Archiv der Kategorie: Urlaubslektüre

Verlorene Freunde

Donald Windham wurde von Tennessee Williams als das größte Talent seit Carson McCullers bezeichnet. Eine Ehre, aber mit dem Beigeschmack, dass Williams Truman Capote mit diesem Lob eins auswischen wollte. Und schon sind wir bei en beiden Hauptakteuren dieser Erinnerungen aus der Feder eines Talents, das hierzulande weitaus weniger bekannt ist als Capote/Williams.

Und Donald Windham kannte beide gut. Sehr gut. Besser als viele andere. Er arbeitete mit ihnen, reiste mit ihnen, lebte mit ihnen. Als der Erfolg beide überrannte – und nichts anderes war es – verwandelten sie sich in Menschen, mit denen Windham nicht mehr klar kam. Seine Erinnerungen sind kleine Liebeserklärungen unter dem Deckmantel der Faktenweitergabe. Aber es sind und bleiben Liebeserklärungen. Mal nüchtern, mal euphorisch, mal sentimental.

Wir sind in den 40er/50er Jahren als sowohl Capote als auch Williams unangefochtene Stars der Literatur- bzw. Theaterszene Amerikas sind. Windham steht ihnen in Nichts nach. Doch es kann immer nur einen König geben. Traurig oder gar missgünstig ist er aber nicht. Nicht offen, vielleicht. Windham hat viele Freunde- Manche stehen im näher als andere. Genauso sind sie berühmter als andere oder eben weniger bekannt. Doch alle schweben im selben Künstlerkosmos. André Gide und Gore Vidal zählen zu diesem erlesenen Kreis. Taormina, Capri, generell Italien hat es ihnen angetan. Sie bewohnen Villen, die vorher schon von den Großen ihrer Zunft bewohnt wurden. Inspiration und Restitution, Anspannung und Abenteuer sind ihnen gleichermaßen Antrieb und Ansporn.

Beim Lesen folgt man ihnen gern auf ihren Spuren, auf der steten Suche nach Anerkennung und Abschottung. Erfolge und Niederlagen verschmelzen in der Erinnerung Windhams an lieb gewonnene Freunde und deren zu frühen Tod. Ein lautes Lachen, ein gequältes Lächeln sind ebenbürtig.

„Verlorene Freunde“ wurde bei Tennesse Williams viel dramatischer und aufgebauschter erscheinen. Bei Truman Capote wäre es eine gemeine Abrechnung mit all denen, die ihn umgaben und umschmeichelten. Bei Donald Windham sind es kleine Diamanten, die funkeln und die er funkeln lässt. Er hat sein Glück gefunden. Nicht bei, neben oder mit Capote oder Williams – das gemeinsame Glück war nur zeitlich begrenzt – er fand die große Liebe, öfter als gewollt, doch er fand sie. Diese Erinnerungen an Freunde, die sich veränderten Bedingungen (freiwillig?) ergaben, sind eine Zeitreise, die immer noch fasziniert.

Shakespeare – Der Mann, der die Rechnung zahlt

Eine Frau wie Judi Dench zu interviewen, ist sicher kein leichtes Unterfangen. Nicht, weil sie als Zicke oder Diva verschrien ist … nein … ganz im Gegenteil. Man muss sich höllisch in Acht nehmen nicht einem ihrer Witze, Streiche, Schelmereien auf den Leim zu gehen. Bei aller Strenge in ihren Rollen – allen voran sicherlich die als M in den James-Bond-Filmen mit Daniel Craig – so blitzt parallel dazu auch immer ein Augenlächeln hervor. Ist das das Geheimnis ihres Erfolges?

William Shakespeare war und ist der treue Begleiter im Leben von Dame Judi Dench. Bei der Royal Shakespeare Company spielte sie so ziemlich jede Rolle des Dichtergottes. Seit Jahrzehnten steht sie auf der Bühne. Und seit Jahrzehnten ist er – Shakespeare – der Mann, der die Miete zahlt. Schon allein darin erkennt man den ungeheuren Witz, den Judi Dench pflegt. Aus der Pflicht heraus wurde Liebe? Nein, aus der Liebe zu Shakespeare wurde eine angenehme Pflicht, die anderen Pflichten erfüllte (die Miete zu zahlen) und daraus erstarkte die grundlegende Liebe zu Shakespeare. Eine Kreislauf, eine Win-Win-Situation – alles in einem.

Ihr Schauspielkollege Brendan O’Hea hat sich über mehrere Jahre immer wieder mit Judi Dench über ihre Arbeit und vor allem über Shakespeare unterhalten. Es waren anfangs Plaudereien über ihren gemeinsamen „Freund Shakespeare“. Schnell wurde daraus eine Obsession, Später wurden es regelmäßige Interviews. Bis der Gedanke daraus ein Buch zu machen gestalt annahm.

Und was für ein Buch! Shakespeare-Bio, Dench-Lobhudelei im besten Sinne, Ehrerbietung für Autor und Darsteller – das große Rundum-Sorglos-Paket für alle, die Shakespeare kennen, ihnen kennenlernen wollen und für all diejenigen, die der kleinen Frau mit der burschikosen Friseur schon immer zugetan waren.

Jedes Kapitel widmen die beiden einem Stück von William Shakespeare. Denchs phänomenales Gedächtnis überragt das ganze Buch. Sie ist in der Lage sich sofort zu erinnern, Schwierigkeiten exakt und wahrheitsgetreu wiedergeben zu können und den Leser auf eine Reise mitzunehmen, die bitteschön niemals enden sollte. Ihr Erinnerungsvermögen an Kollegen wie Vanessa Redgrave, die mit ihr zur gleichen Zeit die gleiche Schauspielschule besuchte, sind ebenso präsent wie Querelen bei der Besetzung des Regisseurs oder Reisen nach Westafrika.

Wer Shakespeare bisher nur dem Namen nach kannte, wird im Handumdrehen zum Fan. Dench schafft es Begeisterung hervorzurufen, die man nie erwartet hätte. Für immer und alle Zeit wird Shakespeare nun mit dem Namen Judi Dench verbunden sein. Das soll ihr erstmal jemand nachmachen!

Piemont

Feinschmeckern läuft schon bei den Untertiteln das Wasser im Mund zusammen: Albi – mmmh Trüffel, Barolo – oh ja, schenken Sie gern noch einmal nach. Nur die Piemont-Kirsche – die sucht man vergebens. Die gibt’s nämlich gar nicht!

Das gibt’s doch nicht – wird man noch öfter sagen, blättert man sich voller Ungeduld durch den Reiseband. Man beginnt bei Land und Leuten, was in einem Trescher-Reisebuch auch bedeutet Persönlichkeiten ausführlich zu begegnen. Vom Schriftsteller Cesare Pavese über Umberto Tozzi bis hin zum Autor der heimlichen Hymne Italiens „Azzurro“ Paolo Conte. Alle stammen aus dem Piemont.

Und dann kommt das Kapitel, das einem die Reiselust ins Unermessliche steigern lässt: Küche. Cucina. Das ist im Piemont reichhaltig … in jeder Hinsicht. Bis auf eben die berühmten Piemont-Kirschen. Nüsse, Nudeln, Naschereien. Ein Füllhorn, ach was, eine ganze Armada an Füllhörnern präsentiert sich an jeder Ecke und verführt. Auch schon beim Lesen.

Natürlich nimmt Turin den meisten Platz im Buch ein. Ein Industriestadt, die vielen erst auf den zweiten Blick ihre Pracht vor Augen führt. Palazzi und breite Prachtstraßen zeugen von der Macht, die von hier ausging. Turin als Hauptstadt des Piemonts vereinnahmt den Besucher gnadenlos für sich. Die ehemaligen Hausherren, das Haus Savoyen ist weithin sichtbar durch die Prachtbauten immer noch nicht wegzudenken.

Saluzzo hingegen muss man schon suchen. Und vor allem besuchen. Denn hier herrscht hauptstädtisches Flair im Kleinen. Die Stadt hat immer noch das Potenzial Turin den Rang abzulaufen. Doch die Savoyer entschieden sich für Turin. Saluzzo ist ein Kleinod, das nur eineinhalb Stunden Zugfahrt entfernt südlich von Turin, den Besucher mit seinem Charme in Empfang nimmt.

Ob nun in luftigen Höhen im Aostatal wandern oder durch die Weinberge wandeln oder gar bis zum Lago Maggiore seinen Erholungsurlaub ausdehnen – mit diesem Piemont-Reiseband ist man bestens gerüstet ohne dabei auf angenehme Überraschungen verzichten zu müssen. Und dass Alba mehr als nur Trüffel zu bieten hat, dürfte so manchen Leser/Besucher verblüffen.

Wer Schatzsuchen liebt wird hier schnell fündig. Mondovi, Valle Grana, Langhe – allesamt keine Orte, die man sofort parat hat, wenn jemand das Piemont ins Spiel bringt. Doch wer diese Worte besucht hat, wird noch lange danach von seinen Erlebnissen zehren und andere mit seinen Erzählungen anstecken.

Eingeschneit mit einem Mörder

Angus Stuart ist der glücklichste Mensch der Welt. Sein Kontostand ist auf lange Sicht hin prall gefüllt. Er hat einen Bestseller geschrieben. Das Wetter ist so wie es sich am Ende des Jahres gehört – verschneit. Und der Urlaub an der Südküste Englands ist zum Greifen nah. Was soll da schon passieren?! Nun ja, der Titel nimmt es in gewisser Art vorweg: Konto voll, Seele glücklich, doch der Urlaub rückt in immer weitere Ferne. Denn das Auto kommt einfach nicht mehr vorwärts. Zu viel Schnee – da helfen auch die Penunzen nichts. Ein Gasthof mit Vermietung ist die Rettung. Weitere Gäste treffen ein und müssen wohl oder übel hier die Nacht (eventuell auch mehrere) gemeinsam verbringen.

Da sind zum Beispiel die beiden Misses Adderly, Amy und Connie. Betagte Damen, die Angus bereitwillig aus der schneebedingten Misere in die heimelige Unterkunft mitzunehmen wagte.

Luke Constantine, Dr. Luke Constantine, Schachspieler. Destinguiert. Ganz nach Angus’ Geschmack. In der oberen Etage hat sich eine weitere Familie einquartiert, die allerdings nicht mit anderen Gästen in Kontakt kommt, oder kommen möchte. Major Carew ist eine Nummer für sich. Laut, gesprächig, aber erstmal nicht weiter von Belang bis … ja, bis seien Leiche gefunden wird. Und Juwelen werden auch noch gestohlen. Und der Dorfpolizist … na ja, too much trouble. Das ist der gute Mann nicht gewöhnt. Schnee, so viele Gäste und dann gleich zwei Verbrechen auf einmal. Dr. Constantine, Angus und ein weiterer Gast sind die perfekten Ermittler in einem Fall, in dem die Zahl der Verdächtigen aufgrund der beengten Lage eigentlich überschaubar ist. Doch wer hatte ein Motiv und die Möglichkeit?

Ein englischer Krimi in bester Manier. Lange bevor Agatha Christie den Olymp des Genres enterte war Molly Thynne schon da und pferchte eine illustre Gesellschaft zusammen, reduzierte die Zahl der Spieler und gab einen von ihnen oder mehreren das Heft des Handelns in die Hand. Ach wie schön ist die Weihnachtszeit doch, wenn es draußen schneit, das Holz im Kamin knackt, das Licht spärlich auf die Seiten fällt, die Augenlider sich der Schwerkraft ergeben wollen, doch die Neugier die Kontrolle über die Finger übernimmt, die betulich Seite für Seite umblättern und dem Leser die menschlichen Abgründe vorführen!

So muss ein Krimi sein! Ohne dabei jedes Klischee zu bedienen. Geschliffene Sprache, gewitzte Gedanken und Dialoge würzen die Geschichte und halten die Mitmach-Gedanken wach. Hier stimmt alles, von der ersten bis zur letzten Seite.

Die Oxford-Tragödie

Da sitzen sie nun, alles schlaue Köpfe und reden sich den College-Frust, der sie umgibt von der Seele. Ein Dutzend Professoren und eine Anwalt und Hobby-Detektiv aus Wien, Ernst Brendel. Der Erzähler der Geschichte ist Francis Wheatley Winn, Vizepräsident und Seniortutor am St.-Thomas-College in Oxford. Die Rauchschwaden wabern durch die Luft, so mnach einer genießt den Likör, ein Dessert oder einen Kaffee. Winn hat sich mittlerweile eine diebische Freude an diesen Tagesausklängen angewöhnt. Doch heute ist alles anders. Hargreaves, der Dekan stürzt ins Zimmer. Shirley ist tot. Erschossen. In Hargreaves’ Zimmer. Es ist nur ein kleines Loch an der rechten Schläfe. Doch ausreichend, um ihn ins Jenseits zu befördern. Aus kurzer Entfernung.

Und schon stehen die Polizisten auf der Matte. Auch Scotland Yard. Doch so recht wollen die Ermittlungen nicht in Gang kommen. Brendel und Winn sind anscheinend die Einzigen, die für diesen Fall brennen. Zumal Brendel schon erwähnt hat, dass ihn echte Verbrechen brennend interessieren.

Ein Krimi am College – am besten noch im ehrwürdigen Oxford – alles schon mal gehört, gelesen. Doch hier liegt der Fall anders. Denn hier, in diesem Fall, in „Die Oxford-Tragödie“ nahm alles seinen Lauf…

Brendel und Winn sind kein eingespieltes Team, das sich die blindlings zuschießt und die Sätze des Anderen beendet. Hier ermittelt ein Duo, das sich nur zu einem Zweck zusammengetan hat: Den Mord an einem Kollegen aufzuklären. Shirley war ein Wissenschaftler, der sich gern in sein Labor zurückzog. An diesem Abend wollte er mit dem Dekan den Bibliotheksplan noch einmal besprechen. Langweiliger geht’s wohl kaum, möchte man meinen. Doch Langeweile ist in diesem Krimi nicht zu entdecken.

Vielmehr sind die verschlungenen Hallen der nicht minder ehrwürdigen Gebäude ein Synonym für die verschlungenen Gedanken und Machenschaften hinter den dicken Mauern. Und gemauert wird weiterhin. Kein Wunder, dass Scotland Yard hier nicht weiterkommen kann. Nur wer sich hier bestens auskennt, findet den rechten Pfad. Und genau dafür braucht man auch Hilfe, am besten von außerhalb. Ergo sind Winn und Brendel das ideale Paar, um derart schwierige Fälle zu lösen.

Fast neunzig Jahre ist es her, dass der Roman veröffentlicht wurde. Nun auch auf Deutsch. Eine zu lange Wartezeit, das steht fest, sobald man sich in ihn vertieft hat. Was nur ein paar Seiten braucht. Wortspitzen, ausgeklügelte Denkschemata und eine wohlwollende Liebe zu den Akteuren machen „Die Oxford-Tragödie“ zu einem Fest!

Einigelzeit

Boah, was ist denn das für Wetter?! Da schickt man keinen Hund vor die Tür! Das igelt man sich in den eigenen vier Wänden ein und liest ein Buch. Dieses Buch! Auch wenn der Titel beim ersten flüchten Draufschauen etwas sperrig wirkt. Auf den zweiten Blick ist alles klar. Ein-Igel-Zeit.

Cesare Pavese liebte seine Stadt – Turin – wie kein anderer. Ihr setzte er mit jedem seiner Texte ein kleines Denkmal. Dem Altweibersommer konnte er unendliche Freude abgewinnen. Rudyard Kipling – auch wenn in seiner Geschichte von der Erfindung des Gürteltiers der Herbst kau meine Rolle spielt – lässt die trüben Winde und das Alltagsgrau mit einem Mal verschwinden, wenn er ungestüme und leichtgläubige Leopard den gewieften Igel und der ebenso gewitzten Schildkröte intellektuell unterlegen ist. Mit Wilhelm Busch kommt die Leichtigkeit ins getrübte Gemüt. Robert Louis Stevenson genießt es die neue Farbenpracht in sein Herz zu lassen.

Und so liest man sich durch die Herbstgedanken von Eduard Mörike und Friedrich Hebbel über Hoffmann von Fallersleben und Adalbert Stifter bis hin zu Carson McCullers und Ernest Hemingway. Das ist ein Herbst! Da machen einem die dicken grauen Wolken nichts mehr aus. Im Gegenteil: Man freut sich, wenn es draußen so richtig ungemütlich ist. Denn dann ist Einigelzeit.

Und wenn dann einmal der herbst mit all seiner Pracht wiederkehrt, ist es auch nicht schlimm. Denn dann erinnert man sich beim Spaziergang in feucht—frischer Luft an die gelesenen Zeilen und zitiert tief im Inneren so manchen „Leidensgenossen“.

Der Herbst kann kommen. Das passende Buch ist schon da. Die dunklen Tage werden in ein sonniges Licht getaucht, so dass der Winter beruhigt Einzug halten kann. Pssst: Das Buch kann man in jeder Jahreszeit lesen! Und sei es nur, um sich insgeheim z freuen, dass der graue Herbst mit dieser Lektüre keine Chance haben wird…

Samsara

Das historische Setting ist bekannt: Die Unabhängigkeitsbewegung Indiens. Die handelnden Personen sind weltbekannt und teilweise unbekannt. Der Eine ist zum Begriff des gewaltlosen Widerstandes geworden. Trug stets weiß und eine Brille. Und er starb durch eine Kugel. Mahatma Gandhi. Der Andere musste wegen des Kampfes gegen die britischen Besatzer seine Heimat verlassen, ließ sich in den USA zum Agronomen ausbilden, bereiste den Erdball, lebte in Mexiko und starb friedlich in seinem Zuhause. Pandurang Khankhoje ist sein Name und selbst das deutschsprachige Wikipedia findet nur Seiten, in denen sein Name vorkommt.

Patrick Deville, der Weltreisende mit ausgeprägtem Hang zu Geschichte(n) erzählen, nimmt sich dieser beiden Figuren der Weltgeschichte an. Bei seien Recherchen machte ihm vor allem die Corona-Situation zu schaffen, in jeder Hinsicht. Ein weiteres Mal gelingt es ihm scheinbar spielerisch biographische Daten und Anekdoten zu einem festen Stoff zu verweben, der keinerlei Kritik an sich heranlässt.

Mal taucht ein Kämpfer auf, der nur mit Mühe marodierenden Schergen entkommt. Mal ist es eine russische Autorenikone, die geschickt mit dem Leben (in diesem Falle Gandhi) verwoben wird. Stets korrekt und niemals blind dem Effekt hinterher haschend. Das ist das Erfolgsrezept der Bücher von Patrick Deville, dessen Bücher die Weltengeschichte so einzigartig dem Leser näher bringen.

Der indische Unabhängigkeitskrieg wird bildhaft immer nur als langer Marsch ohne Gewalteinsatz dargestellt. Da lief einer vorneweg, der Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam predigte (und vorlebte) und somit das Bild eines ganzen Landes – und mittlerweile von mehr als einer Milliarde Menschen – immer noch prägt. Wie es dazu kam, wird selten bis niemals erläutert. Mit einer Whatsapp-Gruppe wird er das wohl niemals geschafft haben…

Pandurang Khankhoje ist hingegen kaum bekannt. Kampf hatte für ihn etwas mit Krieg zu tun. Waffen waren durchaus eine geeignete Wahl. Sein Er und Gandhi verfolgten dasselbe Ziel. Ein freies Indien, das sich geeint eine sonnige Zukunft selbst aufbaut.

Dieser historische Roman – ein reines Sachbuch ist „Samsara“ nicht – nimmt den Leser in die Hand in eine fast schon unbekannte Welt. Drückende Hitze, längst vergangene, verschwommen wirkende Zeiten und der enorme Faktenreichtum locken den Leser durch die präzise Sprache in historische Zukunftsvisionen, die wie Seifenblasen zerplatzt sind. Patrick Deville ist wie der Großvater auf dessen Schoß man sitzt und dem man unendlich bei seinen Geschichten zuhört. Das sanfte Wippen der Schenkel ist das Umblättern im Dickicht des Unwissens. Und der Duft der Ahnen wird dem umschriebenen Duft des unbekannten Landes gleich gesetzt. „Samsara“ ist wie eine historische Science-Fiction-Saga, der man sich nicht entziehen kann.

Ein Mann namens Loprete

Die Stadt: Unbekannt, irgendwo in Argentinien, trostlos, umgeben von Wüste. Der Ort: El Tanos Bar. Die Handelnden: Loprete, El Tano und zwei Gäste der Bar. Loprete kommt in die Bar, er suche nach Pepa. Sie sei ihm verloren gegangen. Doch die einzige Pepa, die man hier kennt, ist nicht die Pepa, die Loprete sucht. Schnell wird klar, dass Pepa Loprete weggelaufen sein muss. El Tano und die weiteren Gäste wollen bei der Suche nach Pepa helfe. Doch Loprete hat keine Zeit. Der heiße Nordwind, (zu) viel Gin … El Tano hat die Klinge von Lopretes Messer am Hals. Etwas später: Juancho schaufelt eine Loch, Manoel, der Erzähler hält die Lampe – es ist inzwischen tiefe Nacht – El Tano behält Loprete im Auge … man weiß ja nie…

So beginnen düstere Geschichten. Fast wie im Western. Nein, wie im Western. Da gibt es nur ein Problem: Wir sind erst auf Seite Zwei des Buches. Die Story hat einen gewaltigen Anfang. Jetzt muss die Spannung gehalten werden, auf über einhundert Seiten. Wird sie! Wird sie! Wird sie!

Kurze Zeit später fuchtelt schon wieder einer vor El Tano mit dem Messer herum. Dieses Mal fehlt El Tano ein Stück vom Ohr. Und der, der es abschnitt, sieht so aus wie Loprete. Ist er aber nicht! Es ist sein Bruder. Er ist mit zwei weiteren Brüdern gekommen. Es gibt noch mehr Brüder, sechs an der Zahl, die sind nicht mit geritten. Es ist Zeit die Sachen zu packen. El Tano mahnt zur Eile, es scheint als ob er einen Plan hätte. El Tanos Schwester ist der erste Anlaufpunkt. Und immer im Gepäck: Loprete bzw. die Gedanken an ihn. Über ihnen lasten die Tat und El Tanos Geschwätzigkeit. Als das blanke Metall am Ohr im Augenwinkel aufblitzte, brachte er unvorsichtigerweise Juancho ins Spiel. Nun sind drei dunkle Gesellen auf dem Weg zu ihm. Juancho, der gerade Papa geworden ist, dessen Sohn den gleichen Namen trägt wie einer der Brüder Lopretes…

Es wird dunkel im Hirn des Lesers. Kaum die ersten Zeilen gelesen und schon befindet man sich in einer Rache-Noir-Wild-West-Story, die nur optisch nicht allzu dick ist. Was auf den rund einhundertzwanzig Seiten passieren wird, reicht allemal, um sich noch lange nach dem Zuklappen des Buches an jede Einzelheit zu erinnern. Was ist hier eigentlich passiert? Wer ist Pepa? Warum sucht Loprete sie so nachdrücklich? Und warum, verdammt noch mal, ist alles derart eskaliert?

Mariana Trovacio entwickelt beim Schreiben derart viel Lust an Geheimnissen und Andeutungen und offenen Worten (kein Widerspruch!), dass der Leser vor Glück tanzen möchte. Doch die Ungeduld und der Wissensdurst herauszufinden, was denn hier nun eigentlich passiert ist, ist so stark, dass man sich selbstdisziplinieren muss.

Das Meer der Aswang

Der Titel verspricht unendliche Weiten. Ja, das Buch hält dieses Versprechen. Unendlich aber als Synonym für Unentdecktes. Wer kennt schon die Bedeutung einer Aswang in der philippinischen Kultur?! Wer weiß über was eine Aswang ist?! Nun, Aswang ist – das verrät schon der Artikel – ein weibliches Wesen.

Luklak ist ein Mädchen, das schon länger gewisse Veränderungen an sich wahrnimmt. Sie kennt die Legenden von Aswang, Wesen, die in jeder Hinsicht frei sind. Sie kennen keine Lebensregeln, ihr Tun und Denken ist von wirklicher Freiheit geprägt. Das allein schon regt zum Nachdenken an. Denn Freiheit ist in heutiger Zeit ein dehnbarer und immer zum eigenen Vorteil verdrehter Begriff. Meist ist es nur das Unvermögen und die Weigerung einzelne, allgemeingültige Normen anzuerkennen, weil man dafür einen Schritt zu viel machen muss. Bequemlichkeit wäre in diesen Fällen wohl angebracht.

Aswang sind freie Wesen. Dennoch in einem Korsett aus eigener Mystik gefangen. Sie können jede Form annehmen, die sie wollen. Je nachdem womit sie in Berührung gekommen sind. Die Wandlung zur Aswang ist also nicht ganz freiwillig, weil – und das ist das Paradoxe – sie schon immer Aswang waren. Das steht gleich zu Beginn des Buches so geschrieben. Auch hier muss man erstmal seine westlich geformten Gedanken sortieren, … sie freilassen.

Und das wird sich bis zum Ende des Buches nicht ändern. Zum Einen liegt das an den doch für unsere Ohren fremden Begriffe. An die gewöhnt man sich jedoch schnell, lässt man sich vom Lesefluss mitreißen. Andererseits ist der Fortgang der Wandlung nun nicht eben die Art von Geschichte, der man oft begegnet. Es ist mystisch, fremd, anders. Aber, und dieses Aber kann man gar nicht groß genug schreiben: Diese mystische, fremde, andere Welt ist so spannend, dass man gern noch einmal ein paar Seiten zurückblättert, um sich noch einmal zu vergewissern, alles richtig verstanden zu haben. Zum Inhalt darf an dieser Stelle eigentlich gar nichts gesagt werden. Jeder muss selbst zum Forscher werden und sich in die Welt der Aswang, der Familie von Luklak, den Philippinen einlesen. Fasziniert taucht man dank der sanften Worte von Allan N. Derain in eine Welt ein, die noch nie so eindrucksvoll beschrieben wurde. Filmfans ist die Figur der Aswang in einschlägigen Filmen vielleicht schon mal vor Augen gekommen. Doch ihre Darstellung als düstere, mordlüsterne Wesen entspricht nicht der kompletten Wahrheit. „Das Meer der Aswang“ hingegen ist ein wahres Füllhorn an neuen Einsichten in eine Kultur, die ab sofort gar nicht mehr so fremd ist.

Reise mit einer Eselin durch die Cevennen

Guck mal, ein Esel. Ach wie niedlich, die Augen, die Ohren. Ach wie süß! Nachdem die unweigerliche Verzückung vorüber ist, richtet sich das Augenmerk des Lesers auf die folgenden beschriebenen Seiten dieses Reiseberichtes von Robert Louis Stevenson. Genau der Robert Louis Stevenson, der mit der Schatzinsel. Im Herbst 1878 macht er sich auf über 200 Kilometer durch und über die Cevennen zu wandern. Zwölf Tage für 200 Kilometer – sportlich. Und jetzt versetzen wir uns in die Gegenwart. Wir wollen wie Stevenson durchs Gebirge wandern und Ruhe und Einsamkeit finden. Und finden was? Endlose Schlangen von Wohnmobilen, deren Fahrer fast schon pastoral von Freiheit murmeln und die sich ebenso endlos statt um das Leeren ihrer Chemikalientanks kümmern lieber mit einem Wagenrad über dem Abgrund erst einmal erleichtern statt die Aussicht zu genießen. Navi mit emotionsloser Stimme weisen den Weg. Und hoffentlich gibt’s auf dem nächsten Campingplatz ein vernünftiges WLAN, dass man bloß nicht das eigene Datenvolumen verbrauchen muss. Und hoffentlich spricht man die eigene Sprache dort. Und bitte, lieber Fahrergott, lass es sauber sein! Das sind Sorgen?!

Stevenson hat sich wie so viele das Reiseziel bzw. die Reiseroute sorgsam ausgewählt. Er lässt sich sogar einen Schlafsacke nähen. Auf ihn zugeschnitten und nicht aus einem Material, dass vor ein oder zwei Leben noch eine Getränkeflasche war. Alles aus natürlichen Materialien. Gab ja nichts anderes!

Stevensons Reisemobil (eigentlich nur der Kofferraum oder die Gepäckablage) ist Modestine. Eine Eselin. Weiblich. Esel. Alles klar?! Störrisch, eigenwillig. Und dennoch ist Stevenson dem Begriff der Freiheit, der Definition von Freisein näher als alles Vierradmobilisten, die meinen ihren ökologischen Fußabdruck allein nur durch das Vermeiden von Flugmeilen im erträglichen Rahmen halten zu können. Denn Stevenson trifft hier kaum Menschen. Er kann unbeachtet wild campen. Dreimal tut er dies. Einmal nächtigt er im Kloster. Schweigegelübde inklusive. Schwer für einen, der als brillanter Geschichtenerzähler gilt. Und immer dabei, wenn auch nicht immer erwähnt: Modestine.

„Reise mit einer Eselin durch die Cevennen“ ist der vergnüglichste Reisebericht des Jahres. Wenn auch schon etwas in die Jahre gekommen, so ist es ein unerbitterliches Vergnügen einem gewieften Fahrten(be)schreiber durch den Süden Frankreichs zu folgen. Amüsant, lehrreich, hilfreich, aber vor allem unterhaltsam. Ganz ohne Powerbank, Social media account, Sattelitenunterstützung, Vorausbuchung und sonstigem Schnickschnack, der der Freiheit das Ureigenste nimmt: Sich selbst. Immer wider, immer noch lesbar und fast schon unverzichtbar in einer Zeit, in der man sich gern jeder Last entledigen möchte, weil man meint es genau so tun zu müssen.