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Mein hundertjähriger Garten

Biographien zu schreiben, scheint auf den ersten Blick eine einfache Aufgabe zu sein. Nicht so, wenn es um die eigenen Erinnerungen geht. Man schält sich aus dem jahrelang gesponnenen Kokon und spürt den Gegenwind. Brrr! Kalt! Elisabeth Göbel hat sich für das neue Jahr nichts Besonderes vorgenommen. Nur vielleicht ein bisschen schreiben. Aber vor allem faulenzen. Ein guter Vorsatz, den man – und hier kommt wieder der erste Blick! – sehr leicht einhalten kann.

Isses aber dann doch nicht! Ihren Garten ständig vor Augen, den Gedanken ans Faulenzen im Kopf, und dann noch die unbändige Lust zu schreiben. Das passt in kein Überraschungsei! Dann muss es eben in ein Buch passen. Gedacht, gesagt, getan. Und hier ist das Ü-Ei mit dem Triple-Effekt, den sich niemand, der auch nur eine einzelne Zeile las entziehen kann.

Persönliches, Nützliches, Nostalgisches – dieses Triptychon der Neugier treibt Autorin und Leser immer wieder an. Die Eine zum Schreiben, die Anderen zum Lesen. Erinnerungen an die Oma. Hat jeder. Kennt jeder. Was Elisabeth Göbel aber schlussendlich daraus macht – und das ist nur ein Beispiel – lässt keine Fragen offen. Immer wieder kommt der Garten vom Kopf über den Arm und die Hand durch die Tinte aufs Papier. Und immer wieder rufen die sehr persönlichen Erinnerungen beim Leser eigene Gedanken hervor.

Ein Tagebuch zu schrieben, ist die persönlichste Art des Gedankenspiels. Durch die offene Tür schreiten Menschen, die man nicht kennt. Sie fassen Dinge an, die zeitlebens unberührt blieben. Und nun sind sie Teil von vielen Leben. Mit Erstaunen schaut man beim Erblühen zu, nimmt Abschied, wenn die Blätter fallen. Doch auch ohne schmückendes Beiwerk ist die Natur ein Schauspiel ersten Ranges.

Der unscheinbare Titel ruft unterschiedliche Assoziationen hervor. Ist der Garten tatsächlich so alt? Wie alt ist dann die Besitzerin dieser Oase? Bekomme ich Tipps wann ich welche Pflanzen in den Boden setze? Oder ist der Garten einfach nur die Basis allen dessen, was wir säen und ernten? Wer Elisabeth Göbel und ihre Bücher kennt, weiß um ihre Wortspielakrobatik. Sie schlägt keine Salti, sie ist die Conférenciére, die mit einem Lächeln, einem Blinzeln und der Souveränität einer geschulten Meisterin durch das Programm führt, dem man von Anfang an erliegt.

Vorwiegend heiter bis boshaft: Spitznamen in der Literatur

Einen neuen Kollegen kann man nur eine begrenzte Zeit „den Neuen“ nennen. Irgendwann gehört auch der zum Inventar. Da muss man schnell eine Bezeichnung finden, die ihn ein für allemal und für jeden eindeutig erkennbar macht. Das kann ein Vergleich zu einem Film sein. Oder zu einem Tier. Eine körperlich herausstechende Eigenschaft. Oder man bedient sich in der Literatur.

Denn auch die ist gespickt – sozusagen ein wahres Füllhorn an Ideen – mit Spitznamen. Dass es bis heute kein vollständiges Register dafür im Internet gibt, verwundert nach der Lektüre dieses Buches. Autor Guido Fuchs gibt unumwunden zu, dass sein Buch niemals den Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte. Aber es ist mehr als nur eine kleine Exkursion in die Literatur und ihrer einfallsreichsten Namensgebungen. Denn wenn ein Autor sich an die Arbeit macht, muss er seinen Akteuren Namen geben. Am besten welche, die sie sofort charakterisieren. Überspitzt gesagt – und da sind wir schon beim Wesen des Spitznamens – wird ein Held wohl niemals einen Namen tragen können, der in der Allgemeinvorstellung der Gesellschaft nichts mit Heldentum zu tun hat.

Eine Mammutaufgabe. Anders ist das Vorhaben nicht zu beschreiben. Schon allein die Vorstellung diese Spitznamen – also Namen, die einen Charakter unverwechselbar machen, die überspitzen, um eine einzelne Eigenschaft herauszuarbeiten – in Kategorien einzuteilen, ist, wenn man meint sich in der Materie auszukennen, schnell zu Scheitern verurteilt. Doch Guido Fuchs gelingt es scheinbar mühelos. Man fühlt sich wie in einer geselligen Runde, in der man – vielleicht um eine Feuerzangenbowle – sitzt und sich launige Geschichten erzählt. Und Guido Fuchs haut eine Anekdote nach der anderen raus. Liest man das Buch in einem Ritt, klingelt es noch Tage danach im Schädel. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Buch liest sich wirklich flüssig. Es in Dosen zu genießen, verstärkt die Wirkung aber um einiges.

Spitznamen entstammen immer der Phantasie. In Kriegszeiten verteilte man diese vielleicht auch, um dem Grauen eine Brise Humor entgegenzusetzen. Joachim Ringelnatz sei hier genannt. Dieses Kapitel über einen der humorvollsten Autoren der deutschen Literatur bringt in der Kürze das gesamte Thema auf den Punkt. Im Weiteren liest man sich durch die Werke von Erwin Strittmatter, Heinrich Mann, Günter Wallraff, Theodor Fontane und einer undefinierbaren Menge weiterer Autoren. Ihre Akteure sind heute noch vielen ein Begriff, weil … sie Spitznamen hatten.

Noch ein Wort zum Autor. Der Name Guido war in den Fünfzigern, als Guido Fuchs geboren wurde, kein gebräuchlicher Name. Oft musste er ihn buchstabieren. Das änderte sich als im Fernsehen ein weiterer Guido auftauchte. Guido Baumann war der erfolgreichste „Berufeerrater“ bei „Was bin ich?“ – ein echter Fuchs eben. Klar, wie Spitznamen entstehen?!

Es war einmal in Hollywood

Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die von unumstößlichen Klischees leben können. Hollywood ist zweifellos so ein Ort. Und wenn dann noch der Name Tarantino fällt … nimmt das Plaudern über diese Klischees kein Ende. Als Quentin Tarantino ankündigte, dass sein zehnter Film sein Letzter sein wolle, waren viele geschockt. Aber im gleichen Atemzug hielt man diese Ankündigung für einen geschickten Schachzug. Die Zukunft wird zeigen, welcher Zug der Richtige war.

Dass Quentin Tarantino schreiben kann, dürfte jedem Kinogänger hinlänglich bekannt sein. Einen kompletten Roman hatte er allerdings bis zu eben diesem ominösen zehnten Film nicht veröffentlicht. „Es war einmal …“ – die erste Verbindung eines jeden Menschen mit Geschichten, mit Büchern. Da sollte doch auch ein „… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ drin sein. Isses aber nich! Is ja ein Tarantino! Gibt’s sogar als Film.

Wir sind im Jahr 1969 in der Stadt, die vor einem reichlichen halben Jahrhundert keine Stadt war, sondern ein Flecken Erde, an dem an jeder Ecke der hauch von Orangen einem um die Ohren wehte. Jetzt, 1969 ist alles anders. Gigantische Studios lenken den Blick von den Hügeln ab. Die Sonne brennt immer noch erbarmungslos. Und Rick Dalton brennt darauf endlich mal wieder eine Filmrolle zu ergattern, die ihm den seiner Meinung nach zustehenden Ruhm einbringt. Sein Agent Marvin Schwarz kann ihm eine Rolle in einem Spaghetti-Western anbieten. Rick ist angeödet von dem Genre. Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen.

Apropos Teufel. Cliff Booth ist Ricks Fahrer, er doubelt ihn in gefährlichen Szenen. Ein Stuntman der knallharten Sorte, der schon mal zulangt, wenn es erforderlich ist. Bisher ist ihm das nie zum Nachteil ausgelegt worden. Er kam sogar mit dem einen oder anderen Mord davon. Seine Geschichten waren immer glaubhaft. Selbst die als seine Frau „unglücklich ums Leben kam“. Jeder kennt die Geschichte, aber solange nichts bewiesen ist … ist Hollywood glücklich und zufrieden. Es gibt Wichtigeres als einen Kriegshelden aufgrund von Vermutungen auszuschließen.

Neben Rick wohnt Roman Polanski, nebst Gattin Sharon Tate. Und bei Dennis Wilson wohnt Charlie. Ein Musiker, dem der große Ruhm wohl ewig verwehrt bleiben wird. Da kann er sich noch so anstrengen.

Und daraus inszeniert Quentin Tarantino sein Hollywood-Märchen. Zwischen den Trinkgelagen von Aldo Ray, Lee Marvin in Uniform (was sonst?!) und weiteren Anekdoten aus dem Hollywood nach dem Hollywood der „alten Tage“ blitzt die Kritik an der Branche immer wieder auf. So viele Schicksale, dass man den Sunset Boulevard jedes Jahr bis ans Ende der Zeit monatlich damit pflastern könnte. Glücksritter, die realitätsfremd einem Traum hinterherjagen, der nichts anders ist als eben ein Traum. Und immer wieder die Verneigung vor denen, die es dann doch geschafft haben, weil sie etwas besaßen, das andere niemals haben werden: Talent UND Glück. Das Buch weicht branchenüblich vom Film ab. Wer also meint es sei ein Fehler erst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, kann sich getrost zurücklehnen. Und das Buch genießen. Es wird den Film in einem anderen – mindestens ebenso strahlenden – Licht erscheinen lassen.

Azzurro

Azzurro oder Azurro oder Azzuro? Schon beim Schreiben qualmt die Rübe ordentlich. Und erst bei der Italienhymne. Zuerst einmal: Doppel-Z UND Doppel-R. Der Rest … da man sich das Lied immer wieder anhören kann, und mit ein bisschen Sprachgefühl (gelato hilft da immer) – kommt man vielleicht nicht auf den genauen Wortlaut, trifft aber gefühlt den Ausdruck. Hat man dieses Gefühl erst einmal intus, kann man sich an die Bedeutung wagen. Die zahlreichen Übersetzungen im Netz sind da nur bedingt eine Hilfe. Wie so oft im Leben, hilft da nur ein Buch! Dieses Buch.

Denn das Wichtigste an diesem Lied ist und bleibt: Adriano Celentano! Es ist sein Lied. Es ist das Lied Italiens. Ein Traum vom Sommer und der Sehnsucht diesen nicht allein zu verbringen. Und das alles mit dem einzig passenden Charakter, um der Stimmung ein einzigartiges Gefühl zu verpassen.

Das ist aber nur eines der einhundert vorgestellten Lieder und der Geschichte(n) drumherum und dahinter. Auch ohne große Anstrengung können mindestens drei Generationen hierzulande mindestens ein Dutzend Sänger aufzählen, inkl. mindestens eines Hits. Eighties-Kids durchzuckt es bei Gianna Nanninis „Bello e impossibile“, ein Jahrzehnt später schwört man auf Jovanotti (warum man von ihm hierzulande spürbar weniger wahrnimmt, ergibt sich ziemlich schnell, liest man schnell aus dem Text über den Italo-Rapper heraus).

Patty Pravo ist seit Jahrzehnten von der Bildfläche verschwunden. Dennoch klettern ihre Alben in den Charts nach Oben wie ein Gibbon in die Bäume. Ihr provokanter Kleidungsstil erleichterte und erschwerte ihren Aufstieg vor einem halben Jahrhundert. Eine Frau in Hosen, und das im ach so eleganten Italien?! No, no, no. Dennoch hält sie sich. An ihr kommt man in Italiens Musikhistorie nicht vorbei.

Ob sanftes Pop-Geplänkel a la Al Bano & Romina Power, deren Rosenkrieg länger dauerte als ihr Tanz auf dem Pop-Olymp, oder echte Ohrwürmer wie „lasciate mi cantare“ von Toto Contugno – auch hier wieder: Wer es mitsingen will, sollte die Worte kennen, ansonsten wird’s hochgradig peinlich – oder doch die große Bühne einer Milva: Italiens Sehnsuchtsmelodien treffen seit Generationen ins Herz. Bunte Vögel wie Vasco Rossi, Statthalter wie Celentano und Mina und Eintagsfliegen wie Baltimora und Scotch stehen gemeinsam auf dieser Bühne mit Sängerinnen, Bands und Sängern, die man nicht sofort auf dem Schirm, wohl aber im Ohr hat.

Nun, wie liest man dieses Buch? Brav, leicht neugierig von Seite Eins bis zum Schluss. Nervös durchblätternd, bis man einen Interpreten, ein Lied entdeckt über das man schon immer was erfahren wollte. Akademisch, Video suchen, Kapitel lesen, aha rufen. Es ist vollkommen egal. Nur lesen sollte man es – das Mitsingen (und schlussendlich ist es doch einerlei, ob man die richtigen Töne und Worte trifft: Die Stimmung muss stimmen!) garantiert dolce vita allerorten. Dieses Buch Fälle muss man für die nächsten Jahre ins Reisegepäck legen. Wann immer ein canzone erklingt, kommt man Italien ein Stückchen näher.

Toulouse, Albi, Carcassonne

Allein schon wegen der ungewöhnlichen Auswahl des Reiseziels sticht dieser Reiseband sofort ins Auge. Mitten im Südwesten Frankreichs, vor den Höhen der Pyrenäen, in Sichtweite des Mittelmeeres liegt das magische Dreieck Toulouse, Albi und Carcassonne. Toulouse, viertgrößte Stadt Frankreichs, Industriestandort wuchert mit seiner beeindruckenden Architektur. Rot und Weiß dominieren die Aussicht. Gigantische Bauten laden zum Staunen und Verweilen ein, ebenso wie ihr Ruf als Stadt der Künste.

Carcassonne fristete bis vor wenigen Jahren noch einen Dornröschenschlaf. Scheinbar. Die von Weitem schon sichtbare Festungsanlage prägt die Silhouette der Stadt. Besucher waren immer willkommen, doch seit einiger Zeit strömen die Touristen in Scharen durch die alten Gassen. Die meisten Läden sind nur auf Touristen ausgerichtet. Wenn man sich Zeit nimmt, und hier und da abbiegt, wo der Strom strikt geradeaus läuft, wird man überhäuft mit Eindrücken. Nicht umsonst ist die Altstadt seit einem Vierteljahrhundert UNESCO-Weltkulturerbe. Die Autorin Heike Bentheimer weiß ganz genau, wo man weiterläuft und wo man innehalten sollte.

Albi ist das Kleinod der Region. Regelmäßig gewinnt man höchste Auszeichnungen für die florale Pracht der kleinen Stadt. Auch hier haben die okzitanischen Herrscher ihre Spuren hinterlassen. Nicht so wuchtig wie in Carcassonne. Liebevoller und schmeichelnder möchte man meinen, wenn man schon beim Lesen wie ein gewiefter Besucher auf die Tarn schaut, sich in den Gassen behände fortbewegt und mit traumwandlerischer Sicherheit einen Platz zum Niederlassen aussucht.

Angereichert wird der Reiseband mit Tipp zu Ausflügen auf dem Canal du Midi, in die Schwarzen Berge – Montaigne Noire – und ins Katharerland. Geschichte allenthalben, die heute so eindrucksvoll immer wieder in den Fokus des Reisenden tritt.

Hier kann man gut zu Fuß sich eine Region erobern. Allerdings muss man gut gerüstet sein. Schon vor Ewigkeiten bissen sich hier Eroberer die Zähne aus. Als moderner Forscher/Tourist kann man sich getrost auf jede einzelne Seite dieses Buches verlassen. Selten zuvor wurde eine fast vergessen scheinende Region so sanft und detailreich in den Fokus gerückt, ohne dabei lautmalerisch nur das Offensichtliche anzukündigen.

Die Sommerhäuser der Dichter

Was braucht ein Dichter, um sich frei entfalten zu können? Die Ruhe der Abgeschiedenheit oder den Trubel der weiten Welt? So unterschiedlich die Dichter, so unterschiedlich sind auch ihre Sommerhäuser. Bertolt Brecht zog sich mit Helene Weigel nach Buckow bei Berlin zurück. Idyllisch am See gelegen, bürgerliches Ambiente. Soviel Kapitalismus muss ein Kommunist aushalten … in Brechts Fall war es sogar gewünscht. Um sich in der DDR niederzulassen, erfüllte die Staatsführung ihm fast jeden Wunsch. Dem des abgelegenen Sommerhauses auf alle Fälle.

Weitaus feudaler residierte da schon Jean Cocteau vor den Toren von Paris. Bis heute ist der Garten unverändert, in seinen Mauern sind Gemälde von Weltrang zu besichtigen. Cocteau lebte in Milly-la-Forêt siebzehn Jahre. Den Trubel der Metropole holte er sich gelegentlich ins Haus.

Trubel konnte Heinrich Böll in seinem Versteck in der Eifel nicht gebrauchen. Schon gar nicht als 1974 Alexander Solschenizyn hier Asyl fand. Bis heute ist dieses Haus eine Zufluchtsstätte für verfolgte Dichter.

Versteckt, bis heute nicht ohne eine Portion Forscherdrang zu entdecken, liegen die Rückzugsorte von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard sowie von George Bernard Shaw. Ausflüge ins Ländliche waren für Woolf Alltag. Shaw hingegen ließ sich einen drehbaren Arbeitsplatz einrichten, um stets der Sonne folgen zu können. Noch einsamer mochte es Hermann Hesse, der gleich am Eingang mit einem Schild auf seine unbedingte Bitte Abstand zu halten hinwies.

Die meisten Häuser, die einmal das Zuhause eines berühmten Kopfes waren, sind heute als Museen zu besichtigen. Dank der unermüdlichen Arbeit von Stiftungen und/oder Nachfahren sind ihre Refugien zu einem Hotspot der Wissbegierigen geworden. Im Fall von Arthur Rimbaud liegt der Fall etwas anders. Auch hier wieder Idylle soweit das Auge reicht. Doch der streitbare Dichter fühlte sich hier in keiner Weise wohl. Das Licht, die Piefigkeit trieben ihn wieder gen Paris. Über hundert Jahre später wurde es verkauft, der Preis dafür: So um die 50.000 Euro. Munkelt man. Die neue Besitzerin verehrt Rimbaud. Parallelen zwischen ihrem und seinem Leben sind vage vorhanden. Er war und ist für sie purer Rock ’n Roll. Ihr Name: Patti Smith.

Von Tanger über Weimar bis Nidda, von Thomas und Klaus Mann über Günter Grass und Anton Tschechov bis William Burroughs – dieses Buch befeuert die Neugier des Lesers. Die Texte laden ein dem Forscherdrang nachzugeben und dem Einen oder Anderen über die Schulter zu schauen und das zu sehen, was die Dichter einst aufsaugten. Die Resultate dieses Aufsaugens sind weltbekannt. Ein Besuch bei Dichters hilft deren Schriften zu verstehen. Hier hält man einen der originellsten Reiseappetitmacher überhaupt in den Händen!

Geschichten der übelsten Sorte

Man kennt den Spruch, dass es immer einen Deckel für einen Topf gibt. Man muss vielleicht nur den Staub abdaumen. Heißhändig sich an die Arbeit machen. Und ab und zu mal die Knüllspuren beseitigen. Wer mit diesen Formulierungen nicht überfordert ist, kommt dem Geheimnis von Garielle Lutz – vielleicht nicht schnell, aber immerhin – auf die Spur.

Die Kurzgeschichten sind Spickstücke der Sprache. Den Regeln der Grammatik folgend, Wortschöpfung in selbige einpassend, trifft sie den konzentrierten Leser mitten ins Mark. Die Folge: Verwirrung, Euphorie, Genveränderung. Nie wieder will man Klassisches im klassischen Stil lesen! Ist es Punk? Ist es Revolution? Nö. Es ist nur eine andere Form des Ausdrucks. Schwer einzuordnen, wenn man einen Buchladen zu bestücken hat. Krimi, Reiseliteratur, Selbsthilfe, Kinderliteratur – die Einteilung ist beliebig und nachvollziehbar. Auf eigene Faust sich im Karteikartensystemlabyrinth einen Weg zu Garielle Lutz zu bahnen, endet im Tränenmeer der Verzweiflung.

Nichts scheint zusammenzupassen. Buchstabensalat, Satzteilverstümmelung, Syntaxmäander sind die Gesellen, die erst im Nachgang eine Clique bilden. Immer wieder setzt man ab und sucht nach der Geschichte in der Geschichte. Hat man sie aber erstmal gefunden, ist das Licht der Erkenntnis so grell, dass es einem nicht nur die Sicht versperrt. Es schmerzt erst jetzt die Erleuchtung zu haben.

Wie begegnet man also so einem Buch? Kurzgeschichten, modern geschrieben, … mal was anderes. Am besten ist es wohl ganz unvoreingenommen sich Seite für Seite zu erarbeiten. Ohne abzusetzen. Nach fünf, sechs Geschichten sollte man innehalten. Was war das denn? Wirklich nicht überlesen, alles richtig verstanden? Nochmal zurückblättern und sich vergewissern, dass es genau so verstanden werden soll wie man es aufgenommen hat. Ah, darin liegt also die Besonderheit der Avantgarde von Garielle Lutz’ Schreiben.

Ja, es dauert bis man den richtigen Grove gefunden und sich selbst aller Selbstzweifel entledigt hat. Und den Lesefluss, den man kennt, kann man getrost ad acta legen. Jede Geschichte ist ein in sich geschlossener Kosmos. Nichts ähnelt einer der Geschichten zuvor. Alle paar Seiten öffnet sich eine Tür in eine neue Welt. Die Rasanz des Wechsels verstört anfangs. Das Ego im Zentrum, die Welt außen vorlassen. Dennoch sucht Garielle Lutz permanent Anschluss an eben diese Welt. Ihre Wege sind definitiv einsam, vielleicht verschroben, ungewöhnlich allemal. Die „Geschichten der übelsten Sorte“ warten nicht auf Leserschaft. Sie überrumpeln den Leser, nehmen ihn in Isolationshaft und foltern ihn bis er sich regungsvoll ergibt. Das „Exit“ auf dem Buchcover schreit wie Hohn dem teilnahmslosen Betrachter ins ungläubige Gesicht. Denn es gibt ihn nicht, den einen Ausweg. Man muss schon durchhalten, bis zum letzten Letter lesen und sich dann selbst fragen …

Verfallene Orte in Wien

Wien ein einzigartiges Attribut zu verleihen, ist eine schier unlösbare Aufgabe. Die Schöne, die Elegante, die Historische. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch die Verfallene, darauf kommt keiner, der jemals zwischen Hietzing und Donaustadt unterwegs war. Und dennoch gibt es sie, die verlassenen Orte, die scheinbar dem Verfall preisgegeben werden. Lost places, verfallene Orte, Abenteuerspielplätze für eine neue Art von Geschichtsjägern.

Und manchmal sind diese Orte einfach nur leerstehende Gebäude, die nur darauf warten wieder entdeckt zu werden. Wie das Theater am Mittersteig im Vierten. Es fällt spärliches Licht auf den Saal, wo einst das gespannte Publikum den Filmaufführungen entgegenfieberte. Eine Staubschicht bedeckt den Boden. Restmüll hat der Wind hineingeweht. Vor etwas mehr als einhundert Jahren erbaut, strahlt die Größe immer noch einen gewissen Glanz aus. Nach dem Kriege vergnügten sich hier nur kurz fesche Madeln mit den GIs. Der Kinoboom der Folgejahre hielt nur reichlich zwei Jahrzehnte. Die Logen wurden entfernt. Die Stuckarbeiten mit grässlich-hässlichen Platten verkleidet. Eine Boxhalle wurde aus dem Theater der Träume – so groß ist der Wandel dann auch nicht gewesen…

Heute haben einige der Figuren, die einst die Wände und Decken zierten zerschlagene Nasen. Ironie der Geschichte? Das Theater wieder so herzurichten, dass ein lohnenswerter Kulturbetrieb (der nüchterne Sachton ist in diesem Fall mehr als angebracht) vonstatten gehen könnte, ist fast illusorisch. ABER: Für Stadtabenteurer, die dem Charme des Verlassenen, des Verfallenden anheimgefallen sind, gehören solche Orte zum Standardrepertoire. Denn hier gibt es auf engstem Raum mehr zu sehen als in so manchem Museum.

Ein abgebranntes Restaurant, aus Sicherheitsgründen bald nach der Katastrophe abgerissen, Tiefbunker, und selbst so (thematisch) naheliegende Orte wie der St. Marxer Friedhof sind wahre Fundgruben, um jüngere Geschichte erlebbar zu machen.

Die beiden Autoren / Fotografen machen sich gern die Finger schmutzig, um in aussagekräftigen Bildern die Vergangenheit zu konservieren. Den nur, weil etwas nicht mehr da ist, muss es ja nicht verschwunden sein. Ohne Geschichte kein Jetzt, und erst recht kein Morgen. Nicht viele Orte sind – nicht ganz ohne Aufwand – besuchbar. Die meisten jedoch verstecken sich hinter Riegeln und Schlössern, dicken Mauern, Absperrungen. Zum Glück gibt es Bücher wie dieses, um die versteckten Juwele der Zeit doch noch ans Licht zu bringen.

Schlaflos

Es fängt alles so harmlos an: Auf einer schottischen Insel, so verlassen, dass man gerade noch so etwas wie Zivilisation darauf „betreiben“ kann, aber fernab von dem, was die Zivilisation so angespannt wirken lässt, hat sich eine junge Familie eingenistet. Sie, Anna, schreibt an einer wissenschaftlichen Arbeit. Die Kinder fordern ihre volle Konzentration. Und er? Naja, er ist einfach nur da. Bei Weitem nicht so präsent wie er sollte, dennoch da.

Zwischen Stromausfällen zur Unzeit (wann kommen die schon mal wie gerufen?), endlosem Kinderliedersingen und dem sehnlichen Wunsch nach Schlaf und die Arbeit endlich beenden zu können, ist Anna öfter der Verzweiflung nah als sie es sich selbst eingestehen will. Jede Abwechslung für die Kids und sie ist eine willkommene Abwechslung. Doch dass dabei ein Schädel im Garten der jungen Familie gefunden wird, war so nicht geplant. Der Große wittert sofort ein großes Abenteuer. Die Polizei, inzwischen herbeigerufen, nimmt erstmal die Mutter unter die Lupe. Das ist es, was Anna noch braucht…!

Jetzt beginnt das wahre Abenteuer für die studierte Historikerin. Die Auszeit auf der abgelegenen Insel in der Abgeschiedenheit Schottlands entwickelt sich zu wahren Thriller. Denn in ihrem Garten hat sich ein Verbrechen zugetragen. Lange her. Doch das weiß bis hierhin nur der Leser. Der wird zwischen den bitterböse anmutenden Dialogen zwischen Anna und Giles, ihrem Gatten, zwischen Anna und ihren Kindern, mit Briefen konfrontiert, die vor mehr als hundert Jahren vom Kampf der Frauen um gesellschaftliche Anerkennung geprägt sind. Eine junge Frau will unbedingt Ärztin werden. Zur damaligen Zeit mehr als nur der Kampf mit unendlich dicken Büchern und der begrenzten Aufnahmefähigkeit des Gehirns. An allen Seiten stößt die junge Frau auf unüberwindbare Mauern.

Sarah Moss lässt sich nicht beirren in ihrem Ansinnen dem Leser auf fast fünfhundert Seiten keine Sekunde Ruhe zu gönnen und ihn immer tiefer in die Geschichte hineinzuziehen. So schlaflos Anna die Stunden, Tage, Wochen, Monate mit all dem verbringt, was Alltag für eine berufstätige Mutter scheinbar zu sein hat, so rastlos peitscht sie den Leser von Seite zu Seite, treibt ihn an erst dann Ruhe zu geben, wenn das letzte Puzzleteil sich erhaben ins Bild fügt. Das Kapitelende als Ruhepol kann man in „Schlaflos“ getrost vergessen. Immer weiter zeiht einen die Neugier in die Story hinein. Und an Schlaf ist erst recht nicht zu denken, wenn die letzte Seite gelesen, die letzte Zeile aufgesogen wurde.

Die Luft zum Atmen

Während auf der einen Seite des Atlantiks die Donnerwolken alles in Schutt und Asche legen, liegen am Tamarack Lake die Genesenden auf Liegestühlen und sollen sich jedweder Anstrengung durch Wegducken entziehen. Leo Marburg ist gerade angekommen. Mitte zwanzig, voller Energie. Dennoch macht ihm die Schwester bestimmt klar wie der Hase hier läuft. Ruhe. Und das in jeder Hinsicht. Keine Bewegung, keine Aufregung, keine Regung. Wenn sich der Patient an die Regeln hält, sie verinnerlicht hat, dann werden die Regeln ein wenig gelockert. Aber nur, wenn der Krankheitsverlauf es auch zulässt. Mit Tuberkulose ist nicht zu spaßen. Schon gar nicht in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts.

Miles Fairchild wird diese sedierte Runde in Unruhe versetzen. Sein Vorschlag man könne sich geistig gegenseitig herausfordern, sich unterhalten, sich sogar bilden, stößt auf ein geteiltes Echo. Die Schwesternschaft samt Arztpersonal sieht dem Vorhaben mit gemischten Gefühlen entgegen. Solange die Tuberkulose-Bakterien brav eingepackt im Körper keinen Schaden anrichten – wie aber will man das vorbeugend überprüfen? – ist alles in Ordnung. Wenn aber die Bakterien sich freisetzen und weitervermehren, dann beginnt die ganze Prozedur wieder von vorn. Wer will das schon? Vor allem, wenn man bedenkt, dass eine solche Kur nicht in ein paar Wochen zum gewünschten Resultat führt.

Auf der Patientenseite wird jede Abwechslung mit Beifallsstürmen begrüßt. Allerdings fallen die Vorträge sehr unterschiedlich aus. Gähnende Langeweile bei einem nicht enden wollenden Vortrag über Beton, lässt die Zuhörer am Gelingen des Vorhaben zweifeln. Doch nach und nach kommt Schwung in die Runde. Jeder der Anwesenden, geistreich, wohlsituiert, teils wohlhabend – in reichlich einem Jahrzehnt würden sie sich sicher bei eine Gatsby’schen Amüsement ein Stelldichein geben – hält Rückschau. So entsteht eine Spielwiese, die für jeden etwas parat hält: Naturwissenschaftler erfreuen sich an den Anekdoten über Marie Curie und Albert Einstein. Historiker staunen über die detaillierten Schilderungen der Zeit des Ersten Weltkrieges in einem Land, das von Erschütterungen weitgehend verschont blieb. Andrea Barrett raubt dem Leser die Luft und gibt sie ihren Protagonisten, damit sie atmen können.