Braunes Erbe

Was kann man nicht alles über Geschichte sagen?! Sie wiederholt sich, die dauert fortwährend an, sie ist unvergänglich. Auch wenn so manches in Vergessenheit geraten scheint, so ist es immer noch da. Es gibt also mehr als genug Fakten daraus seine Lehren zu ziehen.

David de Jong hebt in seinem Buch die stete Aufarbeitung der Nazizeit in Deutschland hervor – wie aktuell das Buch immer noch ist zeigen unter anderem Videos vom teils gebildeten, gut verdienenden Mob, der vor einem Club mit Hasstiraden viral gegangen ist, bei dem die Fakten sicherlich im Hirn verankert sind, jedoch die Lehren daraus in den Weiten der hirnlosen Leere verloren gegangen sind.

„Braunes Erbe“ nimmt große deutsche Konzerne, die seit gefühlten Ewigkeiten existieren und jede Wende mit Bravour gemeistert haben. Dazu gehören die Familien Quandt, Flick, von Finck, Oetker, Porsche und Piëch. Oder anders gesagt, BMW, Allianz, VW, Dr. Oetker und Krupp. Namen, die der deutschen Industrie Weltglanz vermachen. Doch unter der polierten Oberfläche müffelt der braune Rost. Nun aber die moralische Keule zu schwingen, wäre zu plakativ. Was wäre denn, wenn jeder Angestellte dieser Firmen aus moralischen Gründen kündigen würde? Nein, so einfach ist die Sache leider nicht. Als Leser muss man sich seine eigene Meinung bilden und entsprechend handeln. Dabei aber niemals das große Ganze aus dem Blick verlieren. Auch wenn’s schwer fällt.

David de Jong arbeitete als Wirtschaftjournalist und sollte für seinen Arbeitgeber europäische Firmen, besonders deutsche Firmen im Auge behalten und ihre Geschichte beleuchten. Dass die bereits genannten Firmen eine innige Beziehung zu den Machthabern in Deutschland der Jahre 1933 bis 45 hatten, ist kein Geheimnis. Der Schockmoment hält sich in Grenzen. Wer, wann, wie mit wem seine Macht erhielt, sie ausbaute, und vor allem mit welchen Mitteln, ist bzw. war bisher nur in Teilen bekannt.

Hier hält man ein hochaktuelles Buch in den Händen, das wie ein Flakschienwerfer den braunen Himmel in leuchtendes Feuer taucht. Alle Fakten sind unantastbar. Stellungnahmen der beschriebenen (nicht angeklagten) Familien gab es nur sporadisch bzw. oft gar nicht. Eigene Studien – von den Familien beauftragt – sollten als Antwort, weil allgemein zugängig (was nur zum Teil stimmt), genügen. Dennoch hat David de Jong ein Buch geschrieben, das vor unumstößlichen Tatsachen nur so strotzt. Schonungslos und mit der nötigen journalistischen Distanz entlockt er dem Leser mehr als nur ein fassungsloses Staunen. Wer sich nach der Lektüre genötigt fühlt sein Leben daraufhin zu untersuchen, welche Verbindungen er zu den Familien hat – ein Blick in die Garage, in die Versicherungsverträge, in den Kleiderschrank genügen schon – wird feststellen, dass eine Aufarbeitung der Nazizeit zwar im mündlichen und schriftlichen Diskurs stattfindet, die wirtschaftlichen Verzweigungen und Abhängigkeiten davon aber fast unberührt erscheinen.

Mit dem Wissen um die Auseinandersetzungen und Kriege von Guatemala bis Birma, von Nigeria bis Papua-Neuguinea, von der Ukraine bis ins östliche Mittelmeer, ist dieses Buch die Grundlage von noch vielen Büchern, die ihm folgen werden müssen. Und auch da werden vermutlich stellenweise die gleichen Namen stehen…

Dante Alighieri „Die Göttliche Komödie“ Horbuch

In Italien werden Schulkinder mit jedem Satz der „Göttlichen Komödie“ schon früh bekannt gemacht. Weltweit ist dieses Werk sicherlich eines der bekanntesten. Zumindest dem Namen nach. Kaum ein Werk wurde so oft in andere Sprachen übersetzt. Und noch immer seziert man die Lieder, die Abschnitte, die Sätze, ja, sogar die Zeichensetzung und analysiert Dantes Meisterwerk. Selbst in Sitcoms („How I met Your mother“) wird sie mit Respekt zitiert.

Dabei hat der Maestro selbst Anleihen bei Kollegen genommen. Und fast erscheint es als ob die Diskussionen über Dante Alighieri und „Die Göttliche Komödie“ den Hörer mehr in den Bann ziehen als das Werk selbst. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner und der Dramaturg John von Düffel stellen sich auf ihrer Bühne dem Werk. Voller Ehrfurcht und mit einem Übergepäck an Deutungen, Impressionen und einer schier unendlichen Gedankenflut lassen sie den Zuhörer Teil ihrer Welt werden.

Den Auftakt bildet eine eigenwillige Verlinkung von „Der Göttlichen Komödie“ und der von Computerspielen, Avataren und Vernetzung geprägten Gegenwart. Der Bühnenpoet Timo Brunke überspannt sieben Jahrhunderte mit einer hochmodernen Sprache. So wie es Dantes Zeitgenossen vor 700 Jahren ergangen sein musste. Bis dato wurde der eigene Intellekt in Latein verbreitet. Dante hingegen lässt das Italienische den Vorrang. Der Graus des christlichen Glaubens – wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt den Zorn Gottes um ein Vielfaches zu spüren – wird mit einem Mal einem gigantischen Publikum zugängig.

Man muss das Werk nicht zwingend gelesen haben. Es reicht vor erst einmal die pure Kenntnis dessen Existenz’. Ohne viel vorweg zu nehmen, macht die Diskussion über das Werk Appetit auf ein Meisterwerk, das man nun vielleicht doch einmal in die Hand nehmen sollte.

Auch der Autor selbst wird zum Objekt der Begierde der Verbalduellanten. 1321 ist er in Ravenna gestorben. Und seitdem lebt er in den Gedanken weiter. Seine Gedankenspiele beispielsweise zum Übermenschen, zu Schuld und Sühne, der Suche nach Vollendung wird niemals an der Sinnsuche scheitern. Vielleicht sollte man diese Doppel-CD im Hintergrund im Pause-Modus parat halten. Und wenn einem beim Lesen die Schwere des Textes zu erdrücken droht, drückt man PLAY. Es wird wie ein Licht in dunkler Nacht sein. Vielleicht sind es aber auch die züngelnden Flammen des Höllenfeuers…

Dieses Salzburg!

Schon in Salzburg verliebt? Schon dieses Buch gelesen? Oder noch nie in Salzburg gewesen und dieses Buch auch noch nicht gelesen? Salzburg und dieses Buch gehören zusammen wie Nockerln und Mozart – es geht nicht ohne!

Fast neunzig Jahre sind vergangen als dieses Buch zum ersten Mal erschien. Auf Englisch! Von einem Österreicher geschrieben. Ferdinand Czernin. Er musste Österreich verlassen – seine Einstellung zum Nationalsozialismus ließ ihm keine andere Wahl. Seit 1934 lebte er in London, später in den USA.

Über die Jahre hat dieses Buch seine Einzigartigkeit und Allgemeingültigkeit bewahrt. Das liegt zum Einen an dem einprägsamen Stil. Czernin nimmt sich selbst nicht so ernst, und zum Anderen ist es eine Wohltat zu lesen wie sehr doch der allgemeine Wandlungswahn nicht bis in jede kleinste Ritze vordringen kann. Zu der Zeit als dieses Buch erstmals erschien, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, war Salzburg einfach nur die Stadt mit dem weltberühmten Festival. Max Reinhardt inszenierte den Jedermann. Aus aller Herren Länder pflegte man den situierten Ausflug in die Alpen, um dem kulturellen Hochgenuss frönen zu können. Von gekrönten Häuptern bis hin zur Bohème traf man sich an der Salzach.

Ach und Mozart war für viele auch noch ein Grund hierher zu kommen. Um das Musikgenie kommt man eben nicht herum – auch wenn seine Lebensgeschichte auch eine Leidensgeschichte ist. Ein Genuss zu lesen wie Ferdinand Czernin die Ehehölle Mozarts als Triebfeder für seinen Komponierwahn heranzieht.

Aus heutiger Sicht ist diese – von Gabriele Liechtenstein kommentierte – Ausgabe ein echtes Fundstück. Als Zuckerli zum herkömmlichen Reiseband ist es fast schon unerlässlich. Czernin weist niemanden den Weg zum nächsten Highlight der Stadt. Er ist der gut informierte und eloquente Reisebegleiter, der neben einem herstiefelt und jede Anekdote kennt. Und vor allem nicht für sich behält!

Die elegante Aufmachung des Buches ist nicht mehr als die logische Konsequenz aus der Wiederentdeckung dieses Klassikers. Knallbunt und langlebig praktische Aufmachung wären nur fehl am Platze. Hier zählt der Inhalt, und der soll gefälligst in einem passenden Outfit seinen Dienst antreten. Und das tut er. Unermüdlich. Wissbegierig. Informativ. Und unterhaltsam. Der nächste Salzburg-Aufenthalt wird garantiert ein anderer sein.

Wage es nur!

Man muss ja nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Doch wenn die eigene kleine Welt ins Wanken gerät – und sei es nur im eigenen kleinen Hirn – muss man vorsichtshalber schon mal die Messer wetzen.

So sieht es zumindest Beth Cassidy. Sie ist die Top-Cheerleader an der Sutton Grove High. Auf der Pyramide aus eingefrorenem Lächeln, bunten glitzernden Pailletten und befreiendem Whooo-Rufen steht sie ganz oben. In jeder Hinsicht. Beth sagt, alle (!) Anderen kuschen. Besonders Addy, Addy Faddy. Sie ist Beth fast schon verfallen. Sie gibt ihr Halt – beim Cheerleading ist es umgekehrt…

Eine Tages steht Colette French auf der Matte. Die neue Trainerin der Cheerleader. Trillerpfeife und – das sieht man schon, das sehen alle – eine ausgebuffte Ex-Cheeleaderin. Und sie ist streng. Strenger als ihre Vorgängerin, die nun ihre Rolle als fürsorgliche Mutter ihrer Teenager-Tochter mit Mutterrolle wahrnimmt. Es geht richtig zur Sache. Militärischer Drill ist angesagt. Trödeleien gibt es nicht mehr. Und siehe da: Das Team wird besser, stärker, selbstbewusster. Nur Beth ist irgendwie so gar nicht begeistert von der Neuen. Beths Hauptrolle als unbestrittene number one wackelt gehörig.

Und dabei ist Colette French eigentlich gar nicht das alles fressende Monster. Sie ist professionell und liebenswert. Wer ihr die Harke vor die Füße wirft, dem tut sie nicht den Gefallen drauf zu treten und sich das Gesicht zu ruinieren. Doch Beth sieht das anders. Ganz anders. Sie muss was tun. Sie wird was tun.

Bis es soweit ist, wirft Autorin Megan Abbott ist ihr ganzes Können ihr die Waagschale, um dem Leser auf rund dreihundert Seiten die ganze Kunst der schleierhaften Spannung durch die Adern rauschen zu lassen. Man weiß, dass etwas passiert. Sogar was passiert ist klar – steht ja schließlich auf den ersten beiden Seiten. Wie es dazu kam, und was dieses ETWAS nun genau ist, das baut sich Kapitel für Kapitel, Seite für Seite, Absatz für Absatz langsam auf.

Der Ort ist so typisch Highschool-Amerika, dass es fast schon weh tut. Chocolate-Chip-Cookies, Wodka, Einkaufen am Honeycutt Drive, lässig über die Schulter hängende Collegejacken, Schmollmund – eine Setting wie in einem Teenagerfilm, der am Sonntagnachmittag die Sonne da draußen vergessen lässt. Doch hier brodelt es gewaltig im Kessel der Eitelkeiten. Das Blut spritzt erstmal nur als Galle, die die Zunge tröpfchenweise verlässt. Der bittere Geschmack bleibt jedoch haften. Und irgendwann … es bedarf nur eines kleinen Funken … wage es bloß nicht! Allein schon der Gedanke an Megan Abbotts nächsten Streich lässt die Hände zittern, die diesen noir in den Händen halten. By the way: Männer sind hier nur Staffage.

Wir könnten Dschungel sein

Gibt es wirklich eine endgültige Flucht? Ella versucht zu fliehen. Sie schon weit weg vorn dem, as sie einst umgab. Jetzt ist sie mitten im kolumbianischen Dschungel. Weit weg von allem, was sie einmal verstörte. Doch die Ferne ist nur eine geographische Ferne. Emotional sind ihr die Erinnerungen näher als sie es möchte.

Wie eine tödliche Umarmung ergreift der Dschungel ihre Gedanken. Dringt in sie ein. Und lässt sie nicht mehr los. In Wien ist sie aufgewachsen. Mit einer Mutter, die nicht für sie da sein konnte. Ohne einen Vater. Ihre erste Flucht war organisiert. Paris. Doch auch hier griff eine unsichtbare, dennoch greifbare Macht, nach ihr. An freies Durchatmen war nicht zu denken.

Der Kontinentwechsel – Ella ist inzwischen erwachsen – soll die Befreiung bringen. So wie dem Land. Kolumbien erwacht, die Bevölkerung erhebt sich. Doch das ist noch weit weg. Der Dschungel ist eine Barriere des Fortgangs. In jeglicher Beziehung. Farne peitschen ihr ins Gesicht. Und reißen alte Narben auf. Denn die Vergangenheit ist kein Narbengewebe, sie sitzt tiefer im Fleisch als alles andere. Narben heilen. Erinnerungen verblassen. Doch wie verblassen sie? Verschwinden sie hinter einem Vorhang?

Jedes Kapitel beginnt mit einer Rückblende. Auf den leicht abgedunkelten Seiten wird bruchstückhaft das ganze Ausmaß Ellas Vergangenheit sichtbar. Der Schleier hebt sich Stück für Stück. Die erdrückenden Erinnerungen verharren nicht hinter dem Dickicht der Vergangenheit, sie scheinen hindurch. Die folgenden Seiten ergeben erst im Zusammenspiel mit dem Grau der Erinnerungen ein komplettes Bild. Kein schönes Bild. Aber ein eindrückliches Bild, das Ella ein Leben lang verfolgt hat und noch lange verfolgen wird.

Der Dschungel um sie herum wird zum Freund. Denn er lockt die düstersten Momente ihres Lebens heraus. Die Schmach, die Pein, die Verletzungen liegen nun offen da. Sie wegzuwischen ist allerdings kein einfaches Unterfangen.

Isabella Feimer fügt der lähmenden Atmosphäre eine poetische Note hinzu. Sie macht sich angreifbar mit den „schönen Worten“ des Grauens. Ella kennt bisher nur Schmerz und Unfreiheit. Jede Zeile in diesem Buch ist jedoch ein Ausbruch aus diesem Gefängnis. Das ist die wahre Pracht dieses kleinen Buches, das dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Hirn und zehn Finger

Man fragt sich immer wieder, wie es derart kleine Bücher (und damit ist allein nur die haptische Dimension gemeint) immer noch und immer wieder schaffen Vergangenheit und Gegenwart so eindrücklich zu vereinen. Jugoslawien 1943. Die italienische Armee führt Krieg auf fremden Boden. Eine kleine Gruppe von … ja, was sind sie denn?: Slowenen, Kroaten, Serben? Kämpfer? Widerständler? … Menschen! Mit Anstand, Mut und Charisma beraubt die Aggressoren ihrer Munition. Munition im wortwörtlichen Sinne. Um ihrem Mut selbst Munition zu geben – im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne. In den Wäldern sind sie sicher. Zumindest sicherer als auf weiter Flur. Doch die Sicherheit trügt. Die italienischen Soldaten kommen näher, durchforsten jeden Quadratzentimeter. Flucht oder Angriff? Flucht. Ja, weil sie nur einem Ziel dient: Endlich entscheidend anzugreifen. Die Beute soll die Wende herbeiführen. Und wenn nicht, dann wenigstens einen herben Rückschlag erzeugen.

Es sind junge Männer, vielleicht sogar noch halbe Kinder, die mit dem Mut der Verzweiflung nur ein Ziel kennen: Durchkommen, damit der Diebstahl der Munition nicht umsonst war. Doch die Flucht durch die Wälder, über Berge und Flüsse ist kein Zuckerschlecken. Die einzige Brücke ist hinweggeschwemmt worden. Eine Durchquerung des Flusses äußerst riskant. Blauäugig oder wohl durchdacht? Die Flussquerung wird zum Abenteuer.

Die Gruppe von Partisanen ist ein wild zusammengewürfelter Haufen. Auf dem Papier passen sie gar nicht zusammen. Doch der gemeinsame Feind lassen das Pamphlet der Vorurteile zusammengeknüllt im Morast der Zweifel verrotten. Nicht alle werden durchkommen. Niemand wird Zeit haben die Toten zu betrauern. Und nicht alle werden das ersehnte Ziel erreichen.

Gerald Kersh wacht über diese Truppe vermeintlicher Nichtzusammenpassender wie eine mütterliche Drohne. Er dirigiert sie in die richtige Richtung. Schonungslos lässt er Träume platzen. Unbarmherzig erzählt er ihre Geschichte. Ein kleines Buch, das jedoch auf jeder Seite so bedingungslos offen der Welt die Fratze der Gewalt zeigt. Wer Mut hat, kennt keine Grenzen. Ein Fluss ohne Brücke muss nicht zwangsläufig unüberwindbar sein. Nationalitäten und Ressentiments sind auf Papier gehaltene Klischees, für die das Leben der ultimative Tintenkiller ist. Ein braucht nicht viel, um voran zu kommen. Manchmal reichen ein Hirn und zehn Finger, um Großes zu schaffen.

Marken

Klingt auf den ersten Blick gar nicht italienisch: M-A-R-K-E-N. Ist es aber! Und wie! Die Region bietet alles, was das italienische Sehnsuchtsgefühl verlangt: Berge, weite Landstriche und Meer. Und jede Menge Kultur. Und sogar stundenlange Spaziergänge, in denen man nicht einen einzigen Touristen im abgeschmackten Fußballtrikot sieht.

Urbino ist sicherlich das Herzstück der Region. Eine Stadt, die vor Renaissance-Pracht strahlt. Da läuft einem das Auge über. Paläste und Straßencafés, großzügige Plätze und kuschelige Gassen. Und wer ein bisschen nach außerhalb wandert, wird mit einzigartigen Aussichten belohnt, die noch lange anhalten werden. Wie beispielsweise oberhalb der Marmitte-Schlucht bei Fossombrone. Ein grandioses Tal, dessen Hänge sich ihre Wildheit bewahrt haben. Und direkt an der Via Flaminia, die – wie soll es anders sein – direkt nach Rom führt.

Fano hingegen ist wohl nur denjenigen bekannt, die sich Rimini im Norden (gehört aber schon zur Emilia Romagna) schon abgewöhnt haben. Eine 60.000-Einwohner zählende Stadt, die mit ihrer Lage am Meer zu punkten weiß. Es lohnt sich den sauberen Sand- und Kiesstrand zu verlassen, um die Stadt zu erkunden. Und wer ganz genau hinsieht – oder in diesem Reiseband blättert – findet so manches historische Leckerli.

Sabine Becht und Sven Talaron machen einer Region die Aufwartung und zeigen jedem Willigen Orte, Plätze, Aussichtspunkte, die man nie wieder vergessen wird. So vergessen wie es scheint, ist Marken nicht. Zwischen hübsch herausgeputzt, urigen Wanderpfaden und einer traditionellen Küche finden sie noch viel mehr Wissenswertes, das bisher kaum oder noch nie in einem Reiseband vorgestellt wurde. Die Wege sind manchmal etwas weiter als anderswo auf dem Stiefel. Dafür ist hier öfter der Weg das Ziel.

Und wer sich die zahlreichen farbigen Kästen im Buch genau durchliest, staunt immer wieder wie viel typisch Italienisches aus dieser Region stammt. Der Maler Raffael wurde hier geboren, um die vielleicht wichtigste Person einmal zu nennen.

Sassoferrato ist mit Bestimmtheit einer der typischsten Orte in der Region. Ein zweigeteilter Ort – unten geschäftig, oben ganz ruhig – der seine Schönheit jedem ganz offen zeigt. Hier findet jeder, was er braucht. Wenn man sich unter die siebentausend Einwohner mischt, fällt man sicherlich auf – wie an vielen Orten der Marken – doch man fühlt sich im Handumdrehen heimisch. Wer sich bisher noch nicht für die Marken als nächstes Italienziel entschieden hat, dem wird hier eine gehaltvolle Entscheidungshilfe geboten. Wer Marken schon auserkoren hat, wird staunen, was er auf seiner To-Do-Liste noch vergessen hat.

Der Stich der Biene

Wenn der Schein das Sein übertrumpft, ist der Niedergang vorprogrammiert. So einleuchtend dieser Sinnsatz erscheinen (haha) mag, so gehaltvoll ist er im Nachhinein. Wenn man Barnes heißt, in einer irischen Kleinstadt wohnt, trifft es den Kern der Familiengeschichte ziemlich genau.

Dickie Barnes verkauft Autos. Er ist fast der einzige weit und breit, der das tut. Und trotzdem geht das übernommene Geschäft den Bach runter. Seiner Frau Imelda ist das Grund genug ihm endgültig die Liebe zu entziehen. Sie ist die Kleinstadtschönheit, die es genießt eben diese Rolle auszufüllen. Hier, wo man im Coffeeshop erstmal die aktuelle Familiensituation erläutern muss bevor man die dünne aufgebrühte Aromabombe zu sich nehmen kann, wo jeder jeden kennt, wo jeder, der nicht hierher gehört misstrauisch beäugt wird, ist das ein gefundenes Fressen für die Lästermäuler.

Am meisten leidet Cass unter dieser Situation. Sie ist achtzehn. Macht bald ihren Schulabschluss, was für sie kein Problem darstellt. Sie gehört zu den Klassenbesten. Ihre beste Freundin Elaine jedoch wendet sich urplötzlich von ihr ab. Das einstige verschworene Duett geht mit einem Mal getrennte Wege. Die Vertrautheit, die freundschaftliche Enge sind passé.

Der zwölfjährige PJ bekommt natürlich auch mit, dass der Haussegen schief hängt. Freunde machen komische Bemerkungen, das Getuschel in den Straßen beliebt auch ihm nicht verborgen. Wenn er doch nur älter wäre – dann würde er lieber gestern als heute abhauen. Pläne und Ideen hat er zuhauf.

Cass hat auch einen Plan dem Stumpfsinn, der bedrückenden Einöde zu entkommen. Bis zum Schulabschluss will sie dem Tageslicht die Farbenvielfalt des Rausches entgegensetzen. Nicht umsonst ist Irland für seine Destilliertradition bekannt.

Jeder hat einen Plan. Einen Plan, um dem Moment eine Mauer der Gleichgültigkeit in den Weg zu bauen. Doch warum das alles? Was ist denn nun eigentlich geschehen? Je länger man in den siebenhundert Seiten (!) liest, desto mehr fragt man sich, warum es diese bisher erfolgreiche Familie nicht schafft sich der Ursache des Schlamassels zu stellen. Das kann doch nicht alles angefangen haben als Imelda am schönsten Tag ihres Lebens von einer Biene gestochen wurde?! Auch der Unfall ein Jahr vor Cass’ Geburt kann nicht die Wurzel allen Übels sein. Und als Dickie schmerzhaft lernen musste was es heißt ein Mann zu sein, kann das allein nicht der Grund dafür sein.

Unterdessen entdeckt Imelda ihre Liebe zu Big Mike wieder. Der ist Elaines Vater und hatte schon immer ein Auge auf die Kleinstadtschönheit Imelda geworfen. So beschaulich das Kleinstadtleben bisher war – so bedrohlich ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.

Paul Murray zeichnet ein graues Bild von der grünen Insel. Die Idylle der in sich geschlossenen Gesellschaft in der Kleinstadt, in der man auf den ersten Blick nichts zu vermissen scheint, ist trügerisch. Ein Jeder träumt vom Ausbruch aus der vorgeplanten Zukunft. Die, die bisher immer hier geblieben sind, haben ihre Träume auf dem Friedhof begraben und sich dem Schicksal ergeben. Die Barnes sind anders. Und doch mittellos, um sich selbst aus dem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Paul Murray setzt dieser Trostlosigkeit jedoch etwas Besonders entgegen. Mit Wortwitz und Entschlossenheit gibt er den Barnes ein Werkzeug in die Hand, das jeden Widerstand aufzubrechen vermag: Humor.

Wer meint, dass man unbedingt einmal im Leben ein dickes Buch – siebenhundert Seiten – gelesen haben muss, der sollte dieses Buch als mehr als nur eine Option erachten.

Maskeraden

Es ist egal welchen Präfix man verwendet: Der Kern bleibt derselbe. Ob nun Neo- oder Austrofaschismus. Es bleibt Faschismus. Doch man kann sich sicher sein, immer wenn ein Präfix vorhanden ist, soll etwas verschleiert werden. Um nicht zu sagen, dass etwas maskiert werden soll. Erstmals wird dem Begriff Austrofaschismus auf kultureller Ebene ein derart umfangreiches und detailliertes Buch gewidmet. Mehr als fünfzig Beiträge ergeben ein Bild, das so umfangreich ist wie noch nie. Komplett ist das Bild nicht, und wird es auch niemals sein. Das wissen die Autoren. Doch das, was sie zusammengetragen haben, reicht vollkommen aus, um der Widerwärtigkeit, der Feigheit, der Maskierung nicht nur die Stirn zu bieten, sondern und vor allem auch aufzuzeigen, was Euphemismus, Verallgemeinerung und perfides Versteckspiel bedeuten: Menschenverachtung und Ignoranz.

Die Autoren Alfred Pfoser, Béla Rásky und Hermann Schlösser sind die Crime Unit mit den großen Pinzetten, die jedes noch so kleine Haar in der Suppe der Maskeraden aufspüren, ohne sich hinterher hinzustellen, um bedeutungsschwanger zu verkünden: „Das ist ein Haar!“. Sie wissen, wo sie suchen müssen. Sie finden. Sie verkünden.

Ein bisschen Vorbildung ist allerdings von Nöten, um dem Gesamtumfang ihrer Recherchen einordnen zu können. Einige der handelnden Personen sind nicht jedem geläufig. Die Fußnoten erleichtern dann aber doch das Erkennen der Zusammenhänge.

Erschreckend ist allerdings die Erkenntnis, dass so manches Störfeuer bis heute nicht erloschen ist und des immer noch Menschen gibt, die darauf hereinfallen. Geschichte wiederholt sich – „Maskeraden“ lässt die anscheinend „neuen Strategien“ aber ziemlich alt aussehen. Die Rufe nach der harten Hand oder dem harten Hund an der Spitze sollten mit diesem Buch ein für allemal verstummen. Mit schlüssigen Beweisen ziehen die Autoren in den Kampf wider das Erstarken von blinder Gehorsamkeit und nicht verstummender Unmenschlichkeit. Die Frage, warum es damals so scheinbar einfach war zu verführen, wird nicht zu beantworten sein. Es ist vielmehr die eine richtige Antwort darauf, ob es noch einmal passieren kann – NEIN, wenn man dieses Buch liest.

Es sind Bücher wie dieses, die unsere Zeit beeinflussen können ohne dabei die Moralkeule zu schwingen. Die Fakten sprechen für sich.

Zauberberge

Dieses Buch gehört seit Erscheinen zu den Klassikern! „Der Zauberberg“ von Thomas Mann feiert in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag. Was schenkt man da zu so einem Anlass? Und vor allem wem schenkt man es? Man beschenkt diejenigen, die dem Werk verfallen sind. Diejenigen, die im Zauberberg bei jedem (kompletten oder stellenweisen) Lesen immer wieder Neues entdecken. Was man schenkt – na dieses kleine Büchlein hier.

Thomas Sparr seziert das Buch einmal mehr und ordnet es neu. Streng alphabetisch. Dabei gibt er sich selbst die Freiheit die Zuordnung zu bestimmen. Denn das Z ist logischerweise für den Zauberberg reserviert. Beziehungsweise sind es gleich mehrere. Also muss die Zivilisation umziehen, und zwar ins C. Dem Zauberer hätte es bestimmt gefallen, auch eine Art I wie Ironie.

Wer den Zauberberg noch nicht kennt, der wird sich in Zukunft mit dem Gedanken herumschlagen müssen das Buch nun endlich bald mal lesen zu müssen. Denn so viele Vorkenntnisse wie nach dem Genuss dieses Büchleins schreien förmlich nach Vervollkommnung dieses Wissensschatzes.

Immer wieder blitzen Zitate auf, die an Aktualität bis heute nichts eingebüßt haben. Beispielsweise beim Thema Antisemitismus. Im Werk ein wacher Gedanke, der die Figuren umtreibt. Und natürlich widmet sich Thomas Sparr auch dem sensiblen Thema Demokratie. Die Selbstverständlichkeit von vor wenigen Jahrzehnten ist wieder einmal ins Wanken gekommen. Vor hundert Jahren waren Diskussionen darüber noch viel schärfer, dennoch nicht minder zukunftsprägend. Und Homosexualität – egal wie offen oder unterschwellig sie nun zutage tritt – ist immer noch ein heißes Eisen.

So manch einer traut sich zu Berge zu versetzen. Thomas Sparr versucht erst gar nicht den Zauberberg zu versetzen. Aber die Sichtweise auf den Jahrhundertroman verändert er für den Einen oder Anderen ganz sicher. Achtzig Seiten geballtes Wissen und Interpretation sind ausreichend, um den Zauber des „Zbg.“ (so hat Thomas Mann seinen Roman in seinen Aufzeichnungen abgekürzt) wirken zu lassen.