schon mal hier ist (unter dieser Floskel werden in farbigen Schaukästen kleine Tipps zum weiteren Verweilen an den Leser gebracht), kann man gleich noch durchs wildromantische Schlaubetal wandern.

Im Nordosten von Berlin kann man ein Schauspiel beobachten, das manche aus der Schule kennen, viele jedoch nur von Bildern. Das Schiffshebewerk von Niederfinow. Derzeit wir ein neues dort gebaut, weil es benötigt wird. Das alte, traditionelle verrichtet seit fast achtzig Jahren seinen Dienst. Mitfahren erlaubt, erwünscht und einfach ein Muss, wenn man außenrum von Berlin was erleben will.

Viele der vorgestellten Orte kennt man von Autobahn(ab)fahrten. Dass sich hier exzellent Abenteuer erleben lassen, fliegt an den meisten vorbei im Rausch der Geschwindigkeit. Es lohnt sich einmal mehr Rast zu machen auf A 9, A 10 und wie die Asphaltpisten alle heißen. Von Alpaka bis Honecker, von Gaumensex bis Mississippi – was wie eine willkürliche Auswahl von Worten, Namen und Orten klingt, hat Hand und Fuß. Und das Autorenduo Tröger/Bussmann bietet sich freundlich an dem Besucher jeden Zweifel daran zu nehmen.

Die Aspern-Schriften

Wenn kleine Kinder etwas unbedingt wollen, dann quengeln sie so lange bis sie es bekommen. Das klappt in den meisten Fällen ganz gut. Als Erwachsener wie ein Kleinkind mit dem Fuß aufzustampfen, trotzig zu schniefen und immer wieder seinen Unwillen über das verpasste Ziel Ausdruck zu verleihen, hat meist die die erhofften Auswirkungen. Da muss man sich schon etwas geschickter anstellen.

So wie der namenlose Dichter, der in Venedig seinem großen Ziel nachjagt, ein paar texte und Liebesbriefe seines Idols Jeffrey Aspern zu ergattern. Angetrieben von seinem Freund John und mit der Hilfe von Mrs. Prest, will er der einstigen Geliebten des Dichters die Papiere abluchsen. Juliana Bordereau lebt mit ihrer Nichte sehr zurückgezogen in einem ehrwürdigen Palazzo in Venedig. Auch wenn es ihr Name nicht vermuten lässt, ist sie Amerikanerin, wie ihre Nichte Tina und auch der junge Autor, der sie bald besuchen wird. Mrs. Prest hatte den glorreichen Einfall sich als Untermieter ins gemachte Nest zu setzen. Der ungestüme Autor will gleich noch eins draufsetzen und träumt von einer Liaison mit der Nichte.

Doch um Himmels Willen darf er seine wahren Absichten niemals laut äußern. Dann kann er sein Ziel gleich ad acta legen.

Hier ist er richtig. Die alte Mrs. Bordereau ist tatsächlich die ehemalige Geliebte von Jeffrey Aspern. Der lebte in Venedig im Exil. Seine Jünger verehren jedes Wort ihres göttlichen Autors. Juliana, in einem Werk Asperns spielt sie eine tragende Rolle, ist schon sehr betagt. Hätte das letzte Hemd doch Taschen, wäre deren Inhalt schon mehrmals aufgefrischt worden. Tina vermutet, dass ihre Tante sich bereit macht die letzte Veränderung ihres Lebens in Angriff zu nehmen. Der neue Untermieter – wider Erwarten wurde sein Ansinnen akzeptiert, allerdings zu einem Preis, der unter „normalen Umständen“ niemals von jemandem mit Verstand angenommen wird – darf sich nun als Teil der Hausgemeinschaft bezeichnen. Die Hausherrin stirbt alsbald. Die Nichte als Erbin ist jedoch nicht gewillt, dem jungen Heißsporn die erhofften Schriften zu übergeben, geschweige denn sie ihm überhaupt vor Augen zu führen…

Henry James ergießt seitenweise Andeutungen und wilde Spekulationen über die Herkunft der Papiere, die Zusammensetzung der auftretenden Personen – ja, man möchte fast meinen, dass hier reale Personen (Lord Byron, Shelley, die Parallelen treten hier da recht offen zutage) als Vorlage dienten. Der Erfolg der Geschichte hinkte hinter seinen sonstigen Erfolgen her. Zu Unrecht! Wie ein spannendes Psychospiel zieht er den Leser in eine „Schnipseljagd“, die anfangs nur der Befriedigung der Neugier des Jägers dient. Nach und nach findet sich der Literat aber im Strudel der vermeintlichen Opfer wieder, die ihr eigenes Spielchen spielen.