Die Hungrigen

Es waren einmal zwei Brüder. Die lebten in einem Städtchen in Süditalien. Um sie herum war nichts. Auch das, was da war, war nichts. Paolo schuftete auf dem Bau. Sein Chef gängelte ihn, wo er nur konnte. Paolo ließ ihn reden. Fraß die Wut in sich hinein. Antonio, der Jüngere der beiden, würde bald die Schule abschließen. Er kannte keine Wut. Nur Hoffnungslosigkeit. Aber die würde sich legen. Davon war er überzeugt. Dass er selbst etwas dazu beitragen müsse, war ihm nicht klar.

Die Mutter verließ die Brüder schon vor Jahren. Ließ sie zurück mit dem gewalttätigen Vater. Doch auch dieses Kapitel ist schon gelesen – den Vater gibt es nicht mehr. Das Nichts um sie herum kompensieren Paolo und Antonio mit Kiffen, Pizza und belanglosem Sex. Das Morgen ist ebenso weit entfernt wie das Gestern.

Unmerklich geraten beide – unabhängig voneinander – in einen Strudel, der ihr Leben gar nicht noch mehr durcheinander wirbeln könnte. Dennoch tut er es. Gewalt und Hass, stumpfsinniger Leichtsinn und eine gehörige Portion Trauer werden alsbald mit Paolo und Antonio ein Triumvirat der Verzweiflung bilden. Immer wieder wünscht man sich beim Lesen, dass der Anfang bitte niemals das Ende sein darf. Denn im Tiefsten ihres Herzens sind die beiden nur verlorene Seelen, die sich krampfhaft aneinander schmiegen, um bloß nicht den Kitt, der sie zusammenhält, fressen zu müssen, um überleben zu können. Doch das Schicksal hat andere Pläne…

Mattia Insolia lässt zwei hoffnungslose Gestalten die Szenerie beherrschen, die eine viel zu große Bühne für zwei Brüder ist, denen jegliche Erfahrung im Leben versagt geblieben ist. Ihnen ist der einfache Weg mit Schuldzuweisungen der einzig verbliebene Weg, um voranzukommen. Die Hürden umlaufen sie, an Klippen hangeln sie sich hinunter. Dem Kick des Springens können sie nichts abgewinnen. Und so betreten sie die unheilvolle dunkle Halle des Abstiegs, um erst am Boden des Grundes zu erkennen, dass ihre Zweisamkeit das einzige Mittel ist, um überleben zu können. Doch da ist es schon zu spät.

Frau Helbing und der tote Fagottist

So ein netter Mann, der Herr von Pohl. Fagottist ist er und hat seiner Nachbarin Frau Helbing Karten für eine Matinee geschenkt. Zusammen mit ihrer Freundin Heide lauschen die beiden den sanften Klängen von Mozart. Und sie beobachten welch ein Charmeur Henning von Pohl ist. Das schlohweiße Haar, das freundliche Gesicht – das bringt Frauenherzen zum Schmelzen. Für Frau Helbing mehr Amüsement denn Grund zur Sorge. Denn Grund sich um Henning von Pohl zu sorgen hat sie später noch genug. Ein paar Tage später sitzt er quietschvergnügt in ihrer Küche, schlürft Kaffee und schwärmt davon wie schön der Tag doch sei. Und verschwindet so schnell wie er gekommne war. Doch ohne sein Instrument, das Fagott, das wohl so einiges wert sein dürfte, mutmaßt sie. Als kurze Zeit später zwei weitere Kollegen sich nach von Pohl erkundigen – sie haben ihn vermisst – steht für die einstige Fleischereifachverkäuferin fest: Henning von Pohl ist etwas zugestoßen. Als passionierte Krimileserin hat sie da auch schon einen Verdacht, was das sein könnte… Mord!

Naja, so verkehrt liegt sie vorerst nicht. Von Pohl ist tot. Drei Wespenstiche haben einen allergischen Schock ausgelöst und sein Leben ausgelöscht. Dennoch: Frau Helbing bleibt bei ihrer Theorie. Und die lautet nun mal Mord. Kommissarin Schneider tut dies als Spinnerei einer alten Dame ab, die eindeutig zu oft und zu tief ihre Nase in Krimis gesteckt hat. Wo die Nase auch gefälligst zu bleiben hat. Ebenso Heide. Die ist wenig angetan vom Übereifer ihrer Freundin. Nur der Schneider Herr Aydin, der damals nach dem Tod von Frau Helbings Gatten deren Fleischerei übernahm und daraus eine ansehnliche Werkstatt machte, folgt den Gedankengängen der sympathischen Alten. Doch was nützt das alles?! Frau Helbing muss auf eigene Faust ermitteln… Ja, sie muss.

Krimiautor Eberhard Michaely traut seiner Frau Helbing einiges zu. Eine rüstige Frau, die sich ihr Leben lang in den Dienst des Familienbetriebes gestellt hat, schiebt man nicht einfach so aufs Abstellgleis. Sie ist nicht die resolute Matrone, die mit Worten und Lammkeulen gleichermaßen jongliert. Sie ist die bescheidene hanseatische Arbeiterin, die sehr wohl weiß, was sie sich zutrauen kann. Ab und zu mal einen Schritt zu weit wagend, doch immer Frau ihrer Sinne. Ganz ohne feministische Tendenzen. ’Ne Frau, die weiß, was sich gehört. Im Hamburger Grindelviertel ist es nämlich nicht so vertraut und geruhsam wie man es vermuten könnte. Und Frau Helbing stößt in ein Horn, das selbst Wespennester durchlöchert…

Alles Eisen des Eiffelturms

Dieses Buch liest man nicht! Man flaniert durch dieses Buch hindurch. Sind die Füße ermattet, liest man es ein zweites Mal. Werden die Augenlider schwer, träumt man sich in ihm in die Stadt der Liebe, der Künstler, der Flaneure, des Lichts… Und eines Tages trägt am es in der Hand und tut es den Akteuren gleich. Dann, erst dann hat das Buch seinen Zweck mehr als erfüllt. Abgegriffen liegt in den Händen, die die Stadt einfangen wollen. Eselsohren sind die Leitpunkte der zahllosen Spaziergänge durch das Paris, das nicht mehr existiert. Ein Paris, das im Massentrubel ertrunken ist und mit immer wieder neuen erwachenden Angeboten um die Gunst der dürstenden Menge buhlt. Und sich dabei selbst stellenweise aufgibt.

Das Paris dieses Buches ist rund ein Jahrhundert jünger. Walter Benjamin und Marc Bloch. Geistige Väter – für manche Unruhestifter – eines Deutschlands, das in zwölf Jahren den Gegenentwurf zu allem Menschlichen liefert und in Tiefen stürzen wird, aus denen es bis heute nicht vollständig herausgeklettert ist.

Michele Mari ist der Marionettenspieler dieser zwei Köpfe, die in Paris als Passagiere der Verzweiflung gestrandet sind. Mit ihrem Willen gestrandet – ein Widerspruch? Mit Nichtem! Ihre Heimat ist nicht hier. Hier ist lediglich eine erste Endstation. Bis die Braunen und Grauen auch die Farbenpracht der Stadt an der Seine mit ihrem Schlamm bedecken. Es sind sie Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre zuvor. Sie lassen die beiden träumen, ackern, wünschen, hoffen, aber auch verzweifeln, argwohnen, frösteln, trauern. Ihre Bücher sind nur noch Asche. Ihre Namen Schall und Rauch. Doch nicht vergessen.

Sie treffen Menschen, die wir heute als Götter verehren. Namen wie Donnerhall, die in Paris das alte Paris der Künstler suchen, es zum Teil aufbau(t)en, es zu ihrem Paris machten. Und nun? Die Enge der Heimat schnürt Walter Benjamin die Kehle zu. Und bevor dies andere tun, ist er lieber Vertriebener in Paris als getriebener in Berlin. Marc Bloch wird das Versagen der französischen Streitkräfte beim Blitzüberfall der Wehrmacht auch Anfeindungen einbringen.

Michele Mari würfelt Realität und Fiktion derart durcheinander, dass dem Leser schwindelig wird. Hat man erst einmal begriffen, dass es unerheblich ist dies auseinanderhalten zu müssen, ist „Alles Eisen des Eiffelturms“ Pflichtlektüre für den nächsten Trip in die Stadt der Liebe.

Der Walder vom Schwarzwald

Es ist ein Leichtes jemandem etwas vorzuwerfen, das gegen einen selbst gerichtet ist. Genauso einfach ist es immer nur das Contra seines Gegenübers in Feld zu führen, will man ihn in Misskredit bringen. Einen Menschen zu würdigen, der mit seinem ganzen (!) Tun aber immer (!) nur das Gute bewirken wollte, dafür muss man schon tief in den Erinnerungen graben. Annette Maria Rieger tut das. Und zwar in ihrem Buch über Walter Trefz. Walter wen? Trefz? Nie gehört.

Im Schwarzwald und bei denen, denen der Naturschutz im Allgemeinen und Waldschutz im Speziellen am und im Herzen liegt, ist Walter Trefz eine Legende. Unerwartet im Juli 2021 verstorben. Er war der Förster im Kniebis, einer Waldgegend zwischen Karlsruhe und Freiburg i. Br. gelegen. Hier wollte er keine Visionen verwirklichen. Nicht Unwirkliches erschaffen. Keine Kommune mit wilden Ideen gründen. Er wollte den Wald schützen. Einfach, weil es ihm möglich erschien. Und vor allem, weil es notwendig war, ist und wahrscheinlich auch immer sein wird.

Er war ein Rebell. Dieses Label ließ er sich anheften. Denn er wusste, dass Label für Öffentlichkeit sorgen. Eine Rampensau war er deswegen nie. Aber wenn man ihm ein Podium bot, sprang er selbstverständlich als Sprachrohr ein. Der Wald wisse schon wie er sich zu verhalten habe. Der Mensch habe gefälligst seine Finger aus ihm herauszuhalten. Als Spaziergänger, Pilzesammler, auch als Jäger ist der Mensch in Maßen willkommen und mancherorts und manchertags sogar von Nöten. Ansonsten ist er Besucher und habe sich wie selbiger zu verhalten.

Der Walder, wie man ihn, wie die Autorin, die ihn mehrmals besuchte und interviewte, war ein streitbarer Kämpfer. Aber auch ein exzellenter Erzähler. Wenn man von ihm behauptet, er wusste alles (über den Wald), dann kommt keiner dieser Wahrheit näher als der Walder.

Vielen war er ein Dorn im Auge. Immer wieder geriet er mit seinen Vorgesetzten aneinander. Umschiffte so manche Klippe. Und doch zerschellte er auch an einigen Brocken, die man ihm vor die Füße warf. Blauäugig – das kann man ihm nicht vorwerfen. Je mehr er mit scheinbar unverwirklichbaren Ideen die Oberen gegen sich aufbrachte, desto öfter tappte er in Fallen, die ihm schlussendlich den Job kosten sollten.

Annette Maria Rieger gelingt ein Portrait eines Idealisten zu zeichnen, dessen Waffe der Verstand war. Mit spitzer Zunge – und nicht immer politisch korrekt, aber als Rebell ist das ja eine Grundvoraussetzung für den Kampf – und mit messerscharfen Argumenten hielt er sich länger über Wasser, was so manchem Bürotäter die Schweißflecken in frisch gebügelte Hemd presste. Dieses Buch ist ein Denkmal – mehr wert als jeder Marmorsockel und jede Gedenktafel.

Boulevard des Philosophes

Immer ganz nah am Geschehen, nichts hinzugefügt, aber noch weniger etwas ausgelassen. So kann man in zwei Sätzen diesen Rückblick, die Biographie, diese Ehrerbietung vor dem Vater beschreiben. Aber zwei Sätze reichen nun mal nicht aus, um dieses Buch, das vor mehr als einem Jahrhundert erschien – und nun endlich wieder auf Deutsch erhältlich ist – einzuordnen.

Biographen ist es in die Wiege gelegt Daten und Fakten der Reihe nach aufzuzählen. Wer hat wann das erste oder letzte Mal dies oder das getan. Heraus kommt allzu oft eine Tabelle in Prosaform, die sich zwar gut lesen lässt, jedoch das Wesen der beschriebenen Person nicht erfasst. Kaum hat man mal den Olymp der Charts erklommen, stehen schon die ersten Schreiberlinge auf der Matte, die jede Einzelheit aus dessen Leben genauestens kennen und daraus Profit schlagen wollen. Oft klappt das. Doch den Gipfelstürmer kennt man immer noch nicht.

Ganz anders in diesem Buch. Georges Haldas – fast vergessener Schweizer Poet – legt mit diesem Buch nicht nur Zeugnis ab. Er beschreibt seinen Vater als einen gebrochenen Mann. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war Kephalonia die Heimat des kleinen Georges. Dann wanderten die Eltern in die Heimat der Mutter, die Schweiz, Westschweiz, aus. Hier begann für den Vater ein Leidensweg, den er zeitlebens nie mehr verließ. Als Buchhalter schlug er sich durch, um die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Als Ausländer war er ständigen Sticheleien ausgesetzt. Als gebildeter Mann war er nicht mehr gefragt. Selbst im eigenen Hause nicht.

Oft drohte er aufzubrechen, in den norden, nach Spitzbergen. Nur, um Ruhe zu finden. Gen Süden, Griechenland, Kephalonia zog es ihn hingegen nicht. Die Heimat war ihm fremd geworden.

Der kleine Georges sah dem Trauerspiel unverstanden zu. Erst im Alter begriff er den Vater samt Schmerz und Zorn. Daraus erwuchs dieses Buch, das an Intensität kaum zu überbieten ist. Den einen oder anderen großen Knall sieht man als Leser vielleicht kommen. Doch er kommt in Etappen und bröckchenweise. Das macht es sehr angenehm in diesem Buch von einer Kindheit zu lesen, die lange zurückliegt – Georges Haldas wurde 1917 geboren. Immer wieder ertappt man sich dabei diesen einen großen Knall vermeintlich überlesen zu haben. Beim Zurückblättern merkt man einmal mehr, dass dieser nicht vorhanden ist. Das ganze Buch ist dieser ersehnte Knall. Und wenn man ganz leise ist, aufmerksam liest, dann bemerkt man ihn schon während des Lesens.

Lärm

Konrad Schnittweg ist weg. Abgeschnitten aller Verbindungen zu denen, die einmal eine Rolle in seinem Leben spielten. Nur ein Brief – der Presse zugespielt – verbindet ihn noch mit der Welt. Doch dieser Brief ist mehr als rätselhaft. In dem kündigt er, Konrad Schnittweg, der Psychotherapeut, an einen Europapolitiker umzubringen.

Und schon springt die Presse darauf an. Logisch, denn das ist ihr Job. Berichten, was berichtenswert ist. Die Verbindungen zur RAF sind naheliegend. Schnittweg ist ein gebildeter Mann. Ruhig bis sehr ruhig. Besonnen. Ein Schlingel, wenn es darum geht Frauen zu bezirzen. Ein guter Ehemann. Ruheliebend. Bei seinen Recherchen dem – mittlerweile muss man es so sagen – Phänomen Konrad Schnittweg auf die Spur zu kommen, ist Guy Helminger mitten in einem Puzzelspiel, in dem einige Teile nicht so recht ins Bild passen.

Während Kameraden, mit denen er bei der Bundeswehr gedient hat, ihn als ruhig bezeichnen, der keinen eigenen Musikgeschmack hatte, berichtet seine Ex, dass er seine Hose niemals geschlossen halten konnte. Und dass die Presse in Person von Axel Kleider aus dem Brand der Praxis Schnittwegs am Tage seines Verschwindens eine Riesensache machen will, ist auch nicht unverständlich. Helminger selbst hat Schnittweg schon kennengelernt. Schnittweg auf dem Rad, Helminger im Auto und plötzlich Schnittweg auf der Motorhaube und Helminger erstarrt darin. Nichts passiert. Schönen Tag noch. Wer soll da nicht verwirrt sein?!

Guy Helminger kreiert eine Story um einen Mann, den es so gegeben haben könnte. Auch der mögliche Weg in den Untergrund ist durchaus so oder in ähnlicher Form schon passiert. Man denke nur an Gudrun Ensslin, die aus ihrem Elternhaus (Vater Pfarrer) den Weg in den Untergrund fand und unter anderem mit Andraes Baader, Holger Meins und Ulrike Meinhof die erste Generation der RAF bildete. Für Axel Kleider, den Journalisten, der Schnittwegs Werdegang in der Zeitung breittrat, eben solche Vergleiche zog und Vermutungen anstellte, ein gefundenes Fressen. Doch er weiß nicht alles.

Guy Helminger weiß mehr. Behauptet er zumindest. „Lärm“ ist ein Roman. Die Geschichte, die dahinter steckt, ist umso spannender, weil die Fiktion die Faktenlage komplett schluckt. Alles kann, nichts muss … so gewesen sein. Wer mit wem und wann – Fragmente. Und da das Wort Frage in Fragmente steckt, oh nein … so weit sollte man beim Lesen nicht gehen. Man muss sich in die Geschichte richtig einlesen. So breitet sich vor einem ein Bild aus, das mit einem großen Berg Puzzleteilen beginnt. Zuerst dreht man alle teile mit dem Gesicht nach oben. Man sucht sich die Eckpunkte. Das ist am einfachsten, es gibt nur vier. Dann steckt man den Rahmen ab. Und nach und nach füllt man die Lücken. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer zusammenpasst – wenn das Bild komplett ist, freut man sich so sehr, dass man es in die Welt hinausschreien möchte. Vielleicht hört es ja sogar Konrad Schnittweg und kommt zurück. Und dann? Schmeißt er sicherlich den Tisch um. Und die Arbeit beginnt von vorn.

Leichendieb

All das Leid der Welt ist soweit weg für den Erzähler. Terror, Elend, Verwahrlosung, Gewalt – weit weg von seinem Leben. Und außerdem ist Sonntag. Angeln ist zwar weg der Laichzeit nicht erlaubt. Aber raus in die Natur, in die Ruhe – das kann ihm keiner verbieten. Das eine oder andere Bierchen trägt dazu bei sich träge zu fühlen. Sulamita zu Hause kümmert sich um die Kinder. So was grenzt schon fast an Glück.

Und so sitzt er im Grünen, lauscht dem Nichts des Sonntags. Bis ein Brummen, ein Motorengeräusch seine Aufmerksamkeit erregt. Der laute Knall, die Rauchsäule lassen ihn all das erlebte Gute prompt vergessen. Das war’s dann wohl mit der Ruhe am Sonntag! Und nicht nur am Sonntag … Denn nun macht er sich auf dem Weg nachzuschauen. Er watet, er schwimmt zu dem Wrack und sieht die klaffende Wunde am Kopf des Piloten und einzigen Menschen an Bord. Die beruhigenden Worte, dass alles gut werde, helfen nicht viel – der Pilot stirbt in seinen Armen. Ihm schießt durch den Kopf, dass der Mensch an sich nicht gut sei. Denn Gelegenheit macht Diebe. Die Uhr ist nur ein Zubrot im Vergleich zu dem, was sonst noch entdeckt: Ein Päckchen wie aus einem Film. Luftdicht verpackt. Viel Klebeband drumherum, um es vor Feuchtigkeit zu schützen. Ein in zahllosen Filmen geschulter Kennerblick, ein Schnitt, eine Zungenspitze probiert, Taubheitsgefühl: Alles klar – Kokain. Das ist mehr wert als eine goldene Uhr. Wenn man es an den Mann bringen kann. Das trainierte Kaufmannsauge füllt die Päckchen im Kopf schon ab. Ein roter Stern auf jedes Päckchen. Niedriger Preis. Und im Handumdrehen sind ein Kilo und einhundert Gramm reinstes Kokain verkauft. Und sein Neustart in Corumbá läuft so wie er es will. Die Polizei schläft heute Nacht in seinem Arm, in Person von Sulamita. Das sollte also auch nicht das Problem sein. Doch es kommt alles ganz anders. Denn einfach so in einen etablierten Markt einsteigen (und vor allem dann auch wieder „einfach so“ auszusteigen) ist unmöglich – das erzählt ihm seine „Informantin“ bei der Polizei. Und wenn man dann noch ein törichten Fehler begeht, in dem man beim Vater des toten Piloten arbeiten will und ihm anonym den Tod des Sohnes mitteilt … besonders, wenn der Leichnam verschwunden ist … ja, dann … dann sieht man sich mitten in einem Film wieder, in dem man unfreiwillig die Hauptrolle spielt. Jetzt muss er zum Helden werden. Vorerst ist er nur ein Leichendieb.

Patrícia Melo krallt sich mit diesem Buch jeden Leser, der die erste Zeile zum Anlass nimmt weiterzulesen. Immer tiefer schlägt sie ihre Krallen ins Fleisch der Neugier und lässt ihn nicht mehr los. Die Aussicht, dass es bis zur letzten Seite keine Lesepause gibt, spürt man erst, wenn man das Buch wieder zuklappt. Doch Vorsicht! Man wird es vielleicht noch einmal lesen. Und dann schnappt die Falle erneut zu!

Polly Polydeukes

Da sind sie, die Brandlers. Mama, Papa, Sohn und Tochter. In trauter Einigkeit. Tochter Polly ist ein aufgewecktes Mädchen, das boxt und auch sonst nicht auf die Nase gefallen ist. Und wenn es doch mal blutet, dann rappelt sie sich auf, schüttelt sich und … weiter geht’s.

Weiter geht’s ist gar nicht so verkehrt. Für sie geht der Weg weiter, immer weiter, niemals aufgeben. Besonders, wenn man den eigenen Vater sucht. Nicht Herrn Brandler. Ihren Erzeuger sucht sie. Schon ihr ganzes Leben lang. Jetzt bricht sie endlich auf, ihn nicht nur im Herzen, in ihren Gedanken, sondern ganz real, geographisch zu suchen.

Paraguay ist für viele ein Land, das ganz weit weg liegt, von dem na nichts weiß. Armenhaus Südamerikas. Aber auch ein Land, in dem schon früher einmal Deutsche Zuflucht fanden. Und zwar die, die besser keine Zuflucht im Paradies hätte finden würfen. Nazis. Kriegsverbrecher. Menschenschänder. Abschaum. Doch soll Pollys Vater auch einer von ihnen gewesen sein? Immer wieder trifft sie auf Spuren dieser Deutschen, die ihr mit Freude – wegen der gemeinsamen Sprache und Wurzeln – begegnen. Ihr aber auch Misstrauen entgegenbringen, weil sie mehrere Generationen später weit weg von zu Hause rumzuschnüffeln beginnt. Ihr Bruder ist ihr dabei die einzige Stütze.

Auch als sie mit wahren Wohltätern, Jesuiten, in Berührung kommt. Ihre Missionierung vor mehr als einhundert Jahren war nicht minder blutiger als die Gräueltaten der anderen Deutschen, die nun hier unten im Paradies ihre neue Heimat gefunden haben, und die alte Heimat immer noch triefend im Herzen vor sich hinbluten lassen.

Walter Hönigsberger ist nicht dafür bekannt, schnöde Geschichten voller rührseliger Gefühle aufs Papier zu bringen. Er geht in die Tiefe, wie schon in „Clos Gethseman“, in dem er dem Ursprung der ersten Weinbauern auf den Grund geht. Und so auch in „Polly Polydeukes“. Sie muss sich durchkämpfen – durchboxen – bis sie für sich eine Antwort erhält, die ihr genug ist. Hat sie bisher im Boxstall ihrer Gegner zermürbt und mit dem Gong ihren Kampf beendet, muss sie nun in einen Ring steigen, der keine Seile hat, die nachgeben und sie mit neuem Schwung in die Arena zurückkatapultieren. Jeder Niederschlag tut weh. Und ein Ende dieses Kampfes ist noch lange nicht abzusehen.

Oben Erde, unten Himmel

Cineasten kommt bei diesem Titel sofort „Der dritte Mann“ in den Sinn. Als Paul Hörbiger – des Englischen nicht mächtig – Himmel und Hölle im Fingerzeig verwechselt (in der deutschen Synchronisation wurde der Fehler allerdings behoben).

Suzu lebt in so einer Welt. Hinter dem geheimnisvollen Wort Kodokushi verbirgt sich ein trauriger Begriff. Menschen, die völlig allein lebten, isoliert von der Welt draußen, sterben – wohl die einzige Gemeinsamkeit mit dem Rest der Welt. Doch wie im Leben so im Tod: Niemand nimmt davon Notiz. Wenn der Tod bemerkt wird, kommt die Putzkolonne von Herrn Sakai. Pflichtbewusst und stumm, fast unmerklich beseitigen sie die Reste eines Lebens. Fräulein Suzu ist eine dieser unauffälligen Arbeitsbienen, die Dienst verrichten, aber niemals erkannt werden.

Fräulein Suzu verrichtet ihren Dienst wie man es von ihr erwartet. Sie wischt, fegt, sammelt ein. Ohne groß dabei nachzudenken. Im Laufe der Zeit verfestigt sich in ihr der Gedanke, dass sie doch nicht so allein ist auf der Welt. Im Team arbeiten ist eben doch mehr als nur Arbeit.

Und die Schicksale der Menschen, deren Leben sie schematisch wegwischt? Ein Mann, der schon vor Jahren aus dem System ausgestiegen ist, wie es in den Medien heißt, ist allem Anschein nach doch nicht selbst gewählt aus dem Leben geschieden. Er hinterlässt einen Sohn. Einen behinderten Sohn. Und schon ist ein Kamerateam zur Stelle, das die Arbeit der Reinigungsbrigade begleiten soll. Suzu zögert erst. Was, wenn ihre Familie sie erkennt? Die weiß nichts von ihrem außergewöhnlichen Job. Aber wie soll sie erkannt werden in ihrem anonymen Outfit, das so anonym ist wie sie selbst? Sie willigt ein sich filmen zu lassen.

Es ist Sommer, die wärmste Jahreszeit. Alles blüht. Man reckt sich nach dem Leben. Und Suzu? Sie auch, und das obwohl ihr ganzes Leben in einem stillen Umbruch begriffen ist. Wann wird sie es bemerken?

Milena Michiko Flašar wacht wie eine alles überschauende Mutter über das Wohl ihrer Protagonistin. Ruhig und behutsam erlaubt sie ihr erste Schritte in die „Welt da draußen“. Die Welt ist nicht schön – schnell verliert man sich in ihr. Fräulein Suzu ist aber nicht allein. Sie muss es nur einmal erfahren, um sich komplett in ihr verwirklichen zu können. Denn dann dreht sie sich weiter.

Aminas Lächeln

Jeder hat mit seinem ganz persönlichen Druck zu kämpfen. Ein Gerüstbauer spürt sicher einen ganz anderen Druck, wenn er die Bauteile auf seinen Schultern trägt als eine junge Tunesierin – Amina – die jeden Tag, jede Stunde, jede Minute daran erinnert wird, dass sie rein äußerlich nicht „von hier ist“. Und irgendwann hält auch das stärkste Ventil nicht mehr stand. Dann platzt es aus einem heraus.

Im Falle von Amina ist dieses Es so, dass sie einen Mann in der U-Bahn zusammenschlägt. Sie ist Boxtrainerin, weiß also, wie sie zuschlagen muss. Weiß, wo es weh tut. Und wenn er, der sich nun am Boden vor Schmerzen krümmt, ihr zuvor ins Gesicht gespuckt hat, ist das alles zum Teil auch nachvollziehbar. Wenn es denn so war.

Wenn der Samenspender sich plötzlich von der Vaterfigur zum Vater entwickeln soll, ist das für eine der beiden weiteren beteiligten Personen ein ähnlicher Fall. Ada und Eva sind ein Paar. Ihre Kinder wurden von Ingo gezeugt. Der ist ständig präsent. Doch nicht als Vater, sondern als Freund. Als Eva vorschlägt, dass ihr Nachwuchs Ingo Papa nennen kann, bricht eine Welt zusammen. Nicht für die Kids. Nicht für Ingo. Ada wurde nicht gefragt. Nun läuft sie weg. Weg aus München. Weg ach Hamburg. Doch auch hier ist die Sache nicht aus der Welt. In ihrem Kopf spielen ihr die wüstesten und wütendsten Gedanken einen Streich.

Alles nur Einbildung? Oder alles wahr? Björn Bicker gibt den Personen in seinen Kurzgeschichten einen Raum, den sie nicht kennen. Sie treten ein und werden von sich selbst in eine Rolle gedrängt, die sie nie wahrnehmen wollten. Die sie nicht kannten. Und schon gar nicht wussten, dass sie diese Rolle mit Leben füllen können. Sie sind nicht von dieser Welt, diese Rollen. Aber die Menschen sind von dieser Welt. Nur aus verschiedenen Ecken, Ländern, Städten, aus verschiedenen Kulturen. In ihnen rattert der unaufhörliche Zug des Gewissens. Und manchmal stoppt er an Orten, die sie nicht kennen. Nun stehen sie im Nirgendwo und wissen nicht wie ihnen geschieht. Der Ausbruch aus dem einen Leben als Einbruch in ein Loch, das sie nicht ausfüllen können.

Manchmal muss man im Buch ein paar Seiten zurückblättern, um sich zu vergewissern, dass man tatsächlich hier gelandet ist. So eigenwillig sind die Gedanken des Autoren. Immer wieder findet man sich in einer Welt wieder, die man den Akteuren nie zugetraut hätte. Und das ist wahre Spannung!