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Berlin Deutschland Hauptstadt

Patience geht vorüber

So alt wie das Jahrhundert – Patience fiert mit Grete ihr bestandenes Abitur. Draußen tobt noch der Krieg. Die Monarchie zerbricht. Aufbruchstimmung will aber auch nicht recht aufkommen. Aber mit dem Namen – muss man da zwangsläufig Karriere machen?! Nicht in ihrem Fall. Dass die Mutter Engländerin ist, deswegen der wenig deutsch klingende Name Patience, lässt sie schwer Freunde finden und die Anerkennung der Obrigkeit verwehrt bleiben.

Dass Patience so viele Parallelen mit der Autorin Margaret Goldsmith hat, ist kein Zufall. Auch ihre Wurzeln lagen jenseits des Atlantiks. Ihre Leben in Berlin – so wunderbar unter anderem in „Good-Bye für heute“ beschrieben – war kein Zuckerschlecken. Als Frau im Besonderen.

Patience hat Träume – sie will schreiben, Margaret Goldsmith. Sie studiert. Will als Ärztin promovieren. Und schreiben. Und das in einem Land, das nach dem Krieg Diktaten unterliegt (zurecht), einer galoppierenden Inflation zum Opfer fällt und schließlich rauschende Monate erlebt. Und das alles dort, wo es am heftigsten passiert: Berlin.

„Patience geht vorüber“ ist ein Titel, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Weil er so viele Interpretationsmöglichkeiten bietet. Geht an einem vorbei? Vorübergehen im Sinne von „das kommt schon in Ordnung, das regelt sich von allein“? Und so sollte man diesen 1931 erschienen Roman, alsbald verboten und verschollen wie so vieles dieser außergewöhnlichen Frau, auch lesen. Hier wird nicht wie wild auf das eine, große Ziel hingearbeitet. Hat man es erreicht ist alles vorbei und die letzte Zeile ist gelesen.

Margaret Goldsmith entwickelt in diesem Roman eine Frau, die nicht unter der Last eine Frau zu sein zusammenbricht oder gar ins Jammertal abgleitet. Sie nimmt jede Situation an. Mal stöhnt, freut sich aber im Gegenzug mindestens genauso wenn das Ziel erreicht wurde. Berlin den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts – das waren nicht nur Champganer-Duschen und ausgelassene Nächte. Das war auch das normale Leben mit all den normalen Problemen wie zu jeder Zeit. Und in dieser Zeit lebt Patience.

Es gibt beeindruckende Bildbände zu den Zwanzigern mit ikonischen Bildern. Aber die echten 20er, ob sie nun „golden“ oder „roaring“ waren, werden hier so anschaulich dargestellt, dass man baff erstaunt ist, wie lebensnah die Zeilen heute noch wirken.

Good-bye für heute

Berlin 1926: Die Goldenen Zwanziger überrollen die Stadt mit Champagnerpyramiden, zu kurzen Kleidern und ausgelassener Musik. Berlin 1926, Lützowplatz: Gutbürgerliche Gegend. Hier wohnen Künstler, Aristokraten, Geldadel. Berlin 1926, Lützowplatz 4: Jean Tarnowitz – Amerikanerin mit deutschen Wurzeln – feiert gerade ihren vierzigsten Geburtstag. Zusammen mit ihren Kindern, den Zwillingen Karin und Erhard. Die geräumige Wohnung wurde vom Wohnungsamt geteilt, d.h. Wände wurden eingezogen und Untermieter zugeteilt. Die Kerzen auf der Torte brennen bereits.

Jean arbeitet und spart sich so manches vom Munde ab, um Tochter Karin das Medizinstudium an der Charité ermöglichen zu können. Erhard, ihr Sohn, hängt immer noch dem einstigen Ruhm der Familie nach. Nach dem Krieg wurde ihr Vermögen, ihre Ländereien Polen zugesprochen und nun haust man hier. Im lauten dreckigen Berlin, umgeben von Fremden, der Einfluss des Tarnowitz’ ist nicht mehr existent. Doch es regt sich Widerstand. Widerstand, dem sich Erhard nur allzu gern anschließt, um irgendwann einmal „die alte Ordnung“ wiederherzustellen. Ehre und Umsturz, Antisemitismus und Fortschrittsverweigerung sind seine Welt.

Seine Zwillingsschwester Karin hingegen sorgt sich um ihre eigene Welt. Warum sie allein ist und keinen Mann attraktiv genug findet, um sich mit ihm zu verbinden – das sind die Dinge, die sie beschäftigen.

Mutter Jean spricht ihrer erwachsenen Tochter Mut zu. Mehr kann sie nicht tun. Mehr will sie nicht tun. Mehr wird sie tun müssen…

Margaret Goldsmith zeigt in ihrem Erstlingsroman „Good-Bye für heute“ ihr außergewöhnliches Talent Alltagssituationen mit gesellschaftlicher Veränderung zu verknüpfen. Ihr Leben spielte sich genau hier ab wo ihr Roman spielt. Alle Anspielungen – Boston, Bloomsbury Farm sowie London Mecklenburg Square – sind real, wenn auch heute nicht mehr so erkennbar. Ihr Einfluss ist nachvollziehbar. So ergibt sich aus diesem Roman ein exaktes Abbild der Zeit und der Umgebung, in der sich die Autorin im echten Leben und die Heldin im Roman bewegen. Selten zuvor wurden die Zwanziger in Berlin so echt dargestellt.

Für mich soll’s rote Rosen regnen

Wenn man sich durch die TV-Landschaft zappt und den Promis beim gezwungenen Zum-Deppen-Machen zuschaut, beschleicht einem ein beklommenes Gefühl, wenn später von Stars die Rede ist. Das sind keine Stars!, die sich da gegenseitig ihre nicht vorhandenen Deutschkenntnisse und Umgangsformen an den Kopf knallen. Würde Hildegard Knef sich heute in einem geriatrischen Promi-Format so zur Schau stellen?! Nein, sie hätte es auch als Spiegel-Covergirl niemals getan. Auch nicht nachdem ihr im Life-Magazin vier Seiten gewidmet wurden. Und als ihr Nippelgate Deutschlands Moralhüter erzürnte schon gleich gar nicht. Sie wusste, was sie kann. Sie brauchte keine gekünstelte Publicity.

Kurz nach Weihnachten dieses Jahres (2025) würde sie ihren Hundertsten feiern können. Sie – der erste große Star des daniederliegenden Deutschlands, das so viel Schuld auf sich geladen hatte. „Die Mörder sind unter uns“ war nicht einfach nur ein Kassenschlager – es war eine Abrechnung. Auch von Regisseur Wolfgang Staudte, der schon in braunen Zeiten sich ausmalte wie es denn sein wird, wenn er nach der Dunkelheit den Widersachern noch einmal begegnen wird. Und mittendrin die Knef. Damals noch ohne Artikel. Aber schon mit der Absicht Karriere zu machen. Durchbeißen konnte sie sich. Musste sie auch. Als die Mutter wieder zurück in Hildegards Geburtstadt Ulm ging und Hildegard nicht mit wollte. Berlin – das war ihr Ziel … vorerst. Doch schon im Januar 1948, bei der Premiere von „Film ohne Titel“, den die Knef so sehr liebte, war damit Schluss. Sie fehlte bei der Premiere – entschuldigt. Der Flieger nach Amerika hob nicht ohne sie ab.

Broadway und die große Leinwand waren alsbald ihre Bretter, die die Welt bedeuten. Der Weg nach Oben schien endlos. Vergessen die Kinderkrankheiten, die ihr Leben bis dato erschwerten. Und singen konnte sie auch noch. Was will man mehr?! Gesundheit, würde sie wohl heute sagen. Das Leben der Knef war ein dauerndes Auf und Ab. Ging es bergab, dann bis zum Tiefpunkt. Ging es bergauf, dann bis auf die höchsten Spitzen.

Und heute? Es gibt eine ganze Generation, die noch nie von Hildegard Knef gehört hat. Eine Generation, die gänzlich ohne echte Stars aufwachsen muss. Nur Pseudo-In-Die-Kamera-Rülpser, deren Worte niemals aufgeschrieben werden sollten. Ach wat wär det schön, wenn die Knef ihren Senf dazu abgeben könnte! Alle spitzzüngigen Giftspritzen würden eingeschüchtert in ihr Nest zurückkehren und ihre Berufswahl noch einmal überdenken. Für die, die mit der Schmach der Unkenntnis über die Knef nicht leben können, ist Christian Schröders Buch ein Erweckungserlebnis. Und führt wohl auch dazu das eigene Anspruchsdenken, was einen Star ausmacht, zu überdenken. Kunst ohne die Knef ist in Deutschland undenkbar. Man muss es suchen, doch man wird fündig. In Theatern, auf großen und kleinen Bühnen, in Nischen, auf der Straße, in Dokus, in Mediatheken. Man muss sich nur trauen. Hildegard Knef wird niemals so ganz gehen – gut so!

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

Stürzende Feuer

Es gibt durchaus schönere Anlässe in die Heimat zurückzukehren als der Tod eines Verwandten. Martin-Heinz Douglas Baron von Bora ist es einerlei, warum er nach Berlin „darf“. Ja, darf! Es herrscht Krieg, Juli 1944, er ist in Italien stationiert – nicht ganz freiwillig – und sein Onkel Prof. Dr. Alfred Johann Reinhardt-Thoma wird zu Grabe getragen. Zugegen ist eine ziemlich große Ansammlung von Würdenträgern des Regimes. Der Professor war geachtet, selbst der Führer kondoliert. Martin Bora sind  allerdings die Umstände des Todes seines Onkels noch immer nicht ganz klar.

Er hat jedoch keine Zeit sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nicht einmal genug Zeit, um seine Mutter zu treffen oder gar mit ihr zu reden. Im Sanatorium in Beelitz bekommt er von einem ehemaligen Mitstreiter an der Ostfront eine Warnung mit auf den Weg. Martin steht mächtig unter Stress!

Alle in Berlin scheinen etwas zu verheimlichen. Oder spielen ein doppeltes, ein komisches Spiel. Alles ist so angespannt. Als der Chef der Reichskriminalpolizei ihm den Auftrag erteilt einen Mordfall zu untersuchen, steht Oberstleutnant Martin Bora vor einer Aufgabe, die Fingerspitzengefühl braucht, die ihn extrem fordern wird und die ihm mehr kosten kann als er sich anfangs noch vorstellen kann.

Bora soll den Mord an Walter Niemeyer aufklären, ebenso an dem Magier Magnus Magnusson. Genauso wie den an Sami Mandelbaum. Und jetzt kommt’s: Alle sind ein und dieselbe Person. Niemeyer steht in der Geburtsturkunde, die anderen Namen sind Künstlernamen. Sami Mandelbaum – der Name legt es nahe – dafür kommen allerhand Leute in Frage. Ein Opfer mit jüdischem Namen – da einen Verdächtigen dingfest zu machen, war ein Leichtes. Doch so einfach ist die Sache dann eben doch nicht.

Boras Ermittlungen führen ihn in Kreise, in denen er sich allein durch seinen Namen leichter Zugang verschaffen kann als so mancher Großstadt-Colombo. Umso schwieriger sind dann aber die Ermittlungen. Selbst vor dem Stabschef des Befehlshabers des Ersatzheeres muss Bora eine gute Figur machen. Und dieser Stabschef hat ein großes Geheimnis. Das kann man getrost an dieser Stelle verraten, denn dieser Herr ist Claus Schenk Graf von Stauffenberg…

Ben Pastor reitet mit „Stürzende Feuer“ auf der literarischen Rasierklinge. Immer nah am Abgrund des Bedeutungskitsches, immer nah an der blendenden Gefahr ins Reich der Phantasie abzugleiten. Mit immenser Recherchearbeit setzt sie reale und fiktive Figuren an den Tisch ihrer Geschichte und lässt ihrem Spieltrieb freien Lauf.

Spatriati

Zieht man eine Übersetzungs-App zu Rate, was Spatriati bedeutet, kommt man dem Kern nur sehr zögerlich nahe. Auswanderer, im Ausland lebende. In Apulien, wo Claudia und Francesco leben, nennt man so diejenigen, die nicht so recht ins Bild passen. Und Claudia und Francesco sind die idealen Aushängeschilder für diesen Begriff. Ist es bei Claudia vordergründig ihre äußere Erscheinung – allein ihr Teint und ihre Haarfarbe passen so gar nicht ins vorgefertigte Bild vom Süden – so ist es bei Francesco seine – ebenso wenig mit Süditalien in Verbindung gebrachte – Verschlossenheit.

Er ist verliebt in Claudia. Es ihr zu sagen, käme ihm aber nicht in den Sinn. Das ausgeflippte Mädchen mit den roten Haaren und der Mozzarella-Haut (farblich) sieht in ihm eigentlich nur einen Leidensgenossen. Zum ersten Mal kommen die beiden n Kontakt als Claudia Francesco eröffnet, dass seine Muter ihren Vater liebt. Und sie zusammenwohnen. Francesco hat das nicht mitbekommen. Aber so richtig wundern kann er sich nicht darüber. Er war und ist ein Einzelgänger mit eigenen Gedanken. Aber so kommt er wenigstens mit Claudia in Kontakt…

Doch die Freude währt nur kurz. Claudia hat ihren eigenen Kopf. Und ihre eigenen Ideen. Und Wünsche und Pläne. Da passt niemand mehr dazu. Schon gar nicht Francesco! Sie will raus! Raus aus Apulien, der sie erstickenden Enge. Weg, weit weg. London, vermutet Francesco. Doch bis zum Abschied dauert es noch. Claudia nimmt jede Gelegenheit zur Flucht wahr. Flucht in Gedanken. Jeden (An-)reiz zum Fliehen präsentiert sie sich selbst auf dem Silbertablett. Und Francesco zerreißt es jedes Mal das Herz, wenn Claudia sich in neue Abenteuer stürzt. Doch Treue ist ihm wichtiger als eigenes Glück.

Doch der Tag der wahren Flucht wird kommen. Und er kommt. Mit einem Mal. Statt London wird es Berlin. Claudia ist nun ca. zweieinhalb Flugstunden entfernt. Die Provinzenge ergreift auch von Francesco mit einem Mal Besitz. Die vertraute Beschränktheit der apulischen Provinz erdrückt auch ihn. Oder ist es die Sehnsucht nach Claudia? Beides. Und Berlino soll ihn nun befreien. Er folgt ihr in die gigantische Weltstadt und erfährt, was es heißt Freiheit selbst erhalten und gestalten zu müssen. Claudia ist ihm da keine große Hilfe. Aus den Aussetzigen sind Auswanderer geworden. Spatriati bleiben sie.

Auswandern als geographische Veränderung ist das Eine. Im Kopf diese Veränderung als Zugewinn zu betrachten etwas Anderes. Erwartungshaltung und Realität klaffen oft weiter auseinander als man es sich vorstellen kann – so manche Auswanderer-Soap beweist das seit Jahren. Mario Desiati blickt tief in die Seele derer, die von Träumen überfordert das Glück vor der Haustür nicht erkennen können.

Morgens um Sechs bei Haubentaucher und Co.

Das Wasser ist blau. Bei Christoph Stölzl ist es bleigrau. Wenn der Nebel sich am Morgen lichtet, ist es ein weißer Ball, der über die Baumkronen steigt. Und der Autobahnlärm ist eine Technik-Brandung. So mancher Flaneur möchte die ihn umgebende Stimmung gern so poetisch in Worte fassen können. Christoph Stölzl tut es einfach.

Er studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie, war Museumsdirektor und schließlich in Berlin Kultur- und Wissenschaftssenator, anschließend Vizepräsident des Abgeordnetenhauses. Und Kolumnist bei der Berliner Morgenpost. Für die schrieb er diese Texte, die in diesem Best Of die geballte Ladung Berlin-Zu-Fuß beinhalten. Klingt ziemlich statisch. Ist es aber überhaupt nicht. Denn Flanieren will gelernt sein. Flanieren heißt heute auch gern mal entschleunigen – ein fürchterliches Wort, nimmt man Victor Klemperers LTI als Maßstab für Wortschöpfungen zur Hand. Nein, Flanieren heißt innehalten ohne still zu stehen. Flanieren heißt auch genau beobachten. Und den Dingen eine Stimme zu geben.

Berlin bietet sich zum Flanieren geradezu an. An jeder Ecke – und hat man gerade mal keine Ecke zur Hand, dann eben alle Nase lang – jibt et wat zu staunen.

Das kann der Flohmarkt in Neukölln sein, wo die Errungenschaften aller Dachböden der Stadt auf dem Trottoir ausgebreitet werden, wo klingende Münze und babylonisches Sprachgewirr eine Sinfonie ergeben. Oder aber auch der Spaziergang durch die edle Fasanenstraße – blendet man die fest verankerten Baugerüste mal aus, könnte man sich fast wie in Paris fühlen. Und man plumpst in eben diese Pariser Welt. Zwei Damen erscheinen plötzlich in dieser Szene. Zweifelsfrei noch vor Corona. Denn sie halten keinen Abstand, weder zwischen sich noch zum Betrachter. Ja, Betrachter. Denn die beiden Damen sind doch recht zweidimensional – ok, sie sind auf einem Bild des Expressionisten Georg Tappert verewigt. Ganz ungeniert darf man sich ihnen nähern, sie ausgiebig betrachten. Aber! Nicht anfassen!

Zweitausendfünfhundert Zeichen ist die Maßgabe gewesen für diese Flanierstücke aus der kenntnisreichen Feder Christoph Stölzls. Das liest sich wie ein Metropolenrausch, dessen Kopfschmerz der lieblichste Schmerz der Großstadt ist. Kein Schädelbrummen am nächsten Morgen, vielmehr ein Dröhnen, das nach mehr verlangt. Mehr Flanieren, mehr Citylight, mehr Tiefe in einer Stadt, die ihre Oberfläche selbst verkommen lässt und das auch noch schick findet.

Ein Haus, ein Stuhl, ein Auto

Erst der Bauch, dann die Moral. So hat es Brecht formuliert. Ihm selbst waren ein behagliches Dach überm Kopf, ein bequemer Stuhl und ein rasanter fahrbarer Untersatz nicht unwichtig. Er wusste sein Geld gut anzulegen, in Immobilien. Da kam wohl der Schwabe in ihm durch…

Ursula Muscheler geht seinem Drang nach Gemütlichkeit, Behaglichkeit und Bequemlichkeit (im physischen Sinne) auf den Grund. Schon in Kindertagen konnte er sich in der elterlichen Wohnung austoben. Die Wohnung war groß genug. Als erfolgreicher Autor im Berlin der 20er Jahre schuf Helene Weigel in der Babelsberger Straße ein Heim zum Wohlfühlen, sein Atelier in der Spichernstraße war ein gemütlicher Ort der Kreativität.

„Ein Haus, ein Stuhl, ein Auto“ lässt Stationen Brechts noch einmal aufblitzen, dieses Mal aber mit dem Sucher der Architektur. Bertolt Brecht ließ sich gern von Designern beraten und sie ihm seine Behausung einrichten. Mogens Voltelen, dänischer Designer, schuf den einen Typ Stuhl, der Brecht lange Zeit begleitete. Heute ist er in der Berliner Chausseestraße 125, dem Brecht-Haus zu bestaunen.

Stil hatte er, der große Dichter, der dem Arbeiter ein Theater gab, und deren Nähe er nun wirklich nicht gerade suchte. Er war Künstler und als solcher wollte er auch alle Annehmlichkeiten genießen. Im Buch reist man mit Brecht noch einmal um die Welt. Während Brecht reisen bzw. fliehen musste, hat der Leser die Chance ganz freiwillig um den Erdball zu kreisen.

Es ist erstaunlich wie oft schon über den Einrichtungsstil Brechts berichtet wurde. Und warum so wenig bisher darüber geschrieben wurde.

Ursula Muscheler macht einen Rundgang durch die Wohnungen, Ateliers und Häuser Bertolt Brechts. Von Augsburg über Berlin, von Südfrankreich ins sonnige Kalifornien und wieder zurück nach Berlin und Skandinavien. Fast so rasant wie der Dichter selbst.

Ein Autonarr war er nicht. Aber wenn er Auto fuhr, dann sportlich. Manchmal übers Ziel hinausschießend. Und er wusste wie er sich ein Auto verdiente. Nur ein paar Zeilen, den Auto-Song, blanke Werbung und schon stand ein Steyr-Cabriolet XII, sein Traumwagen vor der Tür. Nichts Übertriebenes, aber ausreichend, um damit einen Unfall zu bauen, die Knautschzone ein weiteres mal herauszuheben und im Gegenzug ein XX-Modell zu bekommen. Der machte schon mehr her.

Es geht in diesem Buch nun aber nicht darum wie Bertolt Brecht sich seinen Lebensstil ergatterte. Man erhält einen derart umfassenden Einblick in die Lebenswelt eines der erfolgreichsten deutschen Dichter überhaupt. Und mal ehrlich: Der Blick durchs Schlüsselloch ist immer noch der Beste.

66-Seen-Wanderung

Sechsundsechzig Seen, rund um Berlin, vierhundertfünfundzwanzig Kilometer – klar, dass man da ein wenig Hilfe braucht, um nicht das Eine oder Andere zu verpassen. Manfred Reschke und Andreas Sternfeldt kennen jede seit 2003 erfasste und ausgeschilderte Route aus dem FF. Was an sich schon mehr als genug ist. Doch in ihrem Reiseband machen sie so manchen Abstecher nach Links und Rechts – erlaubterweise, denn Teile der Route sind Naturschutzgebiet, wo Abstecher nicht so gern gesehen, oft sogar verboten sind. Zu Fuß, auf dem Rad, allein oder in Familie – diese Routen überfordern keinen Wandersmann und keine Wandersfrau übermaßen. Berge sind hier Hügel, und Aussichten stoßen erst am weit entfernten Horizont an ihre Grenzen.

Die für dieses Buch erstellten Wanderkarten sind exakt und ohne Einschränkungen zu benutzen. Und jede Strecke wird vollumfänglich beschrieben, so dass es beim allabendlichen Rückblick keine Wissenslücken gibt. Eine der berühmtesten – und sicher auch eine der am meisten begangenen Routen ist die auf den Spuren von Theodor Fontane. Pflichtlektüre im Handgepäck, dieses Reiseband immer in Griffweite und schon wird der sandige Boden Brandenburgs zur trittfesten Unterlage für jeden, der in Spuckweite der Weltstadt Berlin Grün, Ruhe und Erholung, gepaart mit Forscherdrang und Abenteuerlust sucht.

Jede einzelne Wanderung – siebzehn Etappen – beginnt mit einem kurzen Überblick, was den Forschungsreisenden erwartet. Die Beschaffenheit des Weges ist mindestens genauso wichtig die die zurückzulegende Strecke. Ebenso Tipps wo man mal schnell ins kühle Nasse springen kann. Schließlich ist man ja auf der Pirsche zwischen Seen und Flüssen. Und wenn man sich vor lauter Glücksgefühl mal die Zeit vergessen hat, und man ganz schnell die Orientierung wieder finden muss, ist jede Etappe mit GPS-Daten zum Runterladen versehen. Es kann also nichts passieren. Außer eine einzigartige Erholung auf einzigartigen Wegen, vorbei an einzigartiger Natur.

Die einzige Schwierigkeit besteht darin, die 240 Seiten ohne freudiges Füßetrappeln zu überstehen. Denn schon mit den ersten Kapiteln steigt die Ungeduld endlich mal wandern zu gehen (besonders ausgeprägt bei noch nicht bekehrten Wandermuffeln).

Im Reigen der Wanderführer – auch über Brandenburg – nimmt dieser Reiseband eine besondere Stellung ein. Noch nie wurde in eine Region so anschaulich eingeladen. Und zwar komplett frei von der Angst etwas Einzigartiges durch massenhaften Besuch zu zerstören. Wer im Berliner Umland von See zu See wandern möchte, kommt um dieses Buch nicht herum. Von Stausberg bis Potsdam, von Leuenberg bis Leibsch, von Bad Saarow bis Seddin findet man das, was Erholung ausmacht, nur in diesem Buch.

Aktion Phoenix

Die erste Augusthälfte des Jahres 1936 gehörte den Olympioniken, die sich in Berlin in sportlichen Wettkämpfen miteinander messen wollten. So das hehre Ziel, so die homogene Sprache der Athleten und Funktionäre. Und jeder wusste, dass in diesem Deutschland die Fairness der Athleten im Austragungsland keinen Pfifferling wert ist. Umso größer das Erstaunen, dass hier tatsächlich eine fast schon wohlige Atmosphäre herrschte – im Vergleich zu der Zeit davor, und gar kein Vergleich zu den folgenden Jahren.

Leni Riefenstahl setzte mit ihrem gigantischen Filmteam Maßstäbe für Dokumentationen, aber auch für Propaganda. Auf dem Feld der Träume purzelten die Rekorde. Ohne die Perfidität des Ausrichterstaates wären es Spiele gewesen, von denen man bis heute schwärmen dürfte. Doch es kam anders. Das ist wohl bekannt.

Christian Herzog setzt diesen Olympischen Spielen mit seinem historischen Roman „Aktion Phoenix“ ein fiktives Denkmal an die Seite, das in vielerlei Hinsicht an Denkwürdigkeit dem großen Ereignis Olympia in Nichts nachsteht. Ein Zeppelin, ein Anruf vom Führer, der Traum vom Job an Bord des Zeppelins, Widerstandskämpfer, die einen phantastischen Plan haben, eine heiße Nacht mit unerwarteter Wendung – aber auch die Gegenseite weiß genau wie sie die auf sich gerichteten Augen der Weltöffentlichkeit trüben will … und kann.

Jedes Kapitel holt den Leser erst einmal aus dem Staunerlebnis des vorangegangenen Kapitels wieder runter. Auf leisen Pfoten jedoch bereite der Autor schon den nächsten Knall vor. Immer wieder verfällt man der trügerischen Ruhe, um dann ein ums andere mal wieder in den Thrill der Geschichte gezogen zu werden. Ein großes, ein dickes Buch zu einem großen Thema. Und so aktuell. Denn jedes Großereignis – und es sollen ja immer mehr werden – sind immer ein profundes Mittel Werbung zu betreiben. Während Jesse Owens und das argentinische Poloteam oder Robert Charpentier ihren Kontrahenten teilweise deklassierten, versucht eine Gruppe Widerständler wahrhaft Großes zu vollbringen. Seilschaften, die so geheim sein müssen, dass schon ein „Psst“ zum Verrat reichen könnte, sind der rote Faden, der sich durch das Buch zieht. Was hat der Zeppelin mit der geplanten Aktion zu tun? Wem darf man noch trauen? Und was ist, wenn die Liebe plötzlich dazwischenfunkt?

Mit enormer Detailversessenheit und unnachgiebiger Zuneigung zu seinen Figuren schafft es Christian Herzog, brutale Realität und spannende Fiktion zu einer Geschichte verschmelzen zu lassen, die den Leser in den Lesesessel presst und ihn erst nach dem letzten Zuklappen wieder loslässt. Doch die Geschichte wirkt nach. Immer wieder fragt man sich, was wäre gewesen, wenn das tatsächlich alles so stattgefunden hätte? Die Olympische Idee im Gleichklang mit Welt verändernden Idealen ist kein leichtes Unterfangen. Der schmale Grat zwischen Kitsch und Ernsthaftigkeit ist gespickt mit scharfen Kanten und großen Fallhöhen. „Aktion Phoenix“ schafft es fast spielerisch allen Unwägbarkeiten aus dem Weg zu gehen.