Archiv der Kategorie: Liderbücher

Gute-Nacht-Geschichten

Geneviève – Ein französischer Sommer

Für den jungen Gérard ist dieser Sommer ein Sommer voller Erinnerungen. Auch wenn seitdem mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, sind die Ereignisse von damals immer noch präsent. Als junger aufstrebender Banker an der Pariser Börse – kurz nach dem Krieg, als boche, nicht selbstverständlich – darf er den Sommer auf der kleinen Privatinsel seines Chefs verbringen. Die Bretagne weit am Horizont, verbringt er hier den Sommer zusammen mit Madame, der Hausherrin, den Bediensteten Pierre und Phiphine sowie der Tochter des Hauses Geneviève und ihren Freundinnen Minouche und Garance.

Geneviève wird bald heiraten. Ihre Freundinnen und sie stecken ständig die Köpfe zusammen, sehnen den großen Tag herbei. Gérard fühlt sich wie das fünfte Rad am Wagen. Einzig Minouche zeigt zurückhaltendes Interesse an dem großgewachsenen Besucher auf dem idyllischen Eiland. Eine zarte Liaison entspinnt sich zwischen der kecken Minouche und dem vorsichtigen Gèrard. Er will die Gastfreundschaft seines Chefs nicht schamlos ausnutzen und sein berufliches Vorankommen gefährden. Minouche und er kommen sich näher. Sie fordert aber von ihm – bald schon nennen es die Vier Minouches Vertrag – den letzten Schritt nicht einzufordern oder gar zu wagen.

Als Minouche die Ferienidylle für ein paar Tage verlässt, um auf dem Festland Freunde zu besuchen, ändert sich die Stimmung vor Ort. Geneviève zeigt immer mehr und offener Interesse an Gérard. Immer mit der gebotenen Vorsicht treffen sich die beiden, verbringen Stunden am Strand und teilen sich das Nachtlager. Minouches Vertrag stets im Hinterkopf. Gegen Ende der Ferien macht Geneviève ihm ein Angebot…

Gérard ist mittlerweile ein alter Mann. In einem Brief von einer ihm unbekannten jungen Frau tauchen in den Erinnerungen die Tage und Wochen von damals wieder auf. Die junge Dame hat niemals abgeschickte Briefe ihrer grande-mère gefunden. Voller Liebe und Zuneigung berichtet die inzwischen Verstorbene von einem letzten Sommer voller Glück. Es sind die Briefe von Geneviève. Und die Autorin des Briefes trägt denselben Namen, es ist ihre Enkelin.

Immer wieder werden die Erinnerungen durch Textpassagen des Briefes der Enkelin an Gérard durchbrochen. Sie sind kleine Messerstiche im romantischen Verweilen. Unsicher, ob sie ihn überhaupt anschreiben solle, rückt sie spät mit ihrer wahren Absicht heraus…

Gerd Pfeifer beschreibt einen wahren Sommer der Liebe. Die Insel vor der Küste der Bretagne vor Jahre zuvor noch hart umkämpft. Jetzt erobert sich eine Jugend die Zeit und die Insel zurück, um sich auszuloten wie weit Freiheit gehen kann. Unter dem Deckmantel der Konventionen kein leichtes Unterfangen.

Die Nächte der Gräfin de Polignac / Aline, Königin von Golkonda

Zwei Geschichten, ein Buch, unzählige Bettgeschichten. Und Band 21 der Schlaflosreihe lässt sich nicht lang bitten und startet mit einer saftigen Überraschung. Der anonyme Autor lässt kein Detail seiner Affären aus. Keines! In den Monaten vor der französischen Revolution – er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem, was später einmal in die Weltgeschichte eingehen wird – verschlägt es den finanziell angeschlagenen Ich-Erzähler an den Hof von Versailles. Hier tummelten sich zu der Zeit allerlei Adelige, um sich im Glanze des Hofes das Adeligsein versüßen zu können.

Ein Prinz erbarmt sich seiner und nimmt ihn unter seine Fittiche. Er wird ihm beibringen sich standesgemäß zu verhalten und sich zu vernetzen. So würde man es heutzutage wohl nennen. Doch der smarte Jüngling wird umgehend an seine jugendliche Triebhaftigkeit erinnert als der die Gattin des Prinzen entdeckt. Auch sie hat ein Auge auf den Neuankömmling geworfen. Es kommt wie es kommen muss – die beiden werden zwar kein Paar für die Ewigkeit, dennoch ein Paar für ein paar Nächte. Bis der Prinz die Sache spitz bekommt.

Der Rausschmiss vom Hof ist aber nichts mehr als der Beginn eines weiteren Abenteuers. Gleich zwei Damen buhlen um ihn. Die Ruhigere von beiden macht indes das Rennen. Immer wieder. Und lässt sich den Spaß sogar etwas kosten. Er solle mit dem Geld und den Preziosen ein Liebesnest erwerben, so dass ihr Gatte nichts von ihren Amouren erfährt. Dann taucht die andere der beiden aus ihrer Deckung hervor. Nicht minder willig, nicht minder fordernd. Es scheint das Paradies zu sein. Aber ach, der Pöbel fordert Gerechtigkeit. Der Adel muss fliehen, bluten und um die heile Haut fürchten.

Geschichte Nummer Zwei ist weniger deftig, aber in keiner Weise weniger amourös. Wie die zwei Königskinder, die nicht zueinander finden können, wird ein Paar auf die härteste Probe gestellt, die ein Paar haben kann. Sie werden getrennt. Während er dem Alltag nachgeht, wird sie unter der Fuchtel der Stiefmutter zu einer erfahrenen Kurtisane herangezogen. Später, auf Reisen, entdeckt er sie wieder. Sie ist im Stand aufgestiegen. Regiert ein ganzes Königreich an der Seite ihres Gatten. Doch die Lust in ihr konnte niemals gestillt werden. Hier ist der Autor bekannt, Stanislas-Jean de Boufflers, ein Freund Voltaires.

Beide Geschichten entstanden in einer Zeit des Umbruchs. Auch in der Literatur wurden neue Töne angeschlagen. Mal andeutend, mal direkt, ohne Scheu anzuecken. Ob nun pornographisch oder anregend andeutend, beide Male wird die Schlaflosreihe für schlaflose Nächte sorgen. Und das ist in diesem Fall erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht…

Die Opiumpfeife

Ein Winterabend im Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die feuchte Kälte schmiegt sich unaufhörlich zwischen die Fasern eines jeden Mantels. Der dichte Nebel, das kaum noch Sichtbare – wie soll man da die Adresse finde, die einem endlich offeriert wurde?! Der Erzähler ist seit Kurzem Mitglied in einem äußerst exklusiven Club. Man trifft sich im Geheimen. Der Kutscher hat Augen wie ein Adler und findet die gewünschte Adresse. Zugewachsene Fassade, ein kaum sichtbares Namensschild, eine schwerfällige Klingel. Und so dauert es bis dem Neuen Einlass gewährt wird.

Man ist schon gut unterwegs, würde man heute süffisant und ein wenig plauderhaft die Szenerie beschreiben. Nicht Wollust und Völlerei geben den Ton an, sondern vielmehr ein Rausch der besonderen Art. Der Erzähler darf sich fortan – wie auch immer er in diesen Club aufgenommen wurde – zusammen mit den anderen Mitgliedern des Haschisch-Clubs – jetzt ist es raus, hier betäubt man sich, und zwar so, dass es keiner „da draußen“ mitbekommt – im Rausch seiner Kunst hingeben. Und er beobachtet. Einer galoppiert auf einem Clown durch den Raum, eine anderer bläst Tabak in die Augen seines Gegenübers, zwei weitere duellieren sich mit Stöcken. Hier ist ja richtig was los! Doch auch die schönste Nacht hat einmal ein Ende. Das muss jeder einsehen und zieht, mit der Lethargie im Arm von dannen. Das ist nur eine Geschichte des zwanzigsten Bandes aus der Schlaflosreihe. Zweifellos die berühmteste, der „Haschischclub“. Die namensgebende „Opiumpfeife“ ist bei Weitem düsterer, einige Jahre zuvor geschrieben, und nimmt den Leser mit in eine Welt, die heute viel verschrobener – vielleicht sogar verklärter – wirkt als sie bei Erscheinen für einen Skandal sorgte.

Théophile Gautier fungiert hier nicht als phantasiebegabtes Geschöpf, der sich und den Leser dank seiner Gedanken in eine fremde Welt katapultiert. Er ist Beobachter, und er schreibt, was er selbst erlebt hat. Den Club gab es tatsächlich. Baudelaire ging im Hôtel de Lauzun ebenso ein und aus. Das heißt, diese Bettlektüre wurde im schlimmsten Fall ein wenig ausgeschmückt. Ansonsten ist alles wahr!

Die dritte Geschichte „Eine Nacht der Kleopatra“ entstand zwischen den beiden Geschichten rund um das berauschende Zeug. Auch hier spielt eine „nicht im Handel erhältliche Substanz“ eine gewisse Rolle, die Hauptrolle. Was sich allerdings erst später herausstellt und mit der der ersten beiden Geschichten nicht allzu viel zu tun hat.

Dreimal Gautier, dreimal höchster literarischer Genuss, dreimal Eintauchen in Welten, die man so selten bis gar nicht erlebt. Sie dienen vielleicht nicht die Augen im Nu zu schließen, doch die Träume, die darauf folgen, werden andere sein als wenn man diese Geschichten nicht gelesen hätte.

Das Erwachen

Was wären wir ohne Träume? Was wäre die Kunst ohne Träume? Kein „Inception“, keine „Traumnovelle“, kein „All I have to do is dream“. Und immer dann, wenn der Mensch nicht gern alleine ist, kommt das zum Vorschein, was der Tag nicht zu verarbeiten vermochte. So sehen es die Wissenschaftler, denen die Psychoanalyse Ansporn und Fluch zugleich ist.

Diego Castro geht es nicht anders. Die Corona-Zeit war und ist für ihn wie für viele andere auch eine aufregende Zeit. Aufregend nicht im Sinne von „Welches Abenteuer darf ich morgen bestehen?“, vielmehr ein „Oh je, morgen wird es auch nicht besser!“. Im Gegensatz zu den meisten, die am frühen Morgen mit verklebten Augen kaum die Badezimmertür erkennen und den heißen Kaffee eher über dem Tisch vergießen, statt ihn in der dafür vorgesehen Tasse zu platzieren, kann er sich an seine Träume erinnern. Und voilà, hier sind sie!

Zur Einstimmung auf die folgenden Geschichten – kurze fast schon fragmentartige Gedankenblitze, die jeweils kunstvoll zu einer Gute-Nacht-Geschichte verwoben werden – reißt es den Autor aus dem Schlaf, und er ist beseelt vom Gedanken jetzt, nun, kurz nach dem Aufstehen, gleich nach dem Morgenkaffee Kafka treffen zu müssen. Der wohnt ja gleich um die Ecke. Doch das Hausmädchen meint, er sei schon vor einiger Zeit weggezogen. In der Kneipe gegenüber wird er schon vom Wirt erwartet. Und … alles endet wie es … nein, ganz bestimmt nicht wie es enden muss.

Immer wieder führt Diego Castro den Leser in die Irre. Es sind Träume, von denn hier die Rede ist. Die sind nicht immer wie das reale Leben. Sie sind die entspannte Gegenbewegung zum Alltag. Im gleißenden Licht des Tages wird die Saat für die Nacht gesät. Nur wer fleißig war, kann im Mondschein die Ernte einfahren. Ob das Ergebnis nun immer dem entspricht, was man sich erhofft – kann man Träume eigentlich steuern? – steht auf einem anderen Blatt. Im Falle von Diego Castros „Erwachen“ steht das Ergebnis oft schon auf der nächsten Seite.

Die Schlaflosreihe bekommt Zuwachs. Aber dieses Mal kein Text aus den feuchten Kellern der Erinnerung, die zu Unrecht ein nicht beachtenswertes Dasein fristen müssen, sondern von gerade eben. Die Tinte ist noch feucht. Während andere Autoren sich abmühen, um der Corona-Zeit Dramatik zu verleihen (man weiß ja nie, wann alles vorbei ist und dann, ja dann sind diese Zeilen sicherlich viel wert, man wird zitiert etc.), liest man vor dem Zu-Bett-Gehen eine oder mehrere Miniaturen aus diesem Buch und fragt sich, ob man wohl genau so etwas träumen wird wie der Autor es schon getan hat. Und vor allem: Ob man sich erinnern kann…?!

Tagebuch eines Überflüssigen

Wenn Tschulkatorin nur wüsste, welch Schnippchen er dem Schicksal noch schlagen wird. Irgendwas um die Dreißig hat ihm der Arzt salbungsvoll gerade mitgeteilt, dass es mit ihm bald zu Ende gehen wird. Der Landbesitzer, den keiner wirklich braucht. Der sein Auskommen hat. Alles vorbei, bevor das Leben richtig begonnen hat. Es ist Ende März im Jahr achtzehnhundertirgendwas. Tschulkatorin, der Mann ohne Vornamen, ohne Zweitnamen, in Russland immer der Name des Vaters mit einem –witsch hintendran, hat nicht mehr viel zu erwarten. Auch niemandem, dem er gegenüber Rechenschaft ablegen muss. Im engeren Sinne ein freier Mensch. Doch er ist nicht glücklich. In der Blüte des Lebens einsehen zu müssen, dass man bald verblüht, dass die Blüte nicht einmal richtig stattgefunden hat, ist hart.

Nun sitzt er da. Aber er lässt den Kopf nicht hängen. Er beginnt Tagebuch zu schreiben. Ob es eine dicke Lebensbeichte wird oder nur ein fast leeres Blatt Papier, kann er nicht wissen. Trotzdem schreibt er. Nur für sich. Wie er meint. Doch an so mancher Stelle, tritt Zorn zu Tage. Spricht er Menschen an. Sie werden ihn nicht erhören.

Tschulkatorin erinnert sich an die gefühlskalte Mutter. Und an den Tag, an dem der geliebte Vater röchelnd verstarb. Und an Lisa! Ja, sie war es. Die große Liebe seines Lebens. Unbeachtet ließ sie ihn sie im Arm halten, entschied sich für einen Anderen. Beim Tanz ließ sie ihn abweisen, entschied sich für einen Anderen. Und Tschulkatorin? Er konnte Lisa nicht vergessen. Kein noch so harter Schlag konnte ihn jemals verletzen. Er war sowieso ein Überflüssiger – in der russischen Literatur ein gern gewählter Charakter.

Schon bald entfaltet sich der Frühling in seiner ganzen Pracht. Die Vögel werden singen, die Knospen sprießen, das Leben wird zurückkehren. Nicht für Tschulkatorin. Der erste April (vielleicht wird es auch der zweite sein, doch der erste klingt für ihn natürlich viel besser) wird der Tag sein, an dem sein Schicksal besiegelt sein wird. Er wird abtreten. Wird es jemand merken? Sei’s drum. Er wird gehen, das weiß er. Draußen scheint die Sonne grell und bricht das Grau des Winters entzwei. Tschulkatorin wird aufbrechen in eine neue Zeit…

Iwan Turgenjew lässt einmal mehr einen Helden scheitern, ihn aber nicht zerbrechen. Tschulkatorin weiß, dass er gehen muss. Es ist weder Erlösung noch Angst, die ihn umtreibt. Er schreibt, um sich sein eigenes Leben vor Augen zu führen. Ob es jemals von jemand anderem gelesen wird, ist ihm gleich. Er wertet nicht, warum auch? Er war und ist ein Mensch, den es gab und gibt. Nicht mehr, nicht weniger. Dieses Tagebuch hingegen ist ein kurzweiliges Erinnerungsstück an einen Menschen, den man schnell vergisst. Aber von einem Autor, der nicht in Vergessenheit geraten darf!

Christabel

Es ist schon seltsam, vielleicht sogar ein bisschen schaurig. Christabel, die schöne Tochter vom Schloss so weit weg von der väterlichen Heimat. Mitten im Wald. Es ist dunkel. Und wir alle wissen aus Märchen, dass das nicht gut ist. So ein zartes Geschöpf, im tiefschwarzen Wald, mutterseelenallein. Denn im Wald, da sind die Räuber! Genug der Klischees.

Samuel Taylor Coleridge gilt zusammen mit William Wordsworth (da war der Name mehr als Programm) als Begründer der englischen Romantik. Und schon sind wir wieder bei einem gerüttelt Maß an Schaurigkeit, Mystik, Geheimnissen. Denn die schöne Christabel trifft die erschöpfte, aber nicht minder Fremde Geraldine. Mit schwachen Lauten berichtet sie von einer Entführung. Da haben wir’s: Im Wald, da sind die Räuber! Es ist kalt und die beiden Grazien nicht wettergerecht gekleidet. Christabel beschließt die verkühlte Geraldine mit zu sich aufs Schloss zu nehmen. Der Schlossherr, Sir Leoline, wird schon nichts dagegen haben.

Unterwegs allerdings mahnen schon die Schatten der Vergangenheit vor einer unheilvollen Zukunft. Doch in so einer Situation ist Christabel dem gegenüber zwar aufgeschlossen, erkennt jedoch nicht die Gefahr. Vor dem Zubettgehen jedoch wird auch der geschmeidigen Christabel etwas anders. Da, an Geraldines Körper, was ist das? Christabel schauert vor der Nacht, die die beiden gemeinsam in ihrem Bett verbringen werden. Wenn es doch nur die Nacht wäre, die die großen Veränderungen in sich trägt.

Dieses Gedicht ist ein Gedicht! Die ungewohnte Art der Präsentation – zusätzlich auch noch im englischen Original – versetzt den Leser prompt in die richtige Stimmung. Die Geschichte, wurde in zwei Etappen geschrieben. Der erste Teil wurde 1797 beendet. Nach einem Aufenthalt in Weimar, schloss Coleridge sein Gedicht der schönen Christabel 1800 ab.

Ein für die meisten vergessener Text, der nachfolgende Schriftsteller (-generationen) stark beeinflusst hat. „Christabel“ umweht auf jeder Zeile ein geheimnisvoller Schleier, den der Leser lüften darf. Doch die Braut dahinter hat ein schweres Schicksal zu ertragen. Kein vor Glückstränen erhelltes Gesicht, vielmehr Gram und Angst, vielleicht sogar ein bisschen Scham verbirgt dieser Schleier. Samuel Taylor Coleridge schleift so lange an seinen Worten bis kein Zweifel mehr besteht, dass jeder Buchstabe am richtigen Ort sitzt.

Nachtstücke

Vielleicht hat der Eine oder Andere schon mal das beklemmende Gefühl gehabt in einem Raum eingesperrt gewesen zu sein. Nicht wirklich, nur das Gefühl! Es ist so seltsam einsam. Aber in einer noch seltsameren Art und Weise auch irgendwie bekannt. Für viele fühlt es sich an wie in einem Film. Für wenige ist es eine Erinnerung, die im Bücherschrank steht. Edgar Allan Poe heißt der Ausgangspunkt für diese Angst. Er beeinflusste mit seiner – zur damaligen Zeit – neuen Art Suspense, das gewisse Knistern in den Synapsen herzustellen, darzustellen Generationen von Künstlern. Von Charles Baudelaire über Alfred Hitchcock bis hin zu Roman Polanski und seinen nachfolgenden Kollegen ist Edgar Allan Poes Werk die Grundlage ihres Genres.

Auch das Rätsel des locked room, also eines Raumes, aus dem niemand herauskommt bzw. herauskam, kann als Poe’sche Erfindung angesehen werden. Ein Mord in einem Raum, der absolut leer ist – außer dem Opfer, das darin liegt. Der Täter kam anscheinend nicht von außen herein. Und schon gar nicht wieder heraus. Wie also um alles in der Welt, wurde die Tat verübt?

Es sind diese Art Rätsel, die den Leser fesseln und in eine Stimmung versetzen, für die der Schlaf die ersehnte Lösung ist. Ob nun ein gefiederter Geselle, der wortreich beschrieben wird wie in „Der Rabe“. Dieses Gedicht bildet in jeder Geschichtensammlung von Poe den Auftakt. Oder der Klassiker, der jeden Kriminalkommissar als Pflichtlektüre noch vor der ersten Unterrichtsstunde neben das Bett gelegt werden sollte, „Doppelmord in der Rue Morgue“. Oder das dunkle Familiengeheimnis wie das der Ushers in deren seltsamen Haus. Oder das Unglück einer Schiffbesatzung im gefährlichen Maelström. Oder „Das verräterische Herz“, dessen Geschichte sogar bei den Simpsons Einzug gehalten hat. Jeder kennt Edgar Allen Poe. Noch immer, obwohl er vor über hundertfünfzig Jahren gestorben ist.

Sein Leben war kein Zuckerschlecken. Früh die Mutter verloren, kam er mit dem Vater nie so recht klar, überwarf sich mit ihm als junger Mann. Die einzige Konstante in seinem Leben war wohl der Alkohol. Der ihm letztlich sicher auch das Leben kostete.

Die Kraft, die seinem Werk innewohnt, ist ungebrochen. Sie bricht sich nicht in Wellenbewegungen immer mal wieder frei, sie ist gleichbleibend vorhanden. Diese Nachtstücke sind die Betthupferl, die es braucht, um des Nachts in süße Träume zu versinken. Die Wortgewalt, der intellektuelle Anspruch und die dadurch verursachte Gänsehaut sind die Zutaten, dies man braucht, um in Morpheus Armen selig dem Alltag zu entschlummern.

Die fliegenden Menschen

Peter Wilkins und das Glück gingen sein ganzes Leben lang getrennte Wege. Bis er Patty kennenlernte. Doch auch dieses Glück stand unter keinem guten Stern. Ihre Schwangerschaft musste er geheim halten. Als seine Mutter stirbt er vollends am Boden zerstört. Denn sein Stiefvater hat sich den gesamten Besitz der Mutter bereits unter den Nagel gerissen. Peter Wilkins beschließt die Welt zu bereisen. Ohne Patty, ohne die Tochter. Das ist unmöglich. Als Schreiber an Bord, verbringt er die ersten Wochen in seiner Kajüte – die Seekrankheit macht ihm zu schaffen. Doch das ist bei Weitem noch die das Übelste, das ihm passieren wird.

Das Schiff wird gekapert. Die Crew wird verschleppt. Irgendwo in Südwest-Afrika hält ihn nur noch die Hoffnung aufrecht. Sie wird ihn nicht enttäuschen. Ihm gelingt mit anderen die Flucht. Eine Flucht in eine ungewisse Zukunft. Wohin es ihn verschlagen wird? Das kann ihm keiner sagen. Und wieder schlägt das Schicksal unbarmherzig zu. Auf Wache mit einem Matrosen reißt sich im Sturm das Schiff los als der Rest der Besatzung Wasser fasst. Orientierungslos irren die beiden auf dem Meer herum. Und sie treiben auf eine Insel zu. Genauer gesagt, auf die Felsen einer scheinbar einsamen Insel. Das Schiff zerschellt an den Klippen. Peter ist mit einem Mal auf sich allein gestellt.

Wie Robinson Crusoe nimmt er die Insel in Besitz. Bis ihm eines Tages eine Frau, ein Wesen erscheint. Mit Youwarky stellt sie sich im vor. Ein bisschen seltsam ist diese Frau schon. Sehr liebenswert, wie Peter schnell feststellt. Auch sie ist Peter nicht abgeneigt. Doch das ist etwas an Youwarky, das ihn neugierig macht. Es ist ihr Gewand. Dass sie schon seit ihrer Geburt trägt, wie sie ihm versichert. Es sind Flügel. Ja, diese Frau kann fliegen!

Youwarky und Peter finden das Glück, das sie selbst nie zu suchen wagten. Er lehrt ihr seine Sprache, sie unterrichtet ihn in ihrer Kultur. Sie bekommen Kinder. Im Märchen würde man nun vom „… und wenn sie nicht gestorben sind“ sprechen. Doch Autor Robert Paltock hat anderes mit ihnen vor…

Eine phantastische Geschichte, die die Schlaflosreihe des Verlages Ripperger & Kremers mehr als nur um ein paar bedruckte Seiten verstärkt. Fliegende Menschen in einem Buch, das ganz ohne technische Phantastereien auskommt. Keine Beschreibung von hydraulischen Vorrichtungen, wie man sie bei Jules Verne verortet. Dessen „Zwei Jahre Ferien“ kommen jedem Leser sofort in den Sinn. Ebenso wie Daniel Defoes Robinson Crusoe oder Jonathan Swifts Gulliver. Das Leben auf dem heimischen Eiland wird bald beendet, als Youwarky den Wunsch äußert ihren Vater zu besuchen. Sie fliegt zusammen mit zwei ihrer Kinder. Drei Tage wird die Reise dauern. Und Peter? Er sehnt sich nach Youwarky. Wird bald schon von ihren Verwandten besucht und eingeladen die Familie kennenzulernen. Die Abwechslung wandelt sich vom freudigen Ereignis zu einer Art déjà vu…

Der Altar der Toten

Es gibt viele Möglichkeiten den Partner fürs Leben zu finden. Bei der Arbeit, in Bars und Clubs, ja sogar im Netz ist es gar nicht mehr so unmöglich das passende Gegenstück in sein Leben zu ziehen. Doch das, was Henry James beschreibt, ist selbst heute noch etwas Außergewöhnliches.

George Stransom kann man getrost als treue Seele bezeichnen. Noch immer huldigt er seiner großen Liebe Mary Antrim. Sie wurde ihm entrissen, bevor er sie festhalten konnte. Er hängt ihr nicht nach. Doch die Zuneigung ist im Laufe der (vielen, vielen) Jahre nicht geringer geworden. Sie war – wenn man es einmal nüchtern betrachten will – der Startschuss für eine als ungewöhnlich zu bezeichnende Leidenschaft. Er zählt die Toten seines Lebens. Nicht falsch verstehen: George Stransom ist kein Mörder! Nur hat sich im Laufe der Zeit eine beträchtliche Zahl von Dahingeschiedenen in seinem Herzen breitgemacht. Er verehrt sie alle. Keiner wird bevorzugt, keiner benachteiligt. Als er aus der Zeitung vom Tod seines langjährigen Freundes Acton Hague erfährt, gerät seine Welt wieder ins Wanken. Doch dieses Mal ist er nicht allein.

Denn auch eine Unbekannte scheint den Erinnerungen an Acton Hague nachzuhängen. Wer sie ist? Diese Frage drängt sich dem Trauernden Stransom gar nicht auf. Er ist fasziniert einen Seelenverwandten zu treffen. Jemanden, der sich genauso tief in Freundschaften versteifen kann wie er. Unversehens haben sich da zwei getroffen, die man auf den ersten Blick in ihrer Trauer lieber allein lassen möchte. Fast schon einem Kult gleich werden ihre Treffen zu einem Leichenschmaus, der nicht den Magen füllt, vielmehr ein delikates Mahl für die Sinne ist.

Das Festhalten an Altem, ohne der Zukunft im Weg zu stehen, verwebt Henry James zu einem zarten Vorhang aus durchlässiger Seide. Durchlässig für wahre Gefühle, schützend vor Wunden. Hier klagen zwei Menschen sich gegenseitig ihr Leid ohne dabei sich selbst aufzugeben. Vielmehr ist ihr Totenkult, den sie hegen und pflegen die Kraftquelle die sie weiterleben lässt. Todessehnsucht verspüren sie nicht. Schon gar nicht nachdem sie sich getroffen haben. Ihr Zusammensein bestärkt sie in dem, was sie tun, was sie ausmacht.

Mit umwerfender Empathie steigert sich Henry James in seine Charaktere hinein. Stransom und die Unbekannte kommen zusammen ohne sich wirklich näher zu kommen. Die Distanziertheit ist ihr Kitt, der sie zusammenhält.

Die Kunst den Mund zu halten

Unterteilt man die Menschen in die, die reden – ob nun aus Wissen oder Geschwätzigkeit heraus – und die, die schweigen – ob nun aus Unwissenheit oder Vorsicht – so hat es Joseph A. Dinouart geschafft, ein Buch für die gesamte Menschheit zu schreiben. Schweigen ist Gold, sagt der Volksmund. Und Reden ist Silber. Beides Edelmetalle, beide sind wertvoll. Wie so oft im Leben, ist die Mischung von entscheidender Bedeutung.

„Die Kunst den Mund zu halten“ stammt aus der Zeit als die Aufklärung für sich in Anspruch nahm, die Welt erklären zu können und sie verändern zu können. Ein Alleinvertretungsanspruch sozusagen. Ein Kampf der Eloquenz gegen das Bauchgefühl. Mehr als zweihundert Jahre sind seit der Erstveröffentlichung nun vergangen und noch immer kann man sich den einen oder anderen Ratschlag zu Herzen nehmen. Doch Vorsicht: Nur, weil man den Mund hält, heißt das noch lange nicht, dass man auf die Siegerstraße eingebogen ist, an deren Ende der Lorbeerkranz wartet.

Man stelle sich vor Einstein hätte geschwiegen. Oder Aristoteles. Dann hätte auch Dinouart schweigen müssen. Es ist eine verzwickte Situation. Schweigen, um dem Anderen die Argumente zu nehmen. Und Reden, um den Schweigenden selbiges anzutun. Was war zuerst da? Das Wort oder das Schweigen?

Wer nun denkt die Schrift Dinouarts mit einem Handstreich ad absurdum führen zu können, irrt. Auch Dinouart weiß, dass Schweigen nicht das Allheilmittel gegen Ignoranz und für Frieden und Wohlbefinden ist. Es ist die Mischung – wie so oft im Leben – die eine Theorie handhabbar macht. Zum Einen muss man wissen, ob der Gegenüber auf gleichen Niveau agiert wie man selbst. Dann erübrigen sich überflüssige Worte von ganz allein. Hat man das Gefühl seinen Ausführungen ein größeres Maß an Erläuterungen beizumischen, ist das nicht nur legitim, sondern essentiell wichtig.

Band Vierzehn der Schlaflosreihe ist sicher keine reine Bettlektüre, die einem einen ruhigen Schlaf beschert. Je nach Ausgangslage kann man darüber amüsieren oder bis ins Mark darüber ärgern. Was man nicht machen sollte, ist Buch und Autor komplett zu verteufeln. Oder gar zu behaupten, dass zweihundertfünfzig Jahre ausreichend seien, um solch eine Schrift heutzutage nur noch als nostalgisches Geschreibe zu bezeichnen. So sorgfältig wie man seine Worte wählen sollte, so sorgfältig sollte man auch denjenigen aussuchen, den man dieses Buch zum Geschenk macht. Denn der Titel allein könnte – nein er wird! – für Verwirrung sorgen.