Das kleine Buch der großen Parfums

Wenn man es nicht ganz so ernst nimmt, dann ist es doch so: Immer vor den Feiertagen werden wir überschüttet mit Werbung für den Duft, der uns in eine andere Welt katapultiert. Wir werden agiler, verführerischer, erfolgreicher, fühlen uns frei. Und so ein paar Tage vor dem Fest fällt uns ein, dass wir für den Einen oder Anderen noch ein Geschenk brauchen. Nur gut, dass es die Werbung gibt. Nix wie hin in die Parfümerie. Das erstbeste Angebot wird genommen, in eine hübsche Verpackung gepresst und schon sind die leuchtenden Augen garantiert. So funktioniert Parfümkauf!

Wer jedoch etwas auf sich hält und das auch gern anderen angedeihen lassen möchte, macht sich wirklich Gedanken. Wie ist der zu Beschenkende einzuschätzen? Ein Schätzchen, das für seichte Düfte zu haben ist oder doch der markante Typ, der nicht scheut mit fremden Düften Spuren zu hinterlassen? Wann soll das Parfum getragen werden, im Sommer oder im Winter und zu welchen Anlässen? Was ist eine Kopfnote? Welche Inhaltsstoffe hat der Duft? Und ganz wichtig: Kann er Allergien hervorrufen? Ist gar nicht so einfach.

Die AutorInnen dieses kleinen Büchleins … ach was! dieser Bibel … haben so vorurteilsfrei wie nur irgendmöglich sich die Mühe gemacht und fast zweitausend Düfte probiert – untersucht könnte man auch sagen, aber mal ehrlich: Es ist doch wahrlich mehr Vergnügen als Arbeit! Ihre Top 100 ist ein wahres olfaktorisches El Dorado in gedruckter Form, was die entscheidende Sinneswahrnehmung zum Selbstversuch werden lässt. Sie haben strenge Richtlinien für sich gesetzt. Und eingehalten. Denn so mancher Duft wurde im Laufe der Jahre verändert und ist mit dem Original kaum noch zu vergleichen. Trägt aber immer noch denselben Namen. Das hat unterschiedliche Gründe. Was letztendlich dazu führte, dass einzelne Düfte in ihrer Top 100 nicht mehr auftauchen. Auch ist es zwecklos das eigene Lieblingsparfüm im Buch zu suchen. Denn Geschmack ist die einzig wahre Diversität in unserer modernen Welt.

Hier bekommen Düfte von Popsternchen, die ihren Namen zur Marke aufplustern wollen ihr fett weg, genauso wie unangefochtene Klassiker sich einer ausgiebigen Analyse erfreuen dürfen.

Wenn also das nächste Fest ansteht, wird der Gang in die Parfümerie nicht zur lästigen Pflicht, sondern zu einer Exkursion zur wahren Freude!

Der geheime Glanz

Die Schule ist für Ambrose Meyrick kein Zuckerschlecken. Die Gebühren für die Privatschule werden ihm nur dann zur Last gelegt – sprich man erinnert ihn daran, dass er doch ein solch gute Ausbildung genießen darf und deswegen sich jedweder Regel zu beugen hat – wenn er mal wieder aus der Reihe tanzt. Und Meyrick tanzt gern und vor allem oft aus der Spur. Geschichte, Mythologie, Architektur – das interessiert ihn. Sport hingegen weniger. Doch der wird als Teambuilding-Maßnahme angesehen. Die Suche nach dem heiligen Gral, Wissen, ist für ihn eine Tortur sondersgleichen.

Arthur Machen verarbeitet in seinem Roman von 1908, der erst 1922 veröffentlicht wurde, seine Erfahrungen mit dem englischen Schulsystem. Auch ihm lagen Abschweifungen näher als der Fokus auf den geradlinigen Wissensstrang. Das Ergebnis: Arthur Machen gilt als Begründer des mystischen Romans, der Schauergeschichten. Leider ist er – und bestimmt nicht wegen seiner Abschweifungen – ein wenig in Vergessenheit geraten.

Die Werkausgabe aus dem Elfenbein-Verlag verhilft ihm wieder in den Rang aufzusteigen, der ihm zusteht. Allein schon die Aufmachung der sechsbändigen Reihe lässt das Herz eines jeden höher schlagen, der Gänsehaut nicht nur bei Temperaturschwankungen empfindet, sondern beim Lesen sich in eine Welt versetzen lassen kann, die nur der Phantasie entspringt.

Man taucht mit jeder Seite in eine Welt ein, die längst vorüber gezogen scheint. Nur in Ansätzen sind der Wissensdurst und die Bruderschafterei noch heute erkennbar. Doch Machen gibt in „Der geheime Glanz“ denjenigen Mut mit auf den Weg, die sich in der Figur des Ambrose Meyrick selbst erkennen mögen. Ein Träumer ist dieser Meyrick nicht. Ein Phantast vielleicht. Ein Schwärmer auf alle Fälle.

Arthur Machen lässt keine Peitschen knallen oder Pistolen die Nachtstille zerreißen. Detailliert lässt er den Leser am Unheil seiner Protagonisten teilhaben. Jede noch so winzige Kleinigkeit, die der Held erlebt, in sich trägt oder erfahren muss, wächst sich zu einem gigantischen Berg des Unmuts heraus, so dass – wie im Fall des Ambrose Meyrick – diesen nur ein Ausweg als möglich erscheint. In „Der geheime Glanz“ durchaus sehr drastisch, dennoch nachvollziehbar. Wer Empfindungen nicht nur als Signal wahrnimmt und sich in Menschenseelen hineinlesen kann, der kommt an Arthur Machen, und schon gar nicht an „Der geheime Glanz“ vorbei.

Nachtdiebe

Es ist schon seltsam wie manche Bücher entstehen. Bodo Kirchhoff bedient sich dieses Mal bei sich selbst, beim Roman „Der Sandmann“. Und schöpft den Rahm seiner Handlung noch einmal ab, um daraus die Novelle „Nachtdiebe“ zu kreieren.

Quint und sein Sohn Julian sind zum ersten Mal gemeinsam auf Reisen. Nach Tunis – sicher nicht das erste Ziel, wenn man den einen aufregenden Roman schreiben will. Doch Bodo Kirchhoff schafft es mit Leichtigkeit dieser alten Stadt die Ehre zu erweisen und webt eine Geschichte aus mehr als nur tausendundeiner Nacht.

Quint stiehlt sich hinaus in die Dunkelheit seines eigenen Lebens. Als Lichtkegel an seiner Seite sein Sohn, der ihm ein ums andere Mal auf den Boden der Tatsachen zurückholen kann. Und Quint hat wahrlich Hilfe nötig. Christine, seine Frau ist beruflich in Paris. Und Quint kann nach Helen suchen. Sie war das Kindermädchen von Julian. Und von einem auf den anderen Tag verschwunden. Eine Postkarte ließ Quint aufbrechen. Die Karte von Helen war kurz und sachlich. Es gehe ihr gut. Sie ist am Leben. Und sie ist auch persönlich. Sie wünscht allen nur das Beste.

Und Quint? Was wünscht er sich? Helen? Christine? Julian! Klar. Aber mit wem zusammen? Helen wollte nie das, was nur Christine zustand – ein wunderbarer Satz, der die Tragweite des Themas mit wenigen Worten einfängt.

Quint ist in Tunis. Er findet das Hotel, in dem Helen arbeitet. Aber sie ist schon wieder weiter gezogen. Quint bleibt trotzdem. Die Wirtin des Hotels, Melrose, eine Reminiszenz an vermeintlich bessere Zeiten, sieht in ihm mehr als nur den einen Gast. Und Quint hat auch so manche schwache Minute. Und dann ist da noch Dr. Branzger. Der weiß mehr als er zugibt. Er kennt Helen auch. War hinter ihr her, wenn man das einmal so schnöde sagen darf. Und in einem schwer erreichbaren Versteck sind Helens Aufzeichnungen. Die will, die muss Quint lesen…

Allein schon die Wahl der Namen ist richtungsweisend. Quint – ein außergewöhnlicher Name. Ruhig, besonnen, nachdenklich, kalkulierend, zurückhaltend. Helen – Verheißung anmutend, fremd und nah zugleich. Dr. Branzger – so heißt niemand, der sich mit Wohlgefallen Freunde macht. Und Melrose – Phantasie, träumerisch. Daraus formt Bodo Kirchhoff mit dem ihm eigenen Stil eine Phantasiewelt, die sich in ihren Grundfesten nicht erschüttern lässt. Hier und wackelt es zwar ordentlich im Gebälk, doch aus den Angeln wird sich diese Welt nicht so schnell heben lassen.

Der dünne Mann

Als Leser hätte man es eigentlich wissen müssen: Kaum fünf Kapitel gelesen und schon steckt man im tiefsten Leseschlamassel. Nichts mit sich langsam in die Geschichte einführen lassen, die Figuren kennenlernen. Wie Pistolenschüsse wird man niedergestreckt und ist unversehens ein Teil der Geschichte.

Nick Charles war mal Privatdetektiv, in New York. Bis 1927. Dann heiratete er Nora, die dank einer Erbschaft die wahre Bedeutung von Arbeit nicht kennen muss. Und Nick genießt das Leben mit ihr, neckt sie, dass er sie nur geheiratet habe, um mit ihr das Erbe durchzubringen. An ihrer beiden Seite ist Asta, das Schoßhündchen, das nur allzu gern sein Herrchen in den Bauch boxt.

Zwischen Drinks und … eigentlich nichts, also zwischen mehreren Drinks holt Nick Charles die Vergangenheit ein. Zuerst macht er die Bekanntschaft von Dorothy, die ihm sagt, dass er sie kenne. Ihr Vater Clyde war mal Klient von Nick, damals er noch Detektiv war. Sie wolle ihren Vater wieder sehen. Seit ihre Mutter wieder geheiratet hat, darf sie Clyde Miller Wynant nicht mehr sehen. Ist wohl auch besser so. Denn Clyde ist ein verschrobener Kerl. Kurze Zeit später meldet sich auch Herbert Macaulay bei Nick. Er ist der Anwalt von Clyde Wynant. Auch er suche nach Clyde, der zu einem wichtigen Termin nicht auftauchte. Und am Tag darauf ist Julia Wolf tot. Sie war die Sekretärin von Clyde Wynant, und sicher noch ein bisschen mehr. Wie gesagt, fünf Kapitel, nicht einmal dreißig Seiten und schon steckt man in einem Fall, von dem man jetzt schon weiß, das niemals alles so sein wird, wie es scheint. Schon gar nicht als Dorothy tränenüberströmt auftaucht und Nick eine Pistole übergibt. Die habe sie in einer Bar gegen ihr Diamantarmband getauscht. Das, was sie am Handgelenk trägt, fragt Nick Charles lakonisch…

Es beginnt die Suche nach Clyde Wynant. Ja, er ist ein Typ, mit dem man ungern Probleme teilt. Und seine Ex erst. Mimi. Die führt immer was im Schilde, glaubt man Herbert Macaulay. Aber der muss das ja sagen, ist schließlich der Anwalt von Clyde Wynant. Und dann ist da noch die Sache von damals, als der Erfinder Clyde Wynant des Diebstahls bezichtigt wurde. Und die Sache mit Mimis Neuem. Der macht sich wohl an Dorothy ran. Deswegen die Knarre.

Nick Charles wollte eigentlich nur Weihnacht in New York verbringen, zusammen mit Frau und Hund, ein bisschen Christmas shopping. Ein paar Drinks (zu viel), entspannt im Hotel herumliegen, essen, trinken, shopping. Dashiell Hammett lässt ihn gewähren, doch gibt ihm gleichzeitig noch jede Menge Denksport mit auf den verkaterten Weg. Ein Klassiker, ein Wegbereiter des noir. Der Wortwitz und die Rasanz lassen die Zeit wie im Flug vergehen.

Schwarzlicht

Das Leben von Künstlern ist oft bemerkenswerter als ihre Werke. Und dabei ist es einerlei, ob sie nun erfolgreich waren oder am sprichwörtlichen Hungertuch nagten. Vincent van Gogh verbindet man in erster Linie mit seinem Ohr, das er sich abgeschnitten hat. Dann kommen seine Werke … gefolgt von seinem kargen Leben. Das Interesse an Kunst und Künstlern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten.

María ist so eine, die sich für Kunst und ihre Erschaffer interessiert. Bei Enriqueta Macedo geht sie in die „Schule“ – sie ist die unumstrittene Kennerin der Szene. Sie weiß, was gut ist. Das betrifft die Kunst, aber auch sie selbst und die sie umgebenden Menschen. Schroff und direkt – das weiß sie, damit eckt sie an. Doch María ist das gerade recht. Sie lernt viel von Enriqueta. Auch wie man Kunst von Fälschung unterscheidet. Und dass auch Fälschungen Kunst sind. Oder es zumindest sein können.

Durch Enriqueta lernt sie eine illustre Runde kennen. Allesamt Fälscher, Gauner, Schieber, Künstler.

Als Enriqueta stirbt, ist es an María ihr Erbe fortzuführen. Doch es geht dabei nicht darum Künstler in den Himmel zu loben oder ihnen die Höllenfahrt vorzubereiten. Sie will in die Szene tiefer eintauchen als es jemals jemand zuvor tat. Sie weiß, dass Enriqueta jahrelang Fälschungen zu Originalen erklärt hat. Warum? Spaß an der Freude, Zurechtrücken der Verhältnisse, Geld? Letzteres wohl kaum, kommt María in den Sinn als sie die Wohnung ihrer ehemaligen Gönnerin sieht.

Der Kreis der Fälscher, die sich regelmäßig im Hotel Meláncolico – welch passender Name – trifft, fördert eine weitere Person hervor, die María unbedingt kennenlernen muss. La Negra. Eine Künstlerin/Fälscherin ohne Gesicht, ohne Vita, ohne Vermächtnis. Für María der Beginn einer Jagd, de im Dunklen beginnt, und mit deren Erhellung nichts als Nacht ans Tageslicht tritt…

María Gainza macht aus der Jagd nach der Unbekannten eine Reise in die Zwischenwelt. Hier existieren Schwarz und Weiß lediglich als Kontrast, deren Mischung ein waberndes Grau ergibt, das keinerlei Zugeständnisse macht. Als Leser taucht man in die Kunstwelt ein, wie wenn man an der Hand geführt zum ersten Mal ein Museum betritt. Alles neu, alles leuchtet, aber zugleich schaut man auch neugierig in die dunklen Ecken und sieht dort meist mehr als das, was einem so glanzvoll vorgesetzt wird.

Amerigone

Zimmer 1503 des Hilton in New York. Hier wartet der Manager Parker Saturn auf Iwan Rubleski vom Westküstenbüro seiner Firma. Er kennt ihn nicht, hat nie von ihm gehört. Was auch nicht verwunderlich ist. Namen kommen und gehen. Sie sind alle austauschbar. Die Maschinerie läuft auch ohne Namen. Dessen ist sich Parker Saturn – was eine Name! – bewusst. Erspielt das Spiel mit. Hat ein riesiges Haus, zwei entzückende Kinder – one of a kind – und eine umwerfende Ehefrau. Die perfekte Managervita. Und nun sitzt er in Zimmer 1503, das er für zwei Tage mieten musste, und wartet auf einen Mann, der in etwa dasselbe macht wie er. Nur halt am anderen Ende der Staaten. Parker Saturn ist bestens vorbereitet. Hoffentlich ist das Iwan Rubleski auch.

Es klopft. Rubleski ist endlich da. Groß wie Parker, aber bedeutend wuchtiger in den Ausmaßen zu den Seiten hin. Extrem blond, extrem blauäugig, was die Farbe der Augen betrifft. Und er legt gleich los. Wie toll doch alles sei. Der Markt ist willig, bereit, um abgeerntet zu werden. Wie wäre es, wenn Parker ihm nach dem Meeting die Stadt zeigt? Er kennt New York noch nicht. Erstmal Frühstück. Parker ist ob der Rasanz in Rubleskis Entscheidungen ganz baff. Das Frühstück kommt. Sieht gut und reichhaltig aus. Iwan Rubleski unterhält sich ein bisschen mit dem Jungen, der das Frühstück brachte, fragt ihn nach seinen Zielen, wo er herkommt etc. Smalltalk und ein bisschen oberlehrerhaft. Und Dominic, der Zimmerkellner, antwortet pflichtbewusst – es ist das letzte, was er sagen wird. Denn ohne Vorwarnung stürzt sich Rubleski auf den ahnungslosen Burschen und sticht ihn ab. Sein Puls bleibt dabei offensichtlich im grünen Bereich. Ganz im Gegenteil zum Puls von Parker Saturn! Der ist nun derjenige, dessen Körper komplett in Erregung und Starre zugleich verfällt.

Kurze Zeit später erklärt Iwan Rubleski ihm, warum … nein, nicht warum er den Kellner erstochen hat … sein Idee vom Raubtierkapitalismus. Wobei in seinen Augen das Raubtier den Ton angibt. Rubleski gefällt die Verkommenheit und Bigotterie der amerikanischen Gesellschaft. Und er genießt sie in vollen Zügen…

Dem Gesetz der Dramatik folgend müsste hier eigentlich Schluss sein. Das Drama hat seinen Höhepunkt erreicht. Der Tod als Höhepunkt einer sich langsam anbahnenden Katastrophe, der keiner entkommen kann. Bei Mark SaFranko ist es der Beginn einer Odyssee, die mit dem Mord an dem Zimmerkellner nur einen ersten Anstieg erfährt. Die Klimax ist noch mehrere hundert Seiten entfernt. Da kommt was auf den Leser zu! Die Selbstverständlichkeit mit der der irre Iwan seine Ideen umsetzt – ob nun lange im Voraus geplant oder spontan – erschrickt und fasziniert zu gleichen Teilen. Und nach jedem Umblättern fragt man sich unwillkürlich, was sich der Autor als nächstes einfallen lässt. Nur so viel sei verraten – langweilig wird’s nicht!

Die Erfindung des Lächelns

Das war schon ein Ding, damals 1911, da hing die Mona Lisa einfach nicht mehr da, wo sie nach Meinung aller zu hängen hat. Im Louvre in Paris. Sie war gut versteckt, aber eigentlich greifbar. Vincenzo Peruggia, Glaser, der kurz zuvor die Scheibe, die das wertvollste Gemälde der Welt schützen soll, ausgetauscht hatte. Er kannte sich bestens aus. Drei Jahre später hat man ihn gefasst, das Gemälde zurückgebracht und alle waren zufrieden. Eine Legende war geboren. Doch warum Peruggia da Vincis Werk klaute, ist bis heute ein Rätsel. So ist die Geschichte. Ist hinlänglich bekannt. Kann man in mehr oder weniger langen Versionen nachlesen.

„Die Erfindung des Lächelns“ ist der historische Roman zu dieser Geschichte. Tom Hillenbrand ist der Autor, und er vermeidet es kunstvoll dieser dramatischen Geschichte sinnfreie Fakten oder gedankenlose Spinnereien hinzuzufügen.

Juhel Lenoir ist der Ermittler in diesem Fall. Er bekommt Druck von allen Seiten. Das berühmteste Gemälde der Welt – einfach gestohlen. Da erwartet jeder(!) schnelle Resultate. Doch wie soll das gehen? Einfach mal bei Picasso nachfragen, „na, was gesehen oder gehört?“. Das kann man doch nicht machen! Warum eigentlich nicht?! Auch Guillaume Apollinaire, der Dichterfürst ist mehr als nur verdächtig. Die Verbindungen zu einem ähnlichen Vorfall ein paar Jahre zuvor sind nun einmal da.

Mit wunderbar leichter Feder streift Hillenbrand die Vorhänge des Vergessenen zurück und führt den Leser auf die Weltbühne der Kunst vor reichlich einhundert Jahren. Isadora Duncan, die berühmteste Tänzerin ihrer Zeit und ihres reichlich durchgeknallten Gurus Aleister Crowley, bis heute gleichermaßen vergötterter wie verteufelter Satanist, treten ebenso auf wie die Herren, die die musikalische Untermalung aus dem manschettierten Handgelenk schütteln, Claude Debussy und Igor Strawinsky.

Die Haute Volée der Pariser Kunstszene versammelt sich in diesem Buch und prahlt leuchtend mit ihrer Reputation. Dass es nicht in Kitsch abgleitet und als belanglose „Noch so’n Buch über ein fast vergessenes Ereignis“-Persiflage auf dem Ramschtisch landet, dafür sorgt allein schon das Fachwissen des Autors. Penibel hat er sich in den Fall und vor allem in die Zeit eingearbeitet. Kleinste Details werden hier nicht aufgeplustert, sondern behalten ihren Status bei.

Ein Kriminalroman, der so echt ist wie das Lächeln der Mona Lisa. Hintergründig und fundiert. Immer wieder setzt man das Buch ab und lässt die Gedanken schweifen. Und sei es nur, um sich die Szenerie, die Straßencafés, die Ateliers vor Augen zu führen. Tom Hillenbrand ist ein Verführer, der die Romantik des Verbrechens – dieses Verbrechens – als Druckmittel zum Weiterlesen einsetzt.

 

Dringliche Angelegenheiten

Fast schon möchte man Hugo in den Arm nehmen, auch wenn es ihn unfassbar schmerzen sollte. Der arme Tropf hat aber auch das Pech am Fuß wie die sprichwörtliche Sch… Wo anfangen? Also, am Ende des „Treffens“ mit Carlos David steht der Tod. Carlos David ist tot. Erschossen, die Beine gebrochen, die Überreste in einen Sack gestopft und anschließend selbigen in einem Bach „versenkt“. Flucht. Also, Hugo ist geflüchtet. Verständlich. Gerade, wenn man ihm Glauben schenken will, dass er unschuldig ist.

Unterwegs entgleist der Zug, mit dem Hugo in scheinbar sichere Gefilde fliehen will. Eine gigantische Katastrophe mit Dutzenden Toten. Hugo überlebt. Im Leichenberg krallt er sich an das Heiligenbild, das ihm Glück bringen soll. Er reagiert noch auf Nachrichten von Marta, seiner Freundin. Sporadisch. Sie schnappt sich ihre Tochter und bricht auf zu ihrer Schwester. Alles überhastet, scheinbar ohne Plan.

Währenddessen sucht die Polizei in Person von Ermittler Dominguez nach dem Mörder eines jungen Paraguayers namens Carlos David. Und ziemlich schnell stehen sie auch vor der Tür von Marta. Dort ist allerdings nur ihre Mutter Olga anzutreffen. Und die ist ein echtes Goldstück. Gegenüber dem Bullen erzählt sie nur das, was er ohnehin schon weiß. Sie macht sich ihren eigenen Reim auf die Geschehnisse. Auch weiß sie, dass Hugo in dem verunglückten Zug war. Das weiß bald jeder im Land, denn so eine Katastrophe ruft natürlich auf die sensationsgierige Presse auf den Plan.

Und Hugo? Der hängt wie ein verletzter Vogel in den Fängen sämtlicher Leute, die ihm aus unterschiedlichen Gründen auf den Fersen sind. Wie in einem Film von Hitchcock sucht er verzweifelt nach einem Ausweg. Doch die richtigen Entscheidungen zu treffen, war noch nie sein Ding. Der große Wurf ist immer nur anderen gelungen. Hugos „Dingliche Angelegenheiten“ sind nur für ihn von immenser Bedeutung. Genauso wie er eine dringliche Angelegenheit für viel andere ist. Für seine Freundin, seinen Kompagnon, die Polizei, die Hilfskräfte, die Medien…

Paula Rodríguez spinnt ein enges Geflecht aus Hoffnung, Verzweiflung und düsteren Wolken am Horizont. Alles ist vorbei jetzt muss jeder zusehen wie er sich aus seiner Situation befreit. Immer weiter spinnt sie das Netz, in dem die Beteiligten fast bis zur Regungslosigkeit gefangen sind. Ihre Schilderungen sind so eindringlich, dass man sich mitten im Geschehen wähnt. Kopfschüttelnd leidet man mit dem vermeintlich unschuldigen Hugo. Lacht über die Bigotterie der Schwester von Marta. Und fühlt mit Evelyn, Martas Tochter, die Entdeckungen macht, die ihr mindestens genauso peinlich sind wie ihrer Mutter und Tante. Zwischendrin ertappt man sich dabei der Hoffnung Nahrung zu geben, dass das alles ganz schnell vorbei ist. Doch dann wäre das Lesevergnügen ebenso schnell beendet.

Die drei Häscher

Mr. Phillipps und Mr. Dyson – vom literarischen Gott per Zufall zusammengeführt, verbindet die Liebe zu Büchern. Man trifft sich, man streitet ohne jemals Groll aufkommen zu lassen, man steigt in die Tiefen der Phantasie hinab.

Eines Tages klopft Dyson an der Tür von Phillipps. Zu wohlerzogen um mit wahrhaften Gefühle herauszuplatzen, erzählt er ihm, was geschah. Er trödelte – ein Gentleman seines Schlages trödelt nicht, er genießt die Ruhe der Dämmerung der Nacht – also beim Genuss der dämmerigen Abendstimmung vernahm Mr. Dyson ein Geräusch. Er konnte es erst nicht einordnen. Dann bemerkte er wie ein Goldstück an ihm vorbeirollte und dann (fast) von der Kanalisation verschluckt wurde. Fast! Er beugte sich hinunter, um den vermeintlichen Penny an sich zu nehmen. Hier nun bemerkt er den wahren Schatz, den er zwischen den Fingern hält. Eine, ach was, DIE römische Münze. Ein goldener Tiberius. Selten, wenn nicht sogar einzigartig. Was die Geschichte so gruselig macht – es handelt sich um ein Buch von Arthur Machen! – ist die Tatsache, dass Dyson nur durch seine eigene Vorsicht auf den Fund aufmerksam wurde.

Hinter sich hörte er Schritte. Er ging in Deckung, suchte Zuflucht in einer dunklen Ecke, so dass ihn der Schritterzeuger nicht entdeckte. Der Plan ging auf. Ein zweiter Mann folgte. Folgte dem Ersten. Bewaffnet. So viel steht fest. Und Dyson in der dunklen Ecke. Phillipps erfreut sich an dem Abenteuer seines Freundes. Doch mehr auch nicht. Auch weil er die Geschichte um die Goldmünze kennt. Und sein Wissen bereitwillig mit Dyson teilt.

Dyson hat kurz darauf eine wirklich befremdende Begegnung, mit Mr. Wilkins. Ziemlich komischer Kauz, dem Dyson irgendwie helfen muss, meint er. Als Dank erzählt ihm Wilkins eine Geschichte, die so ungeheuerlich ist, dass Dyson fast das Blut in den Adern gefriert. Sie handelt von einer Reise, fast ohne Wiederkehr. Von blutrünstiger Lynchjustiz. Dyson ist erschüttert, aber vor allem fragt er sich, warum der fremde Wilkins ihm so bereitwillig diese Schauergeschichte erzählt hat.

Arthur Machen lässt den Leser ordentlich zappeln bis er endlich ein wenig Licht in seine Geschichte der „Drei Häscher“ bringt. Das sind üble Gesellen, mit denen nicht gut Kirschen essen ist. Und sie sind verschwiegen, fast unsichtbar. Erkennt man sie, ist es eigentlich schon zu spät. Das muss auch Dyson erfahren. Und Phillipps ist auch nicht ganz ausgenommen von der Gefahr seinem geordneten Leben den Rücken zu kehren…

Baise moi – Fick mich

Zwei junge Frauen. Der Verzweiflung schon lange nicht mehr nah – dafür haben sie beide schon zu viel in ihrem jungen Leben erlebt. Sie wissen ganz genau, dass man nicht um Hilfe rufen braucht, wenn man selbige braucht. Es kommt eh keiner zu Hilfe. Alk und Dope sind ihre einzigen Freunde, die sie vergessen lassen, was ist. Ach ja, sie haben beide getötet. Unabhängig voneinander. Die Gründe sind unterschiedlich. Die Folgen sind die gleichen: Flucht. Das Schicksal, das verdammte Schicksal, hat sie zu Weggefährtinnen gemacht. Und nun? Wäre der Roman heute geschrieben worden, wäre ihre Allianz von gegenseitiger Heilung bestimmt. Doch „Baise moi“ – der Titel hat so gar nichts von sozialarbeiterischer Seelenversorgung an sich, übersetzt heißt es „Fick mich“ – ist ein knappes Vierteljahrhundert alt und noch immer jung und ergreifend wie Ende der 90er.

Nadine und Manu sind nun also Bonnie und Clyde, Thelma und Louise, ach all die ganzen verzweifelten Paare der Geschichte, die ihr Ende einte. Doch Nadine und Manu sind mit einer schonungslosen Chuzpe ausgestattet, die es eigentlich verbietet verfilmt, veröffentlicht zu werden. Klingt drastisch, aber man stelle sich vor, dass jemand vorhat dieses Buch heutzutage noch einmal originalgetreu zu verfilmen… unmöglich. Die moralisierte Moderne hinkt sich selbst um mehr als zwanzig Jahre hinterher. Der Film, von der Autorin selbst auf die Leinwand gebracht, durfte nur in Pornokinos gezeigt werden. Höchste Jugendschutzeinstufung!

Da sind sie nun – die Täterinnen. Abenteuergierig, lebenshungrig, perspektivlos. Sie haben nur eine Wahl: Rache nehmen. An all dem, was sie zu dem werden ließ, was sie sind. Für die einen Monster, marodierende Gören, die nicht arbeiten wollen, und nur Zerstörung im Kopf haben. Für die Anderen Opfer der Gesellschaft, denen man helfen muss, weil es noch nicht zu spät ist.

Über dieser Diskrepanz schwebt der Vorwurf des Tötungsdeliktes. Die Gründe, die Hintergründe gilt es an anderer Stelle aufzuklären. All das interessiert Nadine und Manu nicht im Geringsten. Sie sind bereit ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass sie auf ihrem Weg Spuren hinterlassen, die Blinde nicht übersehen können, ist ihnen teils bewusst. Es interessiert sie aber nicht! Auch eine Form von Emanzipation!

„Baise Moi“ wird sicher niemals Schullektüre werden. Die expliziten Szenen von Gewalt (jeglicher Gewalt!) sind nichts für zarte Gemüter. Den Film haben sicher mehr Menschen gesehen als es eine Statistik vermag wiederzugeben. Das Buch sollten diejenigen, die den Film gesehen haben, auch unbedingt lesen. Denn es geht hier nicht um detaillierte Darstellung von Sexualität in ihrer ungeschminktesten Form (obwohl das garantiert dazu beitrug den Film so populär zu machen), es geht darum zu zeigen was Menschen in perfiden Situationen zu machen imstande sind. Die Schonungslose Sprache von Virginie Despentes ist anfangs erschreckend. Aber keines der „verbotenen“ Wörter ist eines zu viel. Nur so funktioniert dieses Buch!