Eine pensionierte Bibliothekarin wird von einem ehemaligen Kollegen zum Gabelfrühstück, neudeutsch Brunch, eingeladen. Und das soll der Beginn eines Krimis sein? Klingt nicht besonders spannend, es sei denn … ja es sei denn Ingrid Noll hat ihre Finger im Spiel.
Seit Jahren hat Karla nichts mehr von Wolfram gehört. Warum auch – er war immer ein Eigenbrödler, der vor sich hingearbeitet hat. So richtig Kontakt hatten die beiden nie. Und jetzt lädt er sie zum Essen ein. Seine Frau ist vor einigen Monaten gestorben. Auf ihrem Grabstein steht „Bleib, wo Du bist“. Was auf den ersten Blick wie ein witziger Spruch klingt, hat einen ernsten Hintergrund.
Wolfram ist schwerkrank, der Krebs hat von seinem noch nie sonderlich männlichem Körper Besitz ergriffen. Karla soll – gegen einen nicht ganz unbeträchtlichen Anteil vom Erbe – dafür sorgen, dass Wolfram neben seiner Gattin beerdigt wird. Und auf seinem Grabstein soll stehen: „Dein Feind ist nah“.
Ein Viertel des Vermögens soll sie erben, wenn Wolfram seine endliche Ruhestätte neben seiner herrischen Frau bekommt. Doch es kommt noch dicker für Rentnerin Karla. Sie erhält die Chance sogar die Hälfte des anscheinend großen Vermögens zu erhalten, wenn sie Wolfram bis zu seinem Tod pflegt. Und das ganze Vermögen, wenn … ja wenn sie ihn umbringt. Er bestimmt Ort sowie Art und Weise. Sie wäre eine vermögende Frau, die ihren verdienten Ruhestand gebührend verbringen könnte.
Karlas betuliches Leben ist mit einem Schlag vorbei. Auch Freundin Judith ist da erstmal keine große Hilfe. Sie sieht das Angebot eher nüchtern und rät Karla Wolframs sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Schließlich hat Wolfram nicht mehr viel vom Leben (zu erwarten). Wären da nicht die moralischen Zweifel. Rechtlich wäre sie auf der sicheren Seite – Beihilfe zum Selbstmord ist nicht strafbar. Je länger Karla über das unmoralische Angebot nachdenkt, umso mehr Für und Wider tauchen auf. Ist der Lohn wirklich gesichert? Welche Garantien hat sie außer dem Testament? Was als Tête à Tête begann, wird alsbald zur Ménage-à-trois und viel mehr.
Ingrid Noll trifft in „Hab und Gier“ den Nerv der aktuellen Sterbehilfediskussion. Wo verlaufen die Grenzen zwischen Recht und Unrecht und freier Entscheidung? Mit geschliffener Sprache und tiefgehendem Wortwitz schafft sie eine Atmosphäre der Leichtigkeit, mit der dieses Thema noch nie bedacht wurde.
Auch die Frage, ob man dieses Thema in einem bittersüßen Krimi behandeln darf, erübrigt sich. Wie würde der Leser sonst in den Genuss Ingrid Nolls mörderischer Gedanken zu kommen?