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Verlorene Freunde

Donald Windham wurde von Tennessee Williams als das größte Talent seit Carson McCullers bezeichnet. Eine Ehre, aber mit dem Beigeschmack, dass Williams Truman Capote mit diesem Lob eins auswischen wollte. Und schon sind wir bei en beiden Hauptakteuren dieser Erinnerungen aus der Feder eines Talents, das hierzulande weitaus weniger bekannt ist als Capote/Williams.

Und Donald Windham kannte beide gut. Sehr gut. Besser als viele andere. Er arbeitete mit ihnen, reiste mit ihnen, lebte mit ihnen. Als der Erfolg beide überrannte – und nichts anderes war es – verwandelten sie sich in Menschen, mit denen Windham nicht mehr klar kam. Seine Erinnerungen sind kleine Liebeserklärungen unter dem Deckmantel der Faktenweitergabe. Aber es sind und bleiben Liebeserklärungen. Mal nüchtern, mal euphorisch, mal sentimental.

Wir sind in den 40er/50er Jahren als sowohl Capote als auch Williams unangefochtene Stars der Literatur- bzw. Theaterszene Amerikas sind. Windham steht ihnen in Nichts nach. Doch es kann immer nur einen König geben. Traurig oder gar missgünstig ist er aber nicht. Nicht offen, vielleicht. Windham hat viele Freunde- Manche stehen im näher als andere. Genauso sind sie berühmter als andere oder eben weniger bekannt. Doch alle schweben im selben Künstlerkosmos. André Gide und Gore Vidal zählen zu diesem erlesenen Kreis. Taormina, Capri, generell Italien hat es ihnen angetan. Sie bewohnen Villen, die vorher schon von den Großen ihrer Zunft bewohnt wurden. Inspiration und Restitution, Anspannung und Abenteuer sind ihnen gleichermaßen Antrieb und Ansporn.

Beim Lesen folgt man ihnen gern auf ihren Spuren, auf der steten Suche nach Anerkennung und Abschottung. Erfolge und Niederlagen verschmelzen in der Erinnerung Windhams an lieb gewonnene Freunde und deren zu frühen Tod. Ein lautes Lachen, ein gequältes Lächeln sind ebenbürtig.

„Verlorene Freunde“ wurde bei Tennesse Williams viel dramatischer und aufgebauschter erscheinen. Bei Truman Capote wäre es eine gemeine Abrechnung mit all denen, die ihn umgaben und umschmeichelten. Bei Donald Windham sind es kleine Diamanten, die funkeln und die er funkeln lässt. Er hat sein Glück gefunden. Nicht bei, neben oder mit Capote oder Williams – das gemeinsame Glück war nur zeitlich begrenzt – er fand die große Liebe, öfter als gewollt, doch er fand sie. Diese Erinnerungen an Freunde, die sich veränderten Bedingungen (freiwillig?) ergaben, sind eine Zeitreise, die immer noch fasziniert.

Shakespeare – Der Mann, der die Rechnung zahlt

Eine Frau wie Judi Dench zu interviewen, ist sicher kein leichtes Unterfangen. Nicht, weil sie als Zicke oder Diva verschrien ist … nein … ganz im Gegenteil. Man muss sich höllisch in Acht nehmen nicht einem ihrer Witze, Streiche, Schelmereien auf den Leim zu gehen. Bei aller Strenge in ihren Rollen – allen voran sicherlich die als M in den James-Bond-Filmen mit Daniel Craig – so blitzt parallel dazu auch immer ein Augenlächeln hervor. Ist das das Geheimnis ihres Erfolges?

William Shakespeare war und ist der treue Begleiter im Leben von Dame Judi Dench. Bei der Royal Shakespeare Company spielte sie so ziemlich jede Rolle des Dichtergottes. Seit Jahrzehnten steht sie auf der Bühne. Und seit Jahrzehnten ist er – Shakespeare – der Mann, der die Miete zahlt. Schon allein darin erkennt man den ungeheuren Witz, den Judi Dench pflegt. Aus der Pflicht heraus wurde Liebe? Nein, aus der Liebe zu Shakespeare wurde eine angenehme Pflicht, die anderen Pflichten erfüllte (die Miete zu zahlen) und daraus erstarkte die grundlegende Liebe zu Shakespeare. Eine Kreislauf, eine Win-Win-Situation – alles in einem.

Ihr Schauspielkollege Brendan O’Hea hat sich über mehrere Jahre immer wieder mit Judi Dench über ihre Arbeit und vor allem über Shakespeare unterhalten. Es waren anfangs Plaudereien über ihren gemeinsamen „Freund Shakespeare“. Schnell wurde daraus eine Obsession, Später wurden es regelmäßige Interviews. Bis der Gedanke daraus ein Buch zu machen gestalt annahm.

Und was für ein Buch! Shakespeare-Bio, Dench-Lobhudelei im besten Sinne, Ehrerbietung für Autor und Darsteller – das große Rundum-Sorglos-Paket für alle, die Shakespeare kennen, ihnen kennenlernen wollen und für all diejenigen, die der kleinen Frau mit der burschikosen Friseur schon immer zugetan waren.

Jedes Kapitel widmen die beiden einem Stück von William Shakespeare. Denchs phänomenales Gedächtnis überragt das ganze Buch. Sie ist in der Lage sich sofort zu erinnern, Schwierigkeiten exakt und wahrheitsgetreu wiedergeben zu können und den Leser auf eine Reise mitzunehmen, die bitteschön niemals enden sollte. Ihr Erinnerungsvermögen an Kollegen wie Vanessa Redgrave, die mit ihr zur gleichen Zeit die gleiche Schauspielschule besuchte, sind ebenso präsent wie Querelen bei der Besetzung des Regisseurs oder Reisen nach Westafrika.

Wer Shakespeare bisher nur dem Namen nach kannte, wird im Handumdrehen zum Fan. Dench schafft es Begeisterung hervorzurufen, die man nie erwartet hätte. Für immer und alle Zeit wird Shakespeare nun mit dem Namen Judi Dench verbunden sein. Das soll ihr erstmal jemand nachmachen!

Samsara

Das historische Setting ist bekannt: Die Unabhängigkeitsbewegung Indiens. Die handelnden Personen sind weltbekannt und teilweise unbekannt. Der Eine ist zum Begriff des gewaltlosen Widerstandes geworden. Trug stets weiß und eine Brille. Und er starb durch eine Kugel. Mahatma Gandhi. Der Andere musste wegen des Kampfes gegen die britischen Besatzer seine Heimat verlassen, ließ sich in den USA zum Agronomen ausbilden, bereiste den Erdball, lebte in Mexiko und starb friedlich in seinem Zuhause. Pandurang Khankhoje ist sein Name und selbst das deutschsprachige Wikipedia findet nur Seiten, in denen sein Name vorkommt.

Patrick Deville, der Weltreisende mit ausgeprägtem Hang zu Geschichte(n) erzählen, nimmt sich dieser beiden Figuren der Weltgeschichte an. Bei seien Recherchen machte ihm vor allem die Corona-Situation zu schaffen, in jeder Hinsicht. Ein weiteres Mal gelingt es ihm scheinbar spielerisch biographische Daten und Anekdoten zu einem festen Stoff zu verweben, der keinerlei Kritik an sich heranlässt.

Mal taucht ein Kämpfer auf, der nur mit Mühe marodierenden Schergen entkommt. Mal ist es eine russische Autorenikone, die geschickt mit dem Leben (in diesem Falle Gandhi) verwoben wird. Stets korrekt und niemals blind dem Effekt hinterher haschend. Das ist das Erfolgsrezept der Bücher von Patrick Deville, dessen Bücher die Weltengeschichte so einzigartig dem Leser näher bringen.

Der indische Unabhängigkeitskrieg wird bildhaft immer nur als langer Marsch ohne Gewalteinsatz dargestellt. Da lief einer vorneweg, der Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam predigte (und vorlebte) und somit das Bild eines ganzen Landes – und mittlerweile von mehr als einer Milliarde Menschen – immer noch prägt. Wie es dazu kam, wird selten bis niemals erläutert. Mit einer Whatsapp-Gruppe wird er das wohl niemals geschafft haben…

Pandurang Khankhoje ist hingegen kaum bekannt. Kampf hatte für ihn etwas mit Krieg zu tun. Waffen waren durchaus eine geeignete Wahl. Sein Er und Gandhi verfolgten dasselbe Ziel. Ein freies Indien, das sich geeint eine sonnige Zukunft selbst aufbaut.

Dieser historische Roman – ein reines Sachbuch ist „Samsara“ nicht – nimmt den Leser in die Hand in eine fast schon unbekannte Welt. Drückende Hitze, längst vergangene, verschwommen wirkende Zeiten und der enorme Faktenreichtum locken den Leser durch die präzise Sprache in historische Zukunftsvisionen, die wie Seifenblasen zerplatzt sind. Patrick Deville ist wie der Großvater auf dessen Schoß man sitzt und dem man unendlich bei seinen Geschichten zuhört. Das sanfte Wippen der Schenkel ist das Umblättern im Dickicht des Unwissens. Und der Duft der Ahnen wird dem umschriebenen Duft des unbekannten Landes gleich gesetzt. „Samsara“ ist wie eine historische Science-Fiction-Saga, der man sich nicht entziehen kann.

Leonard Cohens Stimme

„Um das Experiment mit Maisstärke, Wasser und einem Lautsprecher durchzuführen, spannen Sie Frischhaltefolie über die Membran des Lautsprechers und befestigen Sie sie gut mit Klebeband. Mischen Sie dann Maisstärke und Wasser in einem Verhältnis von etwa 2:1, bis ein zähflüssiger Brei entsteht. Gießen Sie dieses Gemisch vorsichtig auf die Folie und spielen Sie Musik mit starken Bässen ab. Die Vibrationen des Lautsprechers lassen die Stärke sich wie ein Feststoff verhalten und erzeugen faszinierende Muster und Formen auf der Membran, da das Gemisch eine nicht-newtonsche Flüssigkeit ist.“ Soweit die KI-Antwort auf die Stichworte Maismehl – Wasser – Lautsprecher. Soweit die Physik.

Und der ultimative Soundtrack zu diesem Experiment kommt aus den Tiefen des Bauchraums und aus Kanada.

In Caspar Battegay rufen das Timbre und die Texte wohl ähnliche Ergebnisse hervor. Das Prophetische in seinen Liedzeilen, die Wut, die Sanftheit von Leonard Cohen fängt er mit chirurgischer Präzision ein und hüllt sie in eine Sprachwolke, die dem großen Meister des lyrischen Impressionismus in nichts nachsteht. Auszüge seiner Lieder im richtigen Licht dargestellt, eröffnen selbst eingefleischten Fans eine neue Welt. Immer wieder trifft man auf Bekanntes und wird durch neue Sichtweisen mitten ins Licht geführt. Leonard Cohen bewegte zu Lebzeiten die Massen. Mit seinem Tod im Jahr 2016 nahm die Legendebildung richtig Fahrt auf. Er wird auf unabsehbare Zeit die Stimme mehrerer Generationen sein.

Hall und Rausch gehen bei ihm eine Symbiose ein, die den ganzen Körper in Beschlag nimmt. Schon beim Lesen keimt der unstillbare Wunsch noch einmal die Vergangenheit zurückzuholen als man das erste Mal diese Stimme hörte. Der Moment als eine kurze Wortfolge das Leben auf den Kopf zu stellen drohte.

Viele haben sich daran versucht Leonard Cohen zu analysieren. Oft war nur die Suche das Ergebnis. Caspar Battegay gelingt das, was vielen versagt blieb. Nämlich Leonard Cohen ein wirkliches Denkmal zu setzen, das neben der Legende besteht.

Es passiert so gut wie nie, dass man bei der gesamten Lektüre eines Buches leise vor sich hinsummt. Ein lang anhaltendes „Hallelujah“ oder ein nicht minder kurzer Dance (me) „to the end of love“ lassen sie Seiten an einem vorbeifliegen, so dass man Lust bekommt es gleich nochmal zu lesen. .

Das Meer der Aswang

Der Titel verspricht unendliche Weiten. Ja, das Buch hält dieses Versprechen. Unendlich aber als Synonym für Unentdecktes. Wer kennt schon die Bedeutung einer Aswang in der philippinischen Kultur?! Wer weiß über was eine Aswang ist?! Nun, Aswang ist – das verrät schon der Artikel – ein weibliches Wesen.

Luklak ist ein Mädchen, das schon länger gewisse Veränderungen an sich wahrnimmt. Sie kennt die Legenden von Aswang, Wesen, die in jeder Hinsicht frei sind. Sie kennen keine Lebensregeln, ihr Tun und Denken ist von wirklicher Freiheit geprägt. Das allein schon regt zum Nachdenken an. Denn Freiheit ist in heutiger Zeit ein dehnbarer und immer zum eigenen Vorteil verdrehter Begriff. Meist ist es nur das Unvermögen und die Weigerung einzelne, allgemeingültige Normen anzuerkennen, weil man dafür einen Schritt zu viel machen muss. Bequemlichkeit wäre in diesen Fällen wohl angebracht.

Aswang sind freie Wesen. Dennoch in einem Korsett aus eigener Mystik gefangen. Sie können jede Form annehmen, die sie wollen. Je nachdem womit sie in Berührung gekommen sind. Die Wandlung zur Aswang ist also nicht ganz freiwillig, weil – und das ist das Paradoxe – sie schon immer Aswang waren. Das steht gleich zu Beginn des Buches so geschrieben. Auch hier muss man erstmal seine westlich geformten Gedanken sortieren, … sie freilassen.

Und das wird sich bis zum Ende des Buches nicht ändern. Zum Einen liegt das an den doch für unsere Ohren fremden Begriffe. An die gewöhnt man sich jedoch schnell, lässt man sich vom Lesefluss mitreißen. Andererseits ist der Fortgang der Wandlung nun nicht eben die Art von Geschichte, der man oft begegnet. Es ist mystisch, fremd, anders. Aber, und dieses Aber kann man gar nicht groß genug schreiben: Diese mystische, fremde, andere Welt ist so spannend, dass man gern noch einmal ein paar Seiten zurückblättert, um sich noch einmal zu vergewissern, alles richtig verstanden zu haben. Zum Inhalt darf an dieser Stelle eigentlich gar nichts gesagt werden. Jeder muss selbst zum Forscher werden und sich in die Welt der Aswang, der Familie von Luklak, den Philippinen einlesen. Fasziniert taucht man dank der sanften Worte von Allan N. Derain in eine Welt ein, die noch nie so eindrucksvoll beschrieben wurde. Filmfans ist die Figur der Aswang in einschlägigen Filmen vielleicht schon mal vor Augen gekommen. Doch ihre Darstellung als düstere, mordlüsterne Wesen entspricht nicht der kompletten Wahrheit. „Das Meer der Aswang“ hingegen ist ein wahres Füllhorn an neuen Einsichten in eine Kultur, die ab sofort gar nicht mehr so fremd ist.

Reise mit einer Eselin durch die Cevennen

Guck mal, ein Esel. Ach wie niedlich, die Augen, die Ohren. Ach wie süß! Nachdem die unweigerliche Verzückung vorüber ist, richtet sich das Augenmerk des Lesers auf die folgenden beschriebenen Seiten dieses Reiseberichtes von Robert Louis Stevenson. Genau der Robert Louis Stevenson, der mit der Schatzinsel. Im Herbst 1878 macht er sich auf über 200 Kilometer durch und über die Cevennen zu wandern. Zwölf Tage für 200 Kilometer – sportlich. Und jetzt versetzen wir uns in die Gegenwart. Wir wollen wie Stevenson durchs Gebirge wandern und Ruhe und Einsamkeit finden. Und finden was? Endlose Schlangen von Wohnmobilen, deren Fahrer fast schon pastoral von Freiheit murmeln und die sich ebenso endlos statt um das Leeren ihrer Chemikalientanks kümmern lieber mit einem Wagenrad über dem Abgrund erst einmal erleichtern statt die Aussicht zu genießen. Navi mit emotionsloser Stimme weisen den Weg. Und hoffentlich gibt’s auf dem nächsten Campingplatz ein vernünftiges WLAN, dass man bloß nicht das eigene Datenvolumen verbrauchen muss. Und hoffentlich spricht man die eigene Sprache dort. Und bitte, lieber Fahrergott, lass es sauber sein! Das sind Sorgen?!

Stevenson hat sich wie so viele das Reiseziel bzw. die Reiseroute sorgsam ausgewählt. Er lässt sich sogar einen Schlafsacke nähen. Auf ihn zugeschnitten und nicht aus einem Material, dass vor ein oder zwei Leben noch eine Getränkeflasche war. Alles aus natürlichen Materialien. Gab ja nichts anderes!

Stevensons Reisemobil (eigentlich nur der Kofferraum oder die Gepäckablage) ist Modestine. Eine Eselin. Weiblich. Esel. Alles klar?! Störrisch, eigenwillig. Und dennoch ist Stevenson dem Begriff der Freiheit, der Definition von Freisein näher als alles Vierradmobilisten, die meinen ihren ökologischen Fußabdruck allein nur durch das Vermeiden von Flugmeilen im erträglichen Rahmen halten zu können. Denn Stevenson trifft hier kaum Menschen. Er kann unbeachtet wild campen. Dreimal tut er dies. Einmal nächtigt er im Kloster. Schweigegelübde inklusive. Schwer für einen, der als brillanter Geschichtenerzähler gilt. Und immer dabei, wenn auch nicht immer erwähnt: Modestine.

„Reise mit einer Eselin durch die Cevennen“ ist der vergnüglichste Reisebericht des Jahres. Wenn auch schon etwas in die Jahre gekommen, so ist es ein unerbitterliches Vergnügen einem gewieften Fahrten(be)schreiber durch den Süden Frankreichs zu folgen. Amüsant, lehrreich, hilfreich, aber vor allem unterhaltsam. Ganz ohne Powerbank, Social media account, Sattelitenunterstützung, Vorausbuchung und sonstigem Schnickschnack, der der Freiheit das Ureigenste nimmt: Sich selbst. Immer wider, immer noch lesbar und fast schon unverzichtbar in einer Zeit, in der man sich gern jeder Last entledigen möchte, weil man meint es genau so tun zu müssen.

Wien, Wien, nur Du allein …

Über kaum eine andere Stadt werden jedes Jahr derart viele Bücher veröffentlicht wie über Wien. Kaffeehäuser, Künstler, geheime Ecken – alles wird unter die Lupe genommen, weil die Archive überquellen vor Dokumenten. Es scheint ein Einfaches zu sein über Wien zu schreiben und zu berichten. Aus dem Berg an Information und neu Ausgegrabenem ragen jedoch immer wider Bücher hervor, die der Thematik mehr als nur eine Berechtigung bescheinigen. So wie „Wien, Wien, nur du allein…“. Volksbelustigung in einer der schönsten Städte der Welt.

Gabriele Hasmann nimmt das Vergnügen an dem Vergnügen vergnüglich auf den Grund zu gehen. Nicht nur der Tod is a Wiener, der Schelm auch. Und der Vergnügungssüchtige. Und der Voyeur. Und der Pionier. Und und und. Ein Sammelsurium der Kuriositäten und der kuriosen Seltsamkeiten, in einem Buch. Ein Buch, das Wienkenner in Verstaunen versetzt. Und Wien-Neulinge an den Rand der exzessiven Sehnsucht treibt.

Wien und Vergnügungen das sind zwei Dinge, die untrennbar miteinander verbunden sind. Einfach nur flanieren, das ging damals (wann auch immer damals beginnt und wann auch immer es aufhört) genau so gut wie heute. Doch irgendwann ist auch mal Schluss mit dem Müßiggang. Dann braucht man Äcktschn!

Viel ist voll mit Museen, die jeden Wienbesuch zu etwas Besonderem machen. Ob groß oder klein, jeder muss mindestens ein Museum in Wien besuchen. Doch wie war das vor ein-, zweihundert Jahren? Immer nur ins Museum? Nö! Der Prater war die Hauptattraktion der Stadt. Die Fahrgeschäfte sind bis heute Magnet für Tausende.

Freaks nannte man die Hauptattraktionen über den großen Teich. Sensationsschauen in Deutschland. Hier traten Menschen auf, die heute so niemals mehr dargestellt würden. Dass unter dem Siegel der political correctness auch die Berichterstattung darüber ins Abseits geschoben wird, ist zweifelhaft und hat nichts mehr mit Menschenwürde zu tun.

Damenkappellen (das war mal ’ne Sensation!), morbide Peep-Shows, Feuerwerk – die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Wien war the place to be. London und Paris waren zweifelsohne größer. Aber in der Donaumetropole bekam man auf der Straße und um die Ecke das geboten, was andernorts nur in Theatern zu besichtigen war.

Auffällig und vor allem nachvollziehbar sind die exakten Adressangaben der Autorin. Bis heute kann man so manchen „Zirkus“ noch exakt verorten. Auch wenn es dort heute anders aussieht. Wohnraum und Einkaufstempel machten so mancher Attraktion den Platz streitig, ihre Geschichte konnte sie nicht in den Boden der Vergessenheit stampfen. Dieses Buch ist ein Erinnerungsort, der dem Vergnügen der Städter ein weiteres Denkmal setzt. Der nächste Wienbesuch wird so manchen Abstecher in vergnügliche Zeiten parat halten und für so manchen Schmunzler sorgen. Denn nur der Leser dieses Buches weiß, was früher hinter diesen (neuen) Mauern vor sich ging…

Über die Brücken von Paris

Es ist unbestritten, dass Paris zu den Top 10 der Sehnsuchtsorte auf der Welt gilt. Das belegen allein schon die Besucherzahlen. Zum Anderen sind es aber auch die unzähligen Bücher, die über die Stadt geschrieben wurden und der Berg an Büchern, deren Handlung ohne Paris nur halb so interessant wäre.

Gernot Gad geht es sicherlich nicht anders – der gebürtige Berliner lebt in Paris. Nicht weil er muss, sondern weil er es will. Weil die Stadt ihn fasziniert. Es saugt die Stadt auf, atmet ihren Rhythmus ein und stromert mit wachem Auge von Links nach Rechts. Dabei quert er die Seine ein ums andere Mal. Es scheint schon fast logisch, dass er den Brücken, die ihn übers Wasser tragen, ein Denkmal setzen muss. Und was für eins!

Kaum eine romantische Szene kommt ohne die Brücken von Paris (am besten bei Nacht oder zumindest bei Anbruch der Nacht) aus. Das Lichtermeer ist schmeichelnd für das Auge. Mit Eiffelturm im Hintergrund – ebenfalls beleuchtet – und schon hat man das perfekte Erinnerungsbild für die Ewigkeit. Kitschig. Ein bisschen. Aber auch umwerfend beeindruckend. So muss Paris in der Erinnerung sein!

Ist der erste Rausch verklungen, drängen die ernsten Fakten nach vorn. Siebenunddreißig Brücken sind es die Paris die Trennung durch die Seine vergessen lassen. Pont Neuf ist wohl die bekannteste in einer zeit, in der das schnelle eindrucksvolle Foto mehr Wert besitzt als die nie verblassende Erinnerung an eine schöne Zeit. Juliette Binoche setzte im gleichnamigen Film dieser Brücke ein ewiges Denkmal. Filmgeschichte zum Anfassen bzw. zum darauf Herumlaufen. Diese Brücke allein für sich zu habe, ist unmöglich.

Aber da sind ja noch sechsunddreißig weitere Brücken. Und ihre Geschichte teilt Gernot Gad mit dem Leser. Hochzeitspaare an einer Brücke, die an den Krieg in der Wüste erinnert – wenig romantisch. Doch Monsieur Eiffels Vermächtnis im Hintergrund lässt all die Pein vergessen. Das Licht muss nur stimmen.

Pont Grenelle – dort, wo die Freiheitsstatue in kleinerer Ausführung steht – raunt man sich Legenden zu. Hier das Original, da die überlebensgroße Kopie. Von wegen. Umgekehrt ist es richtig. Hier wird Geschichte fasst schon greifbar. Besonders, wenn man sich das Gesicht der Dame auf der Brücke anschaut. Frédéric Auguste Bartholdi hat die Statue geschaffen. Das Gesicht war ihm wohl bekannt. Es ist das Gesicht seiner Mutter. Und eigentlich sollte sie schon Jahrzehnte vorher in der warmen Sonne Ägyptens stehen…

„Über die Brücken von Paris“ ist genau das Buch, das man braucht, kennt man die Stadt schon gut. Sind die Märkte wie der heimische Supermarkt, ist der Eiffelturm nicht mehr Objekt des stundenlangen Wartens auf überragende Aussichten, ist Montmartre nicht länger das verblassende Klischee des Paris von einst, sind die Modeläden in Le Châtelet nur Fassaden, die man gern noch im Augenwinkel wahrnimmt – dann wird es Zeit sich neue Ziele in Paris zu stecken. Von A bis A, von Aval bis Amont, das ist schon eine ordentliche Wegstrecke, die man da zurücklegen muss. Immer am Ufer entlang. Und in der Mitte des Weges ganz schön voll. Und doch nimmt man all das auf sich, um in Paris doch etwas zu erleben, was Andere niemals wahrnehmen werden – so lange sie nicht dieses Buch mindestens in der Hand halten – Paris ist ab sofort eine ganz andere Stadt!

Bilderbuch einer Nacht

Der Titel würde auch gut zu einem der zahlreichen Singer/Songwriter passen, der in seinem eigenen Taumel durch die Stadt irrlichtert und versucht seinem Weltschmerz mit jammernder Stimme Gehör zu verschaffen. Er wird scheitern, schon allein deswegen, weil er denkt, dass ihm der Albumtitel zu allererst eingefallen sei. Nein, Erik-Ernst Schwabach war schneller. Und heller. Und einfallsreicher. Nicht so verweichlicht. Und schon gar nicht wimmernd.

In „Bilderbuch einer Nacht“ streift die Menschheit durch eben selbige. Sie sind einholen – ein wunderbar altmodischer Begriff, der so manchem Singer/Songwriter (da sind sie wieder!) abhanden gekommen ist – sie flitzen nach dem Omnibus, sie hecheln nach Liebe, wollen sich den Wanst voll schlagen, sind Getriebene und hetzende Meute zugleich. Alles ganz normal! Normale Menschen, die dem Leben einen Moment abknüpfen wollen, um ihm ihren Stempel aufzudrücken. Alles so wunderbar altmodisch. Ein Hut ist hier ein Hut, nicht modische Accessoire, um sich einer Clique angehörig zu präsentieren. Sie alle tragen nicht die Klampfe als Wehklang über der Schulter. Die Nacht ist zum leben da. Bedürfnisse und Bedarf verschwimmen im Laternenbrei wie Tag und Nacht.

Ernst-Erik Schwabach wurde mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Alter Bankiersadel. Die jüdischen Wurzeln wurden von seinen Vorfahren aus verständlichen Gründen abgelegt. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt es sich seiner Religion zumindest in Acht zu nehmen. Schwabach war nun protestantisch. Mit dem Geld der Familie kaufte er sich bei Verlagen ein. Unter anderem bei Kurt Wolff in Leipzig. Er gab eine literarische Zeitschrift heraus. Er förderte Autoren und Künstler wie zum Beispiel Else Lasker-Schüler. Im Familienschloss Märzdorf las Heinrich Mann aus seinem „Untertan“ bevor er veröffentlicht wurde. Und Erik-Ernst Schwabach schrieb selbst. In der Kunstszene Deutschlands hatte der Name Schwabach einen wohlklingenden (und für viele überlebenswichtigen) Ruf. Und dennoch kennt man ihn heutzutage kaum noch.

Die Inflationszeit fraß die Reserven auf. Der aufkommende und später regierende Nationalsozialismus gaben ihm den Rest. Schwabach emigrierte nach England. Das Einkommen war im Vergleich zu den Jahren vor der Geldentwertung weniger als ein Tropfen aus dem (verdammt) heißen Stein. Dieses Buch erschiene trotzdem. Auf Polnisch. Im Exil erhielt Erik-Ernst noch eine Ausgabe, die er allerdings nicht verstehen konnte. Polnisch war nicht seine Muttersprache. Wenige Tage/Wochen später verstarb er. Von seinem Werk ist nur wenig erhalten. Von diesem Buch sind es nur eine leicht zählbare Anzahl Exemplare, die kaum noch einzusehen sind. Und so dauerte es tatsächlich fast neunzig Jahre bis „Bilderbuch einer Nacht“ endlich auf Deutsch erscheinen kann. Immer noch lesbar, erlebbar, nachvollziehbar und beeindruckend wie am ersten Tag.

In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied

Zürich – Tel Aviv und zurück: und schon ist das Leben von Gadi nicht mehr dasselbe. Drei Jahrzehnte haben sich Vater und Sohn nicht mehr gesehen, jetzt liegt Gadis Vater im Sterben. Tamar, sein Schwester hat ihn eindringlich darum gebeten doch zu kommen. Es ist wichtig, für Vater. Auch wenn es für eine persönliche Aussöhnung zu spät ist.

Das Testament des Vaters ist für ihn, Gadi, den Sohn eines irakischen Judens, der seine Heimat verlassen musste, eine Erbe, das er anfangs nicht annehmen möchte. Denn Zakai Mieche möchte, dass sein Asche teils in Jerusalem, teils am Tigris vergraben bzw. am Tigris verstreut werden soll. Schwester Tamar kann nicht in den Irak fliegen. Nicht mit dem Pass, nicht als Frau. Unfassbar möchte man schreien – wir sind nicht im finstersten Mittelalter, sondern in der Gegenwart.

Auf dem Heimflug blättert Gadi im Tagebuch seines Vaters. Alsbald ist er in eine Welt hineingezogen, die er nicht zu kennen glaubte. Eine Welt, die nicht die seine sei. Eine Welt, die zu seiner Welt wird. Er liest über den Aufstieg des Vaters als Textilunternehmer, von seiner Hoffnung in einem freien Irak unter der Herrschaft von Faisal I., der jede Ausübung jeglicher Religion als Schatz und nicht als Bedrohung sieht. Bis der braune Terror aus sein Vaterland in den Würgegriff nimmt. Arabische Übersetzungen von Hitlers Machwerk „Mein Kampf“ übersäen das Land. Der Hass auf Juden dringt schrittweise in den Alltag ein. Demagogen übernehmen die ideele Führung, sofort nach Faisals Tod. Die Spekulationen darüber sind bis heute nicht verklungen.

Palästina, Israel war nun die neue Heimat von Zakai Mieche. Hier zog er seien Kinder groß, hier zerstritt er sich mit seinem Sohn. Für Gadi beginnt die größte Umwälzung in seinem Leben…

Usama al-Shahmani lädt ein zum Konzert der großen Gefühle. Ein leises Lied, zarte Melodien, rasante Rhythmenwechsel – jedes Kapitel ein Paukenschlag. Identitätsfindung oder –bestätigung oder –ausbildung sind mit Emotionen verbunden. Mal sind sie unendlich wertvoll und erzeugen ein Gefühlsrauschen – im Falle von Gadi wird ein Großteil seines Lebens ordentlich auf den Kopf gestellt. Die Frage, ob er in den Aufzeichnungen (weiter-) lesen soll, stellt sich ihm nur kurz – ein Freund, ebenfalls mit irakischen Wurzeln, macht ihm unmissverständlich klar, dass es keinen Grund gibt es nicht zu tun. Und Gadis wilde Fahrt kommt nu erst richtig in Schwung…