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Piemont mit Ausflügen ins Aosta-Tal

Wer ins Piemont reist, will sich berauschen. Die Fast-Millionenstadt Turin mit ihrer Mischung aus Industriemetropole und weitläufigen Plätzen, Boulevards und einem Füllhorn an Palästen und Stadtvillen auf der einen Seite. Andererseits aber auch wieder kleine idyllische Dörfer, die an Hängen, auf Spitzen und in Tälern dem Auge Wohlgefallen versprechen.

Kulinarisch befindet man sich hier in besten Händen. Kirschen und Nüsse kennt jedes Kind aus dem Süßwarenregal. Schlotziges Rissotto – auch das kommt von hier. Man muss nur ein wenig außerhalb der Städte sich in die Ruhe der Kleinstädte wagen und erlebt Italien, Piemont, von einer ganz besondern Seite. Manchmal ist der lack ein wenig abgeblättert. So wie in Vercelli. Noch immer sehenswert, nicht nur eine Durchgangsstation. Die große Zeit ist vorbei. Doch die Erinnerungen an vermeintlich „bessere Zeiten“ sind das Pfund, mit man hier wuchert. Wer hier studiert, tut das in altehrwürdigen Gebäuden. Wer lustwandelt, der tut das zwischen Mauern, die mehr mittlerweile mehr erzählen können als sie verbergen. Wer hier sich zu Tisch begibt, der bekommt die volle Wucht des Landes serviert.

Wem selbst das noch zu hektisch ist, der muss sich ins Valle Maira begeben. Hier bekommt der ausgelutschte Begriff von Ruhe und Erholung in seiner reinsten Form neue Nahrung. Hier ist es wild, ursprünglich. Was für Wanderfreunde und solche, die es werden wollen. Elva ist der wohlklingende Name des größten Ortes. Hier holt man sich den Schlüssel für die Kirche noch im der Locanda gegenüber ab.

Das angrenzende Aosta-Tal verlangt da schon ein bisschen mehr körperlichen Einsatz. Auf und Ab bedeutet hier wirklich Auf und Ab. Und das in Dimensionen, die den Gedanken an Fahrstühle zur Sehnsucht reifen lassen. Doch dann verpasst man einzigartige Aussichten – wo und welche, das steht alles in diesem Reisebuch.

Egal, ob aus ausgiebiger Shoppingtour durch Turin oder luxusbefreiter Wanderung mit stundenlanger Einsamkeit ohne dabei einer Menschenseele zu begegnen – das Piemont ist auf einer Skala von 1 bis 10 die definitive Zehn, will man das Komplettpaket der Erholung erfahren. Baden ist zwar nur in Seen möglich, da es keine piemontesische Küste gibt. Aber bei der Auswahl an Erkundungstouren ist das vernachlässigbar.

Sabine Becht und Sven Talaron merkt man die Reiselust und die Erkundungssucht mit jedem Abschnitt des Buches an. Umso erstaunlicher ist es, dass sie es schaffen alles (!) auf reichlich vierhundert Seiten unterbringen zu können.

Umbrien

Toscana, Abruzzen, Latium, Marken – und mittendrin Umbrien. Das Herz für jeden, der Italien nicht einzig allein als eine riesige Ansammlung an Badeorten versteht. Kein Meer, dafür berge und eine überbordende Anzahl an geschichtsträchtigen Orten. Assisi, die Stadt, die mit einem Namen – Franziskus – verbunden ist wie keine andere Stadt. Hier bebt auch öfter mal die Erde. Gubbio, die Stadt, die ihre Traditionen pflegt wie man es selten auf der Welt sieht. Und dann noch Perugia, die Hauptstadt Umbriens, die ihr historisches Stadtbild erhalten hat, so dass man sich Jahrhunderte zurückgesetzt fühlt, ohne dabei die Annehmlichkeiten des Fortschritts zu vermissen. Das ist Umbrien.

Marcus X. Schmid und Petra Regensburger kann, ja muss man vertrauen, wenn es sich um Reisebücher über Italien handelt. Gefühlt kennen die beiden hier jeden Grashalm, wissen wann und von wem er gesät wurde. Jeder angelegte Weg wird erst freigegeben, wenn die beiden vor Ort sind. So scheint es. Und wenn man sich bei der Planung der nächsten Reise intensiv mit dem Reiseband auseinandersetzt, wird schnell klar, dass das die Reise des Lebens wird. So umfangreich, so detailliert, so präzise beschriebene Routen findet man nirgends – außer eben hier.

Die Cascata delle Marmore ist der Beweis, dass künstliche Naturwunder schon immer in der Natur des Menschen lagen. Ja, hier kann es an manchen Tagen auch mal etwas voller werden, wenn man sich in der aufspitzenden Gischt des Wasserfalles bei Terni im Süden Umbriens etwas Abkühlung gönnt. Doch die meisten werden über ein „Oh“ nicht hinauskommen. In einem gelb unterlegten Kasten, die Infokästen mit Aha-Effekt-Garantie, haben die beiden Autoren den ultimativen Reisetipp um das dreistufige Naturwunder aus Menschenhand dargelegt. Links, rechts, bis zu einer Schranke – hier wird wirklich jeder Meter Fußweg erläutert, so dass Navigation mit Hilfsmittelchen unnötig wird. Auch als Reiseband in digitaler Form, was wie immer bei den Reisebüchern aus dem Michael-Müller-Verlag, eine Option ist.

Das Zusammenspiel von beeindruckenden Fotos und exzellent recherchierten Texten von Wanderungen, Rundgängen und Ausflügen halten das Blut des Touristen in Wallung. Abgelegene Orte bekommen den gleichen Platz wie die offensichtlichen Highlights, die je nach Jahreszeit einem niemals allein gehören. Es ist die Mischung aus Trubel und Einsamkeit, die Umbrien so einzigartig macht. Lustwandeln mit gleich zwei Autoren, die wissen, wo man hinschauen und wo man sich sehen lassen muss.

Der falsche Vermeer

Es sind nur ein paar Puzzleteile. Also eine ganz leicht zu lösende Aufgabe. Doch erst, wenn das letzte Teilchen sich ins Bild fügt, wird das Gesamtbild sichtbar.

Der krieg ist vorbei. Die Niederlande sind befreit. Van Aelst sitzt im Gefängnis – Kollaboration mit dem Feind. In Frankreich wurde Frauen der Kopf geschoren, so dass jeder die sichtbare Schande sehen konnte. Schließlich war nach de Gaulles Aussage jeder Franzose im Widerstand. In den Niederlanden ist man nicht ganz so expressiv. Trotzdem muss man sich verantworten, hat man mit den braunen Horden gemeinsame Sache gemacht und daraus einen eigenen Vorteil gezogen. Und somit auch zum Unwohl der niederländischen Gemeinschaft. Das ist Puzzleteil Eins.

Ja, der niederländische Untergrund war aktiv, erfolgreich, bekam nur weniger Aufmerksamkeit nach dem Krieg. Auch Mag van Hettema kämpfte auf ihre Art gegen die Besatzer und ihre Willkür. Nun sind die Fronten geklärt, die Aggressoren verjagt. Nun beginnt die Zeit der Aufarbeitung. Als Journalistin ist sie endlich wieder frei in ihrer Arbeit. Doch die kleinen Alltagsgeschichten füllen sie nicht aus.

Da erfährt sie vom Schicksal van Aelsts. Der Fall scheint sonnenklar. Er hat – mit enormem Gewinn – dem Generalfeldmarschall Hermann Göring, der Dicke, der Kunstsammler, der Uniformkönig (dem Anschein nach Phantasieuniformen) von Großdeutschland Kunst verkauft. Auch einen wundervollen, prächtigen Vermeer. Niederländisches Kulturgut. An einen Deutschen. Und dann ausgerechnet dem?! Klar, dass van Aelst dafür büßen muss. Doch Meg kommt da ein Verdacht. Puzzleteil Zwei.

Van Aelst sieht das natürlich anders. Würde jeder behaupten, dessen Haupt auf dem Spiel steht. Ist nur menschlich. Doch van Aelst hat gute Argumente. Leider kann er sie nicht alle komplett und schon gar nicht sofort ins Gefecht führen. Denn dann würde er sein Geschäftsgeheimnis verraten. Und sich somit seiner Lebensgrundlage berauben. Puzzleteil Drei.

Patrick van Odijk mischt auf seiner Wortpalette unverrückbare historische Fakten, mengt eine gehörige Portion Phantasie bei, akzentuiert mit ein wenig krimineller Energie und malt mit Eleganz einen Kunstkrimi, der an Chuzpe – ha, den Nazis mit Chuzpe eine Schnippchen schlagen: Doppelter Schlag ins feige Gesicht! – kaum zu überbieten ist.

Sich diebisch freuend kann man es kaum aushalten endlich weiterzublättern. Wie ein ungeduldiges Kind rutscht man auf dem Hosenboden umher, um zu erfahren, ob die Gewieftheit wirklich echt ist oder ob hier jemand ein doppeltes Spielchen treibt, um die eigene Haut zu retten. Und vor allem will man wissen, ob der erhöhte Einsatz von Meg auch wirklich zielführend ist. Großartig und vielschichtig! Eine seltene Kombination.

Qimmik

Mit dem Wort Genozid sollte man sehr bedächtig umgehen. Die Vorstellung darüber reicht weit über den brachialen Schuss hinaus. Einen Menschen zu brechen, ist ein Einfaches im Vergleich zu dem, was man einem Volk, einer Volksgruppe antun kann, um sie ihrer Identität zu berauben. Davon berichtet Michel Jean in „Qimmik“.

Kanada in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Also vor gerade mal einem reichlichen halben Jahrhundert. Der Weltkrieg ist lange vorbei. Die Welt taumelt immer noch. Ulaajuk ist Jäger und versucht nun seine Felle zu verkaufen. Kuujjuaraapik, wo Tundra und Taiga sanft ineinander übergehen, scheint für in der ideale Ort zu sein. Saullu, wie Ulaajuk Inuk (bei uns besser bekannt als Inuit, Einwohner der arktischen, subarktischen Gebiete auch in Kanada), verliebt sich in den geschickten Jäger. Er und Sie – das ideale Paar. Schnell ist beschlossen gemeinsam die Jagdgebiete nach Karibu, Robben und Beluga zu durchforsten. Ihre Zeit ist von Entbehrungen geprägt, es ist aber auch die Zeit der Liebe. Leider verliert Saullu ihr Kind. Nach Jahren kehren sie zurück an den Ort, der der Grundstein ihrer Liebe ist: Kuujjuaraapik.

Der Ort hat sich verändert. Straßen und Häuser sind hinzugekommen. Der beschauliche Ort hat sich in einen geschäftigen Platz verwandelt. Ulaajuk fällt sofort auf, dass hier eine trübsinnige Stimmung herrscht. Es fehlt das Gebell der Hunde. Auf ihrer Jagd hatten er und Saullu zwei Gespanne mit je zehn Hunden immer bei sich. Tag und Nacht waren die treuen Gefährten um sie herum. Sie brachten sie von Ort zu Ort, waren unerlässliche Helfer. So wie schon ihre Väter, ihre Großväter und Urahnen gehörten Mensch und Tier zusammen, wie die Nacht, die auf den Tag folgt.

Hoffnung bietet den beiden die Tatsache, dass Saullu erneut schwanger ist. Das Schicksal meint es dieses Mal gut mit ihnen. Saullu und Ulaajuk sind nun Eltern. Einen Tag später stirbt Saullus Vater. Ein Schicksalstag. Der noch nicht zu Ende ist. Denn genau in dem Moment, in dem ihr Vater zu Grabe getragen wird, erscheint einmal mehr die Sécurité du Québec. Sie waren schon einmal hier, als Saullu und Ulaajuk auf der Jagd waren. Damals erschossen die Beamten alle Hunde der Inuk. Das allein ist schon verächtlich genug. Aber einem Volk einen Grundbestandteil seiner Kultur derart brutal und unnachgiebig zu entreißen, ist zumindest moralisch verwerflich, bislang noch nicht justiziabel und deswegen ein Akt der Unmenschlichkeit. Ganz zu schweigen vom Leid der Tiere. Dieses Mal haben die Beamten die Hunde von Ulaajuk im Visier…

Es ist erstaunlich wie viel Geschichte, wie viele Geschichten Michel Jean auf zweihundert Seiten unterbringen kann. Ein rasanter Horrortrip durch ein historisch verbürgtes Kapitel kanadischer Geschichte, das hierzulande kaum bekannt sein dürfte. Bis jetzt. Michel Jean ist der Geschichtsvermittler Kanadas, leider auch der bitteren Kapitel.

Das Verschwinden des Ettore Majorana

Da ist doch die ganze Stimmung verschwunden, wenn man weiß wie es ausgeht! Könnte man meinen. Denn „Das Verschwinden des Ettore Majorana“ ist historisch verbürgt – ein gutes Ende gab es nicht, gibt es nicht bis heute. Wenn „gutes Ende“ das Wiederfinden des besagten Ettore Majorana bedeutet.

Dieser Ettore Majorana wurde 1906 in Catania in Sizilien geboren. Als Kind wurden seine Fähigkeiten als herausragend der Familie präsentiert. Wo andere Kinder hübsch rausgeputzt ein Liedchen trällern, überraschte er mit mathematischen Höchstleistungen. Als Student arbeitete er mit Enrico Fermi in Rom und Werner Heisenberg in Leipzig zusammen, immerhin Physik-Nobelpreisträger der Jahre 1938 und 1933. In seiner Forschungsgruppe bei Fermi legten alle die Rechenschieber beiseite, wenn Majorana anwesend war. Allein dieses Bild des Einzelgängers macht die Suche nach ihm von vornherein sinnlos. Majorana wird selbst Professor, macht Entdeckungen, die er nicht veröffentlicht, verbietet anderen (auch Fermi!) darüber zu reden. Das kam unter anderem Heisenberg zugute.

Leonardo Sciascia begibt sich – nicht als Erster – auf die Suche nach dem verschwundenen Genie. Er stöbert Briefe auf, durchforstet Archive, interviewt Menschen, mit denen Majorana in Kontakt stand. Das waren nicht viele. Fest steht nur, dass Majorana mit dem Schiff nach Neapel gefahren ist. Dort, wo er als Professor arbeitete. Der Fall ging bis zum Duce. Der machte eine Aktennotiz, dass Majorana unbedingt gefunden werden muss. In einer Zeit, in der Atomforschung so eminent wichtig war, brauchte man jedes Genie. Aber vielleicht wollten die Genies ja gar nicht mit ihrer Forschung berühmt werden. Leó Szilárd kannte nachdem er erfahren hat, was er „anrichtete“ nur noch eines: Die Bombe verteufeln – koste es, was es wolle. Majorana ging den Weg in den Untergrund. Nicht, um zu kämpfen, sondern in Frieden zu leben.

Einmal wurde er in Venezuela gesehen. Doch dank der spärlichen Qualität der Fotografie wird man es wohl nie herausfinden. So beharrlich Majorana wissenschaftlich gearbeitet hat, so unnachgiebig forscht Sciascia nach Spuren über den Verbleib des Physikers. Er wird ihn nicht finden. Aber sein Theorien – Majorana sei im Kloster untergetaucht – führten zu heftigen Auseinandersetzungen. Aber Sciascia wäre nicht Leonardo Sciascia, wüsste er nicht damit umzugehen. So traurig die Tatsache ist, dass auch ein gewiefter (literarischer) Schnüffler wie Leonardo Sciascia den verschwundenen Ettore Majorana nicht aufstöbern kann, so eindrucksvoll ist es seinen Gedankengängen zu folgen. Solange man nicht die letzte Seite, den letzten Absatz, das letzte Wort – ja den letzten Buchstaben in sich aufgesaugt hat, besteht immer noch die Hoffnung, dass Majorana gefunden wird. Das kann nur Literatur!

Ich traf Hitler!

Darf oder soll man über den Titel – bevor man auch nur einen Blick hineingeworfen hat – Witze machen? „GuTen MoRRgen, Frau Journalistin!“, „Guten Morgen, Herr … “. Als Dorothy Thompson Adolf Hitler traf, war der noch nicht Kanzler. Es waren noch vierzehn Monate bis zu seiner schlussendlichen Machtergreifung. Wenige Monate vor seiner „Wahl“ erschien dieses Buch. Ende August 1934 muss Dorothy Thompson Deutschland binnen vierundzwanzig Stunden verlassen, weil sie mit einer Frau zusammenlebt, der Schriftstellerin und Bildhauerin Christa Winsloe. Wie schon Ende der Zwanzigerjahre als sie in Russland die Unterdrückung der Religionsfreiheit und die stete Anwesenheit der Geheimpolizei ans Licht brachte, wurde sie nun zur unermüdlichen Kämpferin gegen Faschismus. Ihre Einschätzung, dass Er niemals Kanzler werden könnte, war ihre größte Niederlage. Wie kam sie zu dieser Fehleinschätzung?

Berlin, Wilhelmplatz 3-5, Hotel Kaiserhof. Heute Mohrenstraße, Höhe Zietenplatz. Ein gut gelaunter … nee, nee, nee so fangen wir erst gar nicht an. So war es auch nicht!

Schon seit dem missglückten Putsch mit Ludendorff versucht Dorothy Thompson ihn zu interviewen. Die Prozentzahlen seiner Partei bei Wahlen stiegen ständig an. Für Thompson bestand vor dem Interview kein Zweifel dem nächsten Reichskanzler gegenüber zu sitzen. Er verspätet sich um eine Stund. Und schon nach weniger als einer Minute mutmaßt (für sich, im Verborgenen) die Journalistin, dass ihr nicht der nächste Kanzler gegenüber sitzt. Rhetorisch sicher und gewiefter Redner, aber Kanzler? Dafür reicht es nicht. Sie wird ihre Meinung nicht ändern im Verlauf des Gesprächs. Wie ein Berserker reitet Er die Propagandawelle. Spricht zu ihr, der einzelnen Frau wie zu einer jubelnden Masse aus tausenden Fanatikern. Innerlich ist sie sehr müde. Äußerlich ist sie wach. Sie lebt in dem Land, das bald schon von diesem Kleinbürger regiert und in den Abgrund gestürzt werden soll.

Nachdem sie Deutschland verlassen musste, half sie emigrierten Künstlern wie Bertolt Brecht und Thomas Mann in den USA Fuß zu fassen. Auch dank ihrer Freundschaft zu Eleanor Roosevelt, der First Lady. Sie war sich bewusst, dass die Feder stets stärker als das Schwert sein muss. Wohingegen ER meinte, dass Bilder mehr vermitteln und bewirken als seitenlange Texte – eben ein Kleinbürger!

Es sind die beim Lesen unentwegt auftauchenden Bilder der Gegenwart, die dieses Buch so besonders machen. Und so aktuell. Jeder kurze Blick in Interviews mit ihm ähnelnden Parteifunktionären zeigt die Unfähigkeit und Perfidität dieser Gestalten. Er hatte es schließlich geschafft. Die ihm Nacheifernden werden seit Erscheinen von „Ich traf Hitler“ immer noch entlarvt. Man muss nur lesen!

Kumari

Als Sehnsuchtsort bietet Nepal vielen Individualisten eine ideale Projektionsfläche. Es ist das einzige Land mit einer nicht viereckigen Flagge, liegt verdammt weit oben … da hören bei den meisten die Vorkenntnisse schon auf. Selbst in den Nachrichten von vor zwanzig Jahren taucht das Land kaum bis gar nicht auf. Da muss man schon ein bisschen weiter zurückschauen. Der Juni 2001 war der Beginn eines enormen Umsturzes. Das Königshaus wurde fast komplett ausgelöscht, was dazuführte, dass sieben Jahre später die Monarchie abgeschafft wurde und die maoistische Regierung das Land regiert. So viel zu den Fakten. Und genau in diesem Juni des Jahres 2001 spielt „Kumari“ von Philip Krömer.
Kumari sind Kindgöttinnen. Im Alter von zwei bis vier Jahren werden sie erwählt. Horoskope werden herangezogen, körperliche Merkmale untersucht. Die Herrschaft der Kumari endet mit Einsetzen der Menstruation.
Das größte religiöse Fest des Landes – Dasain – steht an. Seit Tagen laufen die Vorbereitungen. Amita ist eine der aktuellen Kindgöttinnen, Kumari. Seit Jahren, seit ihrer Geburt, umgibt sie absolute Stille. Reden darf sie nur mit ihrer Familie. Die Bittesteller, um Segen Bittende, küssen bei der Audienz ihre rot bemalten Füße. Die Stille ist spürbar, fast hörbar. Kein Wort, kein Laut ist zu vernehmen. Das Fest wird der Höhepunkt des Jahres sein. Aber es ist auch die Ruhe vor dem Sturm. Denn im Volk rumort es.
Und damit sind wir wieder bei den harten Fakten: Kronprinz Dipendra ist Gast beim königlichen Familienfest. Er verlässt kurz den Raum, als er wiederkommt, trägt er Uniform, zieht eine Waffe und erschießt unter anderem König Birendra sowie Königin Aishwarya. Weitere Angehörige des Königshauses, Verwandte des Attentäters werden schwer verletzt. Zum Schluss will auch er seinem Leben ein Ende setzen. Das misslingt. Er wird sogar zum König ernannt. Für drei Tage. Dann stirbt auch er. Das kann man nachlesen. Die Hintergründe sind unklar. Wahrscheinlich führte die Ablehnung der Heirat mit einem Mitglied einer verfeindeten Familie zu der schrecklichen Tat.
Kumari Amita lernt die Rebellin Rupa Rana kennen – by the way, Raan ist der Name der verfehmten Familie, die sich mit dem aktuellen Königshaus vereinen will. Gleichzeitig bemerkt Amita aber auch Veränderungen, die ihren Status als Kumari … bestärken? … verändern? … auf alle Fälle beeinflussen werden. Poesie trifft Abenteuer, historische Fakten vermischen sich mit progressiven Gedanken, hier wird das Genre historischer Roman (auch wenn die Historie nicht allzu weit zurückliegt) auf eine neue Ebene gehoben.
Wer nun meint sich über die vermeintlich rückständigen Rituale mokieren zu müssen, liegt falsch. Es ist mehr als nur Tradition und religiöser Habitus. Die Kumari sind fester Bestandteil der Kultur, sie bieten Halt und Zuflucht. Und wer sich in Europa die aktuellen Veränderungen anschaut, wird auf eine Vielzahl von reaktionären – rückschrittlichen – Tendenzen stoßen. Philip Krömer bietet einen weitreichenden Blick durchs Schlüsselloch in eine Kultur, die geographisch weit weg liegt von dem, was uns tagtäglich umgibt. Sein Wissen darum und die seltene Gabe mit Worten Gedankenreiche zu schaffen, sind Gold wert. Gefühlvoll, detailliert und nachhallend lockt er den Leser in ein Land, das man in dieser Form nicht kannte. Jetzt kennt man es, nicht vollständig, aber um einiges besser als zuvor.

Die kleine Sache Widerstand

Es ist vor Olympischen Spielen eine Tradition, dass die Olympische Fackel von Griechenland ins Land des Austragungsortes von Menschen getragen wird, die sich verdient gemacht haben. Einige lassen sich das was kosten, andere werden nominiert, weil ihr Leben einzigartig war und ist und man ihnen deswegen diese Ehre antragen möchte. So war es auch in den Wochen vor den Sommerspielen in Paris. In Saint-Etienne wurde diese Ehre (und hier stimmt diese oft zu sehr strapazierte Phrase nun wirklich einmal) Melanie Berger-Volle zuteil. Nicht, weil ihre Enkelin 1996 als Turnerin teilnahm. Auch nicht, weil sie mit einhundertzwei Jahren die älteste Fackelträgerin sein wird. Nein, es ist das eindrucksvolle, lange Zeit von Ängsten belastete Leben, ihr unermüdlicher Kampf gegen Faschismus und ihr niemals ermüdender Kampfgeist (der bis heute in Gesprächen aus all ihren Poren hervortritt).

Melanie Berger musste ihr Österreich fluchartig verlassen, weil sie offen gegen die Einverleibung Österreichs eintrat und vehement gegen das Naziregime propagierte. Über Belgien gelangte sie nach Südfrankreich. Jahre lebte sie im Untergrund. Immer auf der Hut, immer mit der Angst im Nacken entdeckt zu werden. In Montauban, rund 50 Kilometer Luftlinie nördlich von Toulouse kam sie unter. Entdeckt zu werden bedeutete in ihrem Fall automatisch Lager und den sicheren Tod. Sie wurde entdeckt, kurz nach Weihnachten im Jahr 1942. Sie kam ins Lager. Sie entkam ihm aber auch. Abenteuerlich, aber vom Erfolg gekrönt.

Nach dem Krieg ging die Odyssee weiter. Ein richtiges Zuhause, eine echte Heimat musste sie lange suchen und fand sie schließlich wieder in Frankreich. Spiegel-Autor Nils Klawitter wurde auf ihre Geschichte aufmerksam, traf auf eine Frau, deren Energie ihn einfach in den Bann zog. Aus dem Fünf-Seiten-Artikel wurde ein Buch, dieses Buch.

Die unverblümte Wahrheit immer noch so präsent und klar wiedergeben zu können beeindruckte nicht nur den Autor. Über Jahrzehnte hinweg allen Widrigkeiten Widerstand leistend, hat Melanie Berger Fotos aus ihrer frühen Kindheit bewahren können. Bis heute geht sie in Schulen und berichtet, was ihr widerfahren ist. Sie ist eine der letzten Überlebenden des Widerstandes – egal welchen Namen dieser nun trug. Ihr Engagement ist bis zum heutigen Tag ungebrochen. Wer sie trifft, steht einer Frau gegenüber die zeitlos ist. Auch beim Olympischen Fackellauf fiel sie durch ihre positive Ausstrahlung auf. Es waren nur wenige Meter, die sie die Fackel trug, es war nur diese kleine Sache Widerstand – man muss nicht viel Brimborium um sich machen. Taten sprechen lassen – so verändert man die Welt.

Kos

Kos ist eine der zwölf Hauptinseln des Dodekanes vor der türkischen Küste. Es gibt sicherlich viele griechische Inseln, die man zuvor besucht hat, bevor man Kos für sich entdeckt. Aber, wer noch nie auf einer griechischen Insel war, diesen Reiseband in den Händen hält, wird hier auf Anhieb sein nächstes Reiseziel finden. Idyllisch, klein, teils abgeschieden, ruhig und aufregend zugleich. Wer sich die Stadtpläne ansieht, ist erstaunt, dass hier sogar manchmal Platz ist einen Supermarkt einzuzeichnen.

Die Insel ist übersichtlich. Aber nicht weniger Attraktiv für neugierige Touristen, die auf eigene Faust ihrem Eroberungsdrang nachgeben wollen. Zwölf Wanderungen – wie soll es auch anders sein: Wir sind im Dodekanes (Zwölf Inseln) – führen über die Insel, die maximal 50 mal 13 Kilometer misst. 120 Kilometer Küstenlinie deuten schon darauf hin, dass Sonnenanbeter und Badehungrige hier mit einem Dauergrinsen im Gesicht ihre schönste Zeit des Jahres verbringen.

Hauptanlaufpunkt ist die Hauptstadt der Insel, und die heißt auch Kos. Südlich davon das Dikeos-Gebirge, wo man die neuen Wanderschuhe mehr als nur einem ersten Test unterziehen kann. Und man muss hier auch nicht Extrembergsteiger sein, um von ganz Oben nach ganz Unten blicken zu können.

Die klare Gliederung des Buches macht die Planung für den Tag zur Minutensache. Kein ewiges Hin- und Herblättern, wo man abbiegen muss, und wo man es getrost auch lassen kann. Die beiden Autoren Yvonne Greiner und Frank Naundorf kennen die Insel seit Jahren. Sie wissen wovon sie schreiben. Und wenn sie behaupten, dass die Busse dann rollen, wenn sie rollen sollen, dann rollen sie auch.

Wer Kos nun für sich entdecken möchte, ist mit diesem Buch bestens ausgestattet. Zweihundertvierzig Seiten reichen aus, um von Ost nach West, von Nord nach Süd oder umgekehrt oder kreuz und quer die Insel für sich einzunehmen. Wo und wann es sich lohnt etwas zu sich zu nehmen – und vor allem was man sich einverleibt, in jeglicher Hinsicht – entscheidet man selbst. Auf alle Fälle bekommt man im Buch mehr als die notwendigen Informationen, um nicht zu verhungern, keinen Aussichtsplatz zu verpassen, die schönsten Strände empfohlen zu bekommen und und und.

Albanien

Vier Jahre lagen zwischen der ersten und der zweiten Auflage dieses Reisebandes. Da hat sich einiges getan. Nicht nur im Land selbst, sondern und vor allem deswegen im Reiseband. Man stelle sich vor: Man ist mit einer Billig-Airline auf dem Rückflug von Süditalien nach Deutschland. Zwischenstopp in Tirana. Sieben Stunden. Was machen? Es gibt sicher einige, die erst mal im Oberstübchen kramen müssen, wo Tirana liegt (oder noch schlimmer: Was das überhaupt ist!). Tirana ist die Hauptstadt des kleinen Landes auf dem Balkan. Und beim Kramen im Oberstübchen fällt einem nicht viel ein, wie man denn nun die sieben Stunden Aufenthalt in diesem weitgehend unbekannten Land gestalten könnte. Die Seiten 25 bis 48 sind da ein guter Appetitanreger. Schnell stellt man fest, dass es hier vor Abenteuern nur so wimmelt. Da ist zum Ersten sicher die Küche. Nix mit Schnitzel und Kartoffeln. Hier wird’s feurig, würzig, deftig. Zum Angucken gibt’s natürlich auch jede Menge – aber das erliest man sich am besten selbst, ganz nach gusto. Und schon merkt man, dass sieben Stunden Aufenthalt gar nicht so viel sind wie man eigentlich braucht, um allein nur die Hauptstadt zu erkunden. Die Schlussfolge: Der nächste Trip geht – zusammen mit diesem Reiseband – nach Albanien. Inklusive Abstecher nach Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien. Alles in einem Buch, klar gegliedert, übersichtlich und jederzeit sofort abrufbar.

Wie wäre es zum Beispiel mit Berat. Nie gehört? Alles halb so wild, hier wird geholfen. Die Stadt der tausend Fenster. Museumsstadt und seit fast zwanzig Jahren UNESCO-Weltkulturerbe. Autor Ralph-Raymond Braun greift auf bewährte Mittel zur Erkundung zurück, Reiseberichte von Ersterkundschaftern und Autoren. Die haben immer noch einiges zu erzählen, was noch unverändert an Ort und Stelle steht. Albanien war durch das Regime von Enver Hoxha jahrzehntelang von jeglichem Fortschritt hermetisch abgeriegelt. So blieb einiges erhalten, was sonst vielleicht sozialistischem Baudrang zum Opfer gefallen wäre.

Albanien ist eines der wenigen europäischen  Länder, das noch viel Ursprüngliches zu bieten und zu erkunden hat. Da ist es mehr als hilfreich einen fundierten Ansprechpartner bzw. Reiseband zur Hand zu haben. Ob Auf und Ab auf Schusters Rappen oder der geeignete Strandabschnitt am Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien, Tipps, wo man sich beruhigt niederlassen kann und wo man auf örtliche Gepflogenheiten zu achten hat. Reich an Schätzen ist Albanien ohne Zweifel. Man muss sie suchen. Man wird sie finden. Einfacher wird das mit diesem Buch!