Die Luft zum Atmen

Während auf der einen Seite des Atlantiks die Donnerwolken alles in Schutt und Asche legen, liegen am Tamarack Lake die Genesenden auf Liegestühlen und sollen sich jedweder Anstrengung durch Wegducken entziehen. Leo Marburg ist gerade angekommen. Mitte zwanzig, voller Energie. Dennoch macht ihm die Schwester bestimmt klar wie der Hase hier läuft. Ruhe. Und das in jeder Hinsicht. Keine Bewegung, keine Aufregung, keine Regung. Wenn sich der Patient an die Regeln hält, sie verinnerlicht hat, dann werden die Regeln ein wenig gelockert. Aber nur, wenn der Krankheitsverlauf es auch zulässt. Mit Tuberkulose ist nicht zu spaßen. Schon gar nicht in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts.

Miles Fairchild wird diese sedierte Runde in Unruhe versetzen. Sein Vorschlag man könne sich geistig gegenseitig herausfordern, sich unterhalten, sich sogar bilden, stößt auf ein geteiltes Echo. Die Schwesternschaft samt Arztpersonal sieht dem Vorhaben mit gemischten Gefühlen entgegen. Solange die Tuberkulose-Bakterien brav eingepackt im Körper keinen Schaden anrichten – wie aber will man das vorbeugend überprüfen? – ist alles in Ordnung. Wenn aber die Bakterien sich freisetzen und weitervermehren, dann beginnt die ganze Prozedur wieder von vorn. Wer will das schon? Vor allem, wenn man bedenkt, dass eine solche Kur nicht in ein paar Wochen zum gewünschten Resultat führt.

Auf der Patientenseite wird jede Abwechslung mit Beifallsstürmen begrüßt. Allerdings fallen die Vorträge sehr unterschiedlich aus. Gähnende Langeweile bei einem nicht enden wollenden Vortrag über Beton, lässt die Zuhörer am Gelingen des Vorhaben zweifeln. Doch nach und nach kommt Schwung in die Runde. Jeder der Anwesenden, geistreich, wohlsituiert, teils wohlhabend – in reichlich einem Jahrzehnt würden sie sich sicher bei eine Gatsby’schen Amüsement ein Stelldichein geben – hält Rückschau. So entsteht eine Spielwiese, die für jeden etwas parat hält: Naturwissenschaftler erfreuen sich an den Anekdoten über Marie Curie und Albert Einstein. Historiker staunen über die detaillierten Schilderungen der Zeit des Ersten Weltkrieges in einem Land, das von Erschütterungen weitgehend verschont blieb. Andrea Barrett raubt dem Leser die Luft und gibt sie ihren Protagonisten, damit sie atmen können.

Wie Staub im Wind

Ja, man kann sagen, dass Adela und Marcos sich vielleicht nicht gesucht haben, aber auf alle Fälle haben sie sich gefunden. Ihre Wurzeln liegen in Kuba. Adela kam als kleines Kind in die USA, Marcos erst vor Kurzem. Adelas Mutter floh von der Insel und hat sich im Washington State ein neues Leben aufgebaut. Ihre Wurzeln, ihre kubanische Vergangenheit ist nichts mehr als das, aus, vorbei, Vergangenheit. Marcos hingegen lebt seine Wurzeln. In Hialeah – Adelas Mutter ist gelinde gesagt wenig begeistert, dass ihre Tochter gerade dort wohnt, wo Kuba allgegenwärtiger ist als auf der Karibikinsel – haben sich die Exil-Kubaner eine Zuflucht geschaffen, in der sie ihren Träumen einen Hauch von Realität verleihen können. Doch das traute Zusammensein von Adela und Marcos wird auf eine harte Probe gestellt. Zum Einen ist Adelas Mutter wenig begeistert von diesem Marcos Chaple. Zum Anderen erkennt Adela auf einem Foto bei Marcos Menschen, die ihr näher sind, als sie es sich vorstellen konnte. Da ist eine Frau mit dickem Bauch. Es ist niemand Geringeres als ihre Mutter. Und der dicke Bauch … ist sie selbst!

Was Adela zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen kann, ist, dass ihre Mutter zu einer Clique gehörte, die man den Clan nannte. Das war in den 80ern. Man las, diskutierte, plante eine rosige Zukunft. Es war ein im wahrsten Sinne des Wortes erlesener Kreis. Aufstiegschancen innerhalb der Möglichkeiten waren realistisch. Ebenso so realistisch war die Streitkultur des Clans.

Als Ende der 80er in Europa ein Umsturz vollzogen wurde, der die ganze Welt umschlang, geriet die kleine heile Welt des Clans auf Kuba ins Wanken. Erworbene bzw. erhoffte Doktorwürden wurden nicht mehr anerkannt bzw. man durfte sie nicht abschließen, weil es im fernen (Ost-) Deutschland nun andere Probleme zu bewältigen gab als Kubanern ein Diplom angedeihen zu lassen. Und der kubanische Sicherheitsapparat bekommt langsam kalte Füße ob der veränderten Weltlage…

Der Clan zerbricht. Jahre später wird der Clan wider zusammengeführt. Durch ein Foto, dass die Zeiten überdauert hat. Das darüber gewachsene Gras mehr konservierte hingegen mehr die Abbildungen als dass sie verblassten. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Manchmal aber ist die Zeit ein geduldiger Genosse, der nur sich selbst hat.

Ganz behutsam baut Leonardo Padura seine Geschichte auf. Mit jedem gehauchten Stoß ins Horn der Geschichte spürt man schon den kommenden Paukenschlag. Und dieser wird unweigerlich den Leser bis ins Mark erschüttern.

Sizilien

Wenn etwas groß, richtig groß, ist, dann sollte man sich etwas mehr Zeit nehmen, um genau hinschauen zu können. Und das immer wieder. Dann wird man auch immer wieder was Neues entdecken.

So verhält es sich auch mit Sizilien. Es ist die größte Insel des Mittelmeeres. Hinschauen lohnt sich. Nicht nur, wenn der Ätna des Nachts ein Rot in den tiefschwarzen Himmel speit – was ohnehin wohl zu den größten Naturschauspielen weltweit gehört – sondern auch wenn die sengende Sonne das Land zu lähmen scheint. Auf einer Terrasse in Noto die rosa Stadt auf sich wirken lassen oder zwischen Überresten und Hinterlassenschaften von dutzenden Jahrhunderten spazieren im Valle die Templi bei Agrigent. Literaturaffine Besucher werden hier auch die Handlungsorte der Bücher von Andrea Camilleri suchen und zahlreich finden. Oder man schlendert über den Markt von Palermo, den Mercato Ballaro. Wenn man sich damit abgefunden, dass das, was da so verführerisch die Nase umweht, in unseren Breiten ohne nachzudenken in der Tonne landet, weil man es verlernt hat es zu genießen, wird dieser kulinarische Trip zu einem Ereignis, das man wirklich niemals vergessen wird.

Thomas Schröder zieht schon zum elften Mal den Leser in den Bann der abwechslungsreichen Insel in der Mitte des Mittelmeeres, vom Mittelmaß so weit entfernt wie es nur vorstellbar sein kann. Hier liegt ein Reiseband vor, den man wie einen Roman liest. Das vielbeschworene Gesetz des Schweigens ist außer Kraft gesetzt. Denn der Faszination Siziliens kann man sich einfach nicht entziehen. Auch in Corleone nicht. Dem Ort, mit dem Film- und Buchfreunde das typischste aller Sizilien-Klischees in Verbindung bringt. Hier wurde der Pate geboren, die Hauptfigur aus dem Mafiaroman von Mario Puzo. Der Ort selbst hadert nicht mehr mit seiner Vergangenheit. Das Thema wurde nicht zum Alleinstellungsmerkmal erkoren, es ist ein Teil der Stadt. Mehr aber auch nicht. Denn als der letzte Pate des Corleone-Clans, Bernardo Provenzano verhaftet wurde, ging ein weltweit spürbares Aufatmen durch die Bevölkerung. Das Vorurteil der ehrenwerten Herren geriet zum Mythos, den die, die ihn erlebten mussten, schon viel früher ins Reich der Mythen gewünscht hätten.

Sizilien ist keine Insel, die man bei einem Besuch komplett erfassen kann. Man muss schon öfter vorbeischauen und tiefere Einblicke zu erhalten. Die einzige Konstante dieser Reisen wird dieses Reisebuch sein. Kleine Anekdoten in farbigen Kästen, zahlreiche Abbildungen, detaillierte Kartenausschnitte, unzählige Tipps für alle, alle!, Sinne, und die anschaulichen, leicht nachvollziehbaren Routenvorschläge lassen die Vorfreude ins Unermessliche steigen, vor Ort ein Dauergrinsen im Gesicht der Besucher manifestieren und im Nachgang eine unvergessliche Zeit wiederauferstehen. Und nicht zu vergessen: Ohne dieses Buch wird die Planung für den garantierten nächsten Besuch fast schon unmöglich.

Ihr Tänzer war der Tod

Dass es kein gutes Ende nehmen wird, wissen wir aus der Geschichte. Dass das Ende unrühmlich, für manche unehrenhaft, auf alle Fälle aber feige und widerwärtig sein wird … damit beginnt Sophia Mott ihren biographischen Roman über Walter Rathenau. Den deutschen Außenminister, der im Juni 1922 hinterhältig von nationalistischen Freikorpssoldaten ermordet wurde. Der Weg dahin war beschwerlich.

Der Roman setzt mitten im Krieg ein, den wir heute als Ersten Weltkrieg bezeichnen. Damals war es „nur der große Krieg“. Rathenau nimmt kein Blatt vor den Mund. Für ihn sind zu erwartende Verluste nur kalkulierbare Posten in einem Spiel, das nur für Wenige als gewonnen erachtet werden kann. Die Mehrheit steht auf der Verliererseite. Das wusste man schon damals – und hält sich bis heute nicht an diese Weisheit!

Walter Rathenau musste sich nie um finanzielle Nöte sorgen. Seine Familie gründete AEG und gehörte schon deswegen zu der Minderheit, die an einem Krieg verdienen und sich selten zur Verliererseite zählen lassen mussten. Freunde hat er nur wenige. Bekannte, Gönner, Wohlgesonnene – oh, davon hatte er massig. Und Feinde! So viele, dass es seine knappe Freizeit ihm nie gestattet hätte sie zu zählen.

In seinem wachen Kopf schwirrten unendlich viele Ideen herum. Zollunion in Europa, Schlachtenkonstellationen, politische Manöver – allesamt abgewiesen. Er fand einfach keine Gönner, keine Unterstützer. Hindenburg und Ludendorf steckten lieber die Köpfe zusammen als den entscheidenden Schritt zu wagen, als dass sie Walter Rathenau Gehör geschenkt hätten. Wegen der finanziellen Absicherung hätte er die Hände in den Schoß legen können und wie der sächsische König Friedrich August III. sich einfach umdrehen und sagen können: „Macht doch Euren Dreck alleene!“. Hat er aber nicht. Machtbewusstsein, Sturheit und der unbedingte Wille etwas zu bewirken ließen ihn nicht ruhen. Auch seine Feinde beobachteten das rege Treiben. Und so kam es wie es kommen musste…

Sophia Mott nutzt das Stilmittel des Romans, um Geschichte nachvollziehbar zu machen. Ob wirklich alles genau so geschah, weiß man nicht. Doch die Folgen, die nachvollziehbar sind, lassen nur wenig Interpretationsspielraum. Unnachgiebig beschreibt sie eine Zeit, die wenig Gloria und noch viel mehr Ungemach hervorgebracht hat. Ohne abzuschweifen, lässt sie eine Zeit wieder auferstehen, die die Grundlage für die Goldenen Zwanziger war. Doch bevor sie ausschweifen konnte, war Walter Rathenau schon Geschichte. Jude, Industrieller, Politiker – die Reihenfolge ist beliebig, da er selbst gegen Juden, Industrielle, Politiker schoss, wenn es ihm passte – Rathenau zu fassen ist schwierig. Ein Wendehals war er bestimmt nicht, vielmehr ein Mann bei klarem Verstand, der ein Ziel verfolgte. Dass ihm nur Wenige dabei folgen konnten, sah er nicht als sein Problem an. Vielleicht war das sein größter Fehler…

Gute Nacht, Tokio

Wenn man nachts durch die Straße kurvt, kann man einiges erleben. Doch meist bleibt es bei ein paar aufgemotzten Luxuskarossen, deren übermütige Fahrer übermotiviert Reifen durchdrehen lassen und einen nervösen Hupdaumen haben. Das Nachtleben der Einfallslosen!

Tokio, nachts um ein Uhr. Shinjuku ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Neonröhren erhellen die Gassen und Gassen, die auch schon mal voller waren. Einzelne Taxis befördern Menschen von A nach B. Manche sind auf dem Weg in die Federn. Andere sind auf der Suche nach dem Glück. Ganz andere arbeiten. Nicht nur die Taxifahrer. Mitsuki zum Beispiel sucht eine Biwa, das Obst. Braucht man unbedingt, jetzt um diese Uhrzeit, ein Uhr nachts. Ja, braucht man. Wenn man beim Film arbeitet und der Fundus einfach keine Biwa parat hat. Sie kennt den Fundus in- und auswendig. Doch ein Biwa, das Obst, hat sie da noch nie gesehen. Wie sehen die überhaupt aus?, fragt sie sich. Pflichtbesessen, setzt sie sich ins Taxi. Ihr Freund gibt ihr einen Tipp, wo sie welche finden kann. Eigentlich wollte sie ihn schon längst in die Wüste schicken. Sie braucht keinen Freund, der ihr am Rockzipfel hängt. Doch nun ist er ihr Retter in der Not. Kaum an der Allee mit den ersehnten Früchten angekommen, steht da schon jemand. Sie klaut Biwas wie selbstverständlich. So was passiert nur in Tokio, nachts um ein Uhr.

Blackbird. Hier trifft sich die Nacht. Hier sammeln sich die, die um ein Uhr nachts in Tokio dem Schlaf die kalte Schulter zeigen. Hier fahren sie Taxis, um den Träume(r)n Zeit zu verschaffen. Eine Telefonseelsorgerin kann immer noch verblüfft werden, wenn des Nachts die Telefonbox entsorgt werden sollt. Schauspieler, die ihre Karriere noch vor sich haben hängen Träumen hinterher, die sie besser leben sollten. Und mittendrin Matsui, Taxifahrer, Seelsorger, neugieriger Chauffeur, ortskundiger Navibenutzer – kur: Der Knotenpunkt all derjenigen, die nachts um ein Uhr in Tokio das Bett nicht finden.

Atsuhiro Yoshida entwirft Schicksale, die sich perfekt in die Kulisse der Millionenmetropole Tokio einfügen. Sie sind anonyme Gestalten, die unerkannt an einem vorbeihuschen, wenn die Spots der Scheinwerfer schon wieder das nächste Opfer jagen. Doch sind sie es, die Tokio zur pulsierenden Stadt machen. Ohne sie würde etwas fehlen. Der erwartete Perfektionismus weicht um ein Uhr nachts der Verzweiflung im Dunkeln. Der Autor hat auch das Cover gestaltet. Des Nachts vielleicht als er nicht schlafen konnte???

Der Rhein, eine Reise

Bei all den sintflutartigen Beschreibungen des Rheins ist man oft gewillt ihm Zahlen entgegenzustellen. Über eintausenddreihundert Kilometer lang, sechs Länder, sie sich Anrheiner nennen dürfen. Drei Länder, Luxemburg, Belgien, Italien, dürfen sich rühmen ihm „zuzuarbeiten“. Unzählige Burgen säumen seinen Lauf. Und nun? Jetzt haben wir den Salat! Die wichtigste Wasserstraße Europas und nur Zahlen. Keine Romantik. Keine zurückliegenden Erinnerungen. Keine Klischees.

Alfons Paquet machte sich vor knapp einhundert Jahren auf den Weg, um von der Quelle bis zur Nordseemündung des Rheins zu folgen. Ja, er folgte dem Rhein. Wichtig zu wissen, wichtig zu verstehen. Ihn trieb nicht die Entmystifizierung an. Der Erste, der diese Reise tat, war er auch nicht. Er war vielmehr einer von vielen, der den Tornister schnürte und links und rechts des Rheins ins Staunen geriet. Aber, er ist immer noch einer der besten Reporter, der seine Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken schriftlich festhielt.

Schon auf den ersten Seiten kramt er die große Wortkeule raus. Mit einem Fingerschnipp sitzt man neben ihm auf Felsen und schaut in die rauschenden Fluten des kleinen Flusses hinab, der sich im weiteren Verlauf zu einem mächtigen Strom ergießt. Wie gesagt, das alles vor einhundert Jahren. Europa, besonders Deutschland keuchte unter der Hinterlassenschaften des Krieges, des es mit anzettelte. Die Inflation galoppierte nicht, sie stampfte in Riesenschritten voran. Wer Milliardär war, war ein armes Schwein. Doch man hatte den Rhein, den deutschesten aller Flüsse. Kaufen konnte man sich dafür auch nichts.

Bis heute ist jedes einzelne Kapitel ein Fest für die Augen und die Sinne. Augenblicklich möchte man die Seiten schließen, die Augen öffnen und sich gen Westen, Norden oder Süden – je nach Ausgangspunkt – begeben. Ausschau halten nachdem, was Alfons Paquet vor einem Jahrhundert einsog und nachforschen, ob die Romantik immer noch an ihrem Platz ist. Als die Engländer den Rhein als romantische Kulisse entdeckten und ein wahrer Rhine-Boom die Folge war, gab es sicherlich viel mehr Orte, an denen man sich ungestört dem Treiben auf dem Fluss hingeben konnte. Kein Eisenbahnlärm, kein Grölen auf Lustdampfern, keine Warteschlangen. Die Faszination Rhein ist ungebrochen. Und dieses Buch wird sie immer wieder aufs Neue entfachen.

Meier

Tief einatmen, und wieder ausatmen. Ein paar Schritte gehen, dann noch ein paar, und immer weiter. Meier kann ab diesem Zeitpunkt so weit laufen wie er will. Bis vor wenigen Augenblicken war das nicht so, zehn Jahre lang. Da saß er im Knast. Mord. Frauenmord. Es war’s nich. Sagt er, und das ist die Wahrheit. Trotzdem: Knast. Zwölf Jahre sollten es sein, zehn sind’s schlussendlich geworden. Drinnen hat er aufgepasst. Auf sich, die Anderen. Nun ist er draußen. Ein neuer Mensch. Mit Erfahrungen wie sie wenige machen. Gregory hat ihm gesagt, er könne zu Wassily fahren. Er könne ihm helfen, wenn er ihm einen mehr als zwanzigstelligen Code nennt. Was der öffnet oder nicht, interessiert Meier nicht die Spur. Doch es öffnet ihm Türen. Zuerst die zu Wassily. Wenn er was brauche, könne er jederzeit zu Wassily kommen…

Ja. Meier saß im Knast für etwas, das er nicht getan hat. Er hat sich arrangiert. Fast schon seinen Frieden mit der Ungerechtigkeit gemacht. Und momentan kann ihn eh nichts mehr schocken. Er ist draußen, kann mehr als sechs Schritte gehen ohne an Mauern zu stoßen. Beinahe könnte man mit Meier Mitleid haben. Nur etwas mehr als dreihundert Euro in der Tasche, die mittlerweile auf nicht mal dreißig zusammengeschrumpft sind. unschuldig im Knast. Doch dann lässt Tommie Goerz Meier einen Plan haben. Und die Geldknappheit in einen zeitlich begrenzten monetären Höhenflug verwandeln. Kurz gesagt: Meier klaut ein Auto, samt Geldkarte, hebt ein paar Tausender ab, mietet sich in einer Pension ein. Ein Kind von Traurigkeit sieht anders aus.

Mit allerlei Tricks und noch mehr Gaunereien muss sich Meier um seine finanzielle Basis nicht sorgen. Er hat immer Geld. Es gibt immer einen, der unvorsichtig ist. Dass das auch anderen auffällt, ist nur eine Begleiterscheinung. Man versucht ihn, Meier, zu bestehlen, die Polizei versucht ihn mit sehr durchschaubaren einmal mehr zu überführen – Meier besitzt genug Chuzpe, um allen möglichen Fallstricken zu entziehen. Doch dann fällt der Name Fürsattl. Es wird Zeit für Meier sich seiner Vergangenheit zu stellen…

Glauser-Preis 2021 für Meier! Zurecht! Tommie Goerz wirft einen Helden in die Krimi-Arena, der eigentlich gar nicht dazu taugt. Ein unreuiger Sünder, der für etwas büßen muss, was andere zu verantworten haben. Rache ist nicht sein Ding, bis ihm doch noch rechtzeitig klar wird, dass er durchaus dieser Berufung folgen kann. Was als stilles Gedankenspiel im hinteren Oberstübchen begann, betritt spät, doch nicht zu spät den Salon der Perfiditäten. Was Meier einst genommen wurde, kann ihm niemals jemand zurückgeben. Aber wer sagt denn, dass Geben seliger als nehmen ist?

Simplissime Sizilien

Es gibt zwei Arten von Reisebüchern, die man im Urlaub dabei haben muss. Die Einen sind die extra starken, bei denen man das Gefühl hat, dass der Autor jeden Stein extra umgedreht hat und jeder Grashalm die Richtung zum nächsten Hotspot weist. Die Anderen sind die kleinen Reisebände. Kurz und knackig geben sei dem Unwissenden vor Ort die nötige Hilfestellung, um bloß nichts zu verpassen. Und trotzdem muss man ständig Hin- und Herblättern, um nicht in der Fülle der Informationen unterzugehen. Dann wird aus der schönsten Zeit des Jahres die schlimmste Zeit fernab der Heimat. Wer will das schon?!

Hier haben sich die Macher größte Mühe gegeben jeden größeren sehenswerten Ort auf der größten Insel des Mittelmeeres so informativ wie möglich auf einer Doppelseite dem Besucher näherzubringen. Und es klappt! Zwei Touren durch das zauberhafte Sizilien warten nur darauf, dass dem Reisenden das Wasser nicht nur aus den Poren rinnt, sondern im Munde zusammenläuft. Einmal der Osten samt Ätna, und zum Anderen der Westen mit Palermo als Ausgangspunkt. Knappe anderthalb Wochen sollte man pro Reise einplanen. Wer also in dieser Zeit so viel wie möglich sehen und erleben will, Sizilien als Eroberungssehnsuchtsort erkoren hat, sich die Hosentaschen aber nicht mit dicken Reisetipps voll stopfen möchte, braucht einen praktischen Reiseführer. Am besten den Besten der Welt. Nur unwesentlich dicker als ein Stück Butter, und auch geringfügig leichter als eben dieses. Die besten Grundvoraussetzungen für Tage und Wochen voller Ereignisse, gepaart mit dem guten Gefühl nichts verpasst zu haben.

Jeder Ort, Palermo, Cefalu, Taormina, Agrigent, Ragusa, Noto, Catania wird auf mehreren Seiten grundsätzlich dargestellt. Pro Doppelseite gibt es das volle Infoprogramm, das keine Wünsche offen lässt. Mal eine kleine Bäckerei, mal eine ortsübliche Gepflogenheit, mal der Aussichtspunkt, den man sich (leider) mit vielen Anderen teilen muss, weil er einfach zu eindruckvoll ist. „Einfach los!“ heißt es im Untertitel des Bandes. Und genauso kann man es auch tun. Zahlreiche Abbildung und kurze Infotexte liest man sich im Flieger gen Süden durch, macht sich Notizen – auch dafür ist im Buch ausreichend Platz – und schon kurz nach dem Auschecken kann das Abenteuer Sizilien starten.

Es gibt kleinere und leichtere Reisebücher, die verschweigen aber schon am zweiten Tag wichtige Informationen. Das ist der Fluch der Kompaktheit. Die neue Reihe Simplissime schafft tatsächlich den Spagat zwischen umfassender Information und Reisetauglichkeit unter einen Hut zu bringen. Wer schnell viel erleben will, ohne ewig im Netz nach dem Weg zu surfen oder permanent in Büchern nach der nächstgelegenen Attraktion suchen will, tut sich selbst etwas Gutes, indem mit diesem Buch reist.

Köstliches und Kostbares

Wenn man auf drei Kontinenten zu Hause ist, wird die Beantwortung der Frage nach der Heimat zu einem Hindernislauf. Die Wurzeln sind unleugbar. Maryse Condé ist auf Guadeloupe geboren, lebte in Afrika, Frankreich und lehrte in den USA. Schon im Vorwort wird klar. Heimat ist dort, wo der Herd steht. Schon als Kind stromerte sie in der Küche herum und vermengte allerlei Zutaten zu einer leckeren Mahlzeit. Ihre Geschwister und ihre Eltern waren erstaunt. Das Hauspersonal ging der Kleinen zur Hand.

Die Leidenschaft zum Kochen, zum Bewirten und zum Essen war ihr in die Wiege gelegt worden. Früchte und Fleisch, Reis, deftige Soßen waren die ersten Beigaben zum Glücklichsein. Dieses Glücklichsein hat sie auf ihren Reisen und ihren Aufenthalten in der Ferne bewahrt. Immer gab es irgendwo ein afrikanisches Restaurant oder eine karibische Gruppe, die ihr die Heimat für einen Moment, für einen Abend zurückholte. Wenn Liebe durch den Magen geht, ist Maryse Condé eine geliebte Frau. 2018 wurde ihr der alternative Literaturnobelpreis verliehen. Auch eine Art Liebe zu zeigen.

Es gibt viele Romane, deren Helden sich durch ein reichhaltiges Menü der Sorgen des Alltags entledigen. Ob Camilleris Montalbano, Brunetti in Venedig oder Aurelio Zen, der in seiner Karriere in ganz Italien nicht nur Fälle löste, sondern auch die regionalen Küchen kennenlernen durfte, sie alle wurden am Kochtopf der Heimat ein Stück näher gebracht.

Dieses sehr persönliche Buch ist die konsequente Fortsetzung der Lebensgeschichte von Maryse Condé, die den Leser schon in „Victoire“ so facettenreich ihr Leben offenbarte. Sie würzt ihre Gedanken mit einer ordentlichen Portion Wucht an Worten. Man riecht die Zutaten förmlich, wenn sie in Erinnerungen schwelgt. Abgerundet wird jedes Kapitel mit der Zutat, ohne die jedes Gericht nur fad schmeckt: Liebe.

Ob nun Agouti-Ragout mit Bitterspinat, Garnelen, Zackenbarsch, Mafé, Flankoko (ohne Rum!, den wollte sie schon als Kind hinzugeben) – hier schmeckt einfach alles. Das einzige, was hier verwässert ist, ist der kiololo, ein mehr als dünner Kaffee wie man ihn in der kreolischen Küche oft findet. Ansonsten ist jedes Kapitel, jede Seite, jeder Absatz ein köstlicher und kostbarer Gruß aus der Küche der Erinnerungen.

Geiseln

Irgendwann einmal hat man genug. Irgendwann einmal ist es einfach zu viel. Irgendwann einmal fügt man sich nicht mehr. Begehrt auf. Ergreift Partei. Wehrt sich. Übt Rache. Nimmt das Heft des Handelns in die Hand.

Bisher war Sylvie Meyer immer diejenige, die sich brav fügte. Alle Arbeiten wurden erledigt. Sie stieg in ihrer Firma auf. Sich beschweren oder gar aufbegehren entsprach nicht ihrem Naturell. Auch als sie ihr Chef bat die Kollegen zu bewerten, sie zu katalogisieren und in ein Rankingmuster zu zwänge, war es für Sylvie nur eine Arbeit, die sie machte. Das war einmal, Vergangenheit, Präteritum. Die Fünfzig hinter sich gelassen, vom Mann verlassen – die neue Sylvie ist eine gefährliche Frau. Nicht für jedermann, doch für die, die sie ausnutzen wollen, sich ihrer habhaft machen wollen, sieht’s nicht rosig aus, wenn sie eine rosige Zukunft haben wollen. Ein geschlagener Hund, beißt irgendwann einmal zurück. Und der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht. Nein, Sylvie lässt sich nicht mehr brechen. Ihr wird klar, dass all die Mühen, die Arbeit, die Eigeninitiative ihr niemals zu einem Dank verhelfen wird.

Sylvie wird lernen, dass lang anhaltender Schmerz selten Konsequenzen hat. Aber ein kurzer Impuls der Gewalt – da ist das Wort, das sie scheinbar nicht kennt, oder hat sie es nur verdrängt? – hat eine lang anhaltende Wirkung. Sie kann sich wieder einmal fügen. Sie kann auch in die Offensive gehen. Sie weiß, dass Frauen den Schmerz besser aushalten als Männer. Sylvie ist eine Frau. Eine starke Frau. Sie erträgt vieles, aber nicht alles.

Nina Bouraoui spielt gekonnt mit dem Begriff Gewalt. Mit den ersten Zeilen lässt sie Sylvie mit dem Begriff Gewalt fremdeln. Sie ist präsent, doch niemals nah. Sylvie will nicht verletzen, sie will ja schließlich auch nicht verletzt werden. Dennoch ist die Gewalt immer da. Auch wenn Sylvie es (bisher) immer verdrängt hat. Deswegen ist sie noch lange nicht schwach. Als sie ihren Chef in ihrer Gewalt hat, spürt sie die ihr verliehene Macht. Verliehen, das ist es! Die Macht, die mit der Gewalt einhergeht, ist nur geliehen. Irgendwann ist sie passé.

Es sind nicht die Gewaltfantasien, die „Geiseln“ zu einem außerordentlichen Buch machen. Es sind vielmehr die Lücken, die der Leser selbst füllen darf, die dem Buch die Größe angedeihen lassen. Ihre Hauptfigur ist größer als sie es sich vorstellen kann. Sylvie sonnt sich nicht im Gefühl des Triumphes über den Mann, der sie jahrelang unterdrückt hat, indem er ihr anscheinend Macht verlieh. Ihre Selbsterkenntnis ist ihr Lohn genug.