Archiv der Kategorie: aus-erlesen ungewöhnlich

Das kann immer noch in Wien passieren

Als Wien-Tourist kann man es nur schwer vorstellen, dass hier so etwas wie Alltag einkehrt. Alle paar Meter gibt es etwas zu entdecken, dass es so eben nur hier gibt. Mit großen Augen marschiert man an beeindruckender Architektur vorbei, schaut hier und da mal rein, überblickt von so manchem Hügel die Metropole, berauscht sich in einem der zahlreichen Museen und lässt es sich im Café gutgehen.

Der alltägliche Schmäh ist da nur ein Beiwerk, das man erst bei genauerem Hinhören zu verstehen weiß. Es sind jedoch die Alltagsgeschichten wie in diesem Buch, die den Wien-Touristen vom Wienexperten unterscheidet. Wer also dem Schlangestehen am Café Central oder (noch schlimmer, weil länger) am Sacher nichts mehr abgewinnen kann, wem das Belvedere schon näher ist als die heimische Umgebung, der wird den Wienern mit Genuss aufs Maul schauen. Und wenn’s nicht allzu wianerisch wird, versteht man es … zumindest akustisch. Inhaltlich wird’s da schon ein wenig verzwickter. Doch es gibt Abhilfe.

„Das kann immer noch in Wien passieren“ ist die Allzweckwaffe im Wunderschönfinden des Alltagssingsangs in der Donaumetropole! Denn nicht alles, was so melodisch ans Ohr geflogen kommt, ist mit Liebreiz und Wohlwollen behaftet. Es sind schon deftige Abreibungen, die man allerorten vernehmen kann. Das beginnt bei der familiären Aufarbeitung der eigenen Geschichte derjenigen, die nicht fliehen mussten. Was den Autor dieser Anekdote dazu veranlasst zu bemerken, dass sein Gegenüber zumindest dafür verantwortlich ist, dass seine Familie fliehen musste, wenn sie denn konnte. Starker Tobak, wenn so ein Dialog „zwischen Tür und Angel“ stattfindet.

Diese Alltagsgeschichten sind gespickt mit Perfidität, laissez-faire und einer ordentlichen Portion Schärfe und Wortwitz. Oberflächlich eine schonungslose Abrechnung mit der hauptstädterischen Arroganz gegenüber allen von außerhalb. Doch in der Tiefe liegt der wahre Schatz dieses Buches vergraben.

Nicht alles, was scharfkantig ist, verletzt. Als Trostpflaster kann man dieses Buch ebenso verstehen. Denn wird vorbereitet ist, entgeht so manchen Verbalscharmützel. Zartbesaitete können in Wien schnell unter die Räder kommen, wenn sie sich nicht bewusst sind, dass nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Und in Wien kocht man sehr heiß – also verbal. Als Zusatzlektüre für den einen oder anderen Reiseband ist dieses kleine Büchlein, das sich mit Macht gegen übertriebene Korrektheit wehrt, unverzichtbar. Und mit diesem Buch in der Hand, am richtigen Ort kommt man garantiert mit echten Wianern ganz schnell ins Gespräch.

Wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt

Eigentlich kann man es kaum noch hören: Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt! Und dann ist man da und sagt: „Ja, stimmt!“. In fast jeder Hinsicht. Ein geballtes Inferno an Museen, prächtige Straßen, eine funktionierende Infrastruktur. Ein lebenswerter Ort, ein Ort, an dem man nur die Ohren offenhalten muss, um dem Schmäh die Schärfe zu nehmen. So wie Andreas Rainer, ein Alltagspoet – der Alltagspoet. Er schnappt an der Tramhaltestelle, an der Ampel, im Café (wo sonst?!) was auf und verarbeitet es ruck zuck zu einem poetischen Pamphlet, das Kopfnicken und „Echt jetzt?“ zugleich hervorruft.

Diese kleinen Sticheleien gegen das lupenreine Image der Stadt sind mehr als nur eine kleine Brise Würze. Sie erzählen von dem, was dem Touristen verborgen bleibt. Es sei denn man kommt tatsächlich mit einem Herrn Ober ins „Gespräch“… Ihn heranwinken bringt nichts.

Andreas Rainer findet seine Geschichten auf der Straße. Da streiten sich Bauarbeiter und Polizei wer hier Vorrecht genießt. Oder es hagelt Beschwerden über die Arbeit – woanders ist auch nicht schlechter.

Dieses kleine Büchlein nimmt ein wenig die Schwere vom Titel „Liebenswerteste Stadt der Welt“. Hier leben auch nur Menschen, die allerdings mit einer ordentlichen Portion Schmäh dem Alltag die Stirn bieten. Derber Humor und Eleganz schließen sich also doch nicht komplett aus.

Und es gibt echte (Über-) Lebenshilfe für Wien. Wenn man einem Lehrer glauben darf, dann sollte man es tunlichst vermeiden psychisch Labile in der U-Bahn anzustarren. Das ist nicht nur Schulklassen zu empfehlen. Denn der Wiener steht über allen anderen Österreichern – was sicher nicht zu verallgemeinern ist, aber warum soll man sich als Gscherter zu erkennen geben (und den Unmut der Wianer sich zuziehen) – und das lässt er ganz gern auch mal sein Gegenüber spüren (schön mal verdutzt aus der Wäsche geschaut, wenn einem „a Sackerl“ angeboten wurde?).

Es gibt auch andere Städte, die für ihren Humor bekannt sind. Berlin zum Beispiel. Doch während man an der Spree mit der Dampframme zurechtgestutzt wird, wird man an der Donau sanft mit dem Hammer gestreichelt. Wien-Liebe to go steht wie ein Label auf dem Cover. Und so sollte man dieses Büchlein auch annehmen. Nicht zwingend am Graben sich auf einer Bank das Buch laut vorlesen. Auch nicht auf den Stufen der Albertina sich lauthals über (letztendlich sich selbst) lachen. Jedoch auf einer Bank leise vor sich hinschmunzeln während man darin blättert, sollte erlaubt sein. Und vielleicht trifft man auf diesem Weg genau den einen Wiener, der mit einem über diese „G’schichten“ bei einer Tschick lachen kann. Einen Versuch ist es allemal wert!

Keine Bleibe

Nicht wegen ihres Namens hat Angelika Sinn dieses Buch geschrieben, ein Buch, das obdachlose Frauen in den Fokus rückt. Es macht Sinn so ein Buch zu schreiben, obwohl es natürlich besser ist, ein derartiges Buch niemals schreiben zu müssen. Angelika Sinn arbeitet ehrenamtlich beim Tagestreff frauenzimmer in Bremen, der sich um Obdachlose kümmert. Sie bietet hier Schreibkurse an. Mit viel Einfühlungsvermögen und nicht weniger Geduld hat sich die Geschichten von acht Frauen zugehört und sie zu Papier gebracht.

So verschieden die Frauen sind, haben sie doch eines gemeinsam: Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem nichts mehr ging. Rechnungen wurden nicht mehr bezahlt, die Gewalt war unerträglich geworden, das Schicksal hat unverhofft und gnadenlos zugeschlagen. Die Straße war der einzige Ort, an dem sie noch existieren konnten. Dank Vereinen wie frauenzimmer und anderen fanden sie Hilfe. Die Verängstigung der Frauen konnten aber auch sie nicht ungeschehen machen.

Es sind wirklich keine schönen Geschichten im eigentlichen Sinn. Doch dass Hoffnung zurückkehren kann, eint die Frauen ein weiteres Mal. Es sind kleine und große Glücksmomente – auch der in Angelika Sinn ein offenes Ohr zu finden – die der Resignation den Nährboden entziehen.

Die stimmungsvollen und leisen Fotografien von Rike Oehlerking verleihen jeder einzelnen Beschichte in diesem Buch eine besondere Note. Detailaufnahmen ohne zu viel preiszugeben – wie ein Sinnbild für jedes Schicksal.

Es ist mühsam sich dem Thema Wohnungslosigkeit über Zahlen zu nähern. Je größer die Zahl desto mehr distanziert man sich von den Betroffenen. Wahre Hilfe kann nur jedem einzelnen gegeben werden, niemals einer ganze Gruppe oder gar einer Masse. Nicht aufzuhören über dieses Thema zu reden, zu schreiben, die Augen nicht zu verschließen, gehört genauso dazu.

Fannys Rache

Eines gleich vorweg: Wer das alles ernst nimmt, wird mit Schamesröte, Kopfschütteln und einer gehörigen Portion Wut den Roman beiseitelegen. Wer allerdings darin scharfsinnigen Humor, Wortwitz und Hintersinn erkennt, wird mit 100prozentiger Genugtuung den Tag verbringen.

Fanny Kajsman lebt in ihrem Stetl sehr schlecht als recht. Der Vater hat sie zur Schächterin ausgebildet. Vorsicht vor Frauen, die mit dem Messer umgehen könne, will man warnen. Nicht ohne Grund. Und wenn die Person – wie im Falle von Fanny – einen ausgeprägten Starrsinn in sich trägt, dann können diejenigen, die sich ihr den Weg stellen meinen zu müssen, nur noch beten.

Ihr Schwager hat sich aus dem Staub gemacht. Und Fannys Schwester sitzen lassen. Einfach so. Er ist nach Minsk abgehauen. Vom Schwarzen Meer in den kalten Norden – brrr, wegen des Klimas hat er bestimmt nicht diese Entscheidung getroffen. Wie gesagt, Fanny trägt ein ordentliche Portion Starrsinn und mittlerweile auch Wut in sich. Sie packt ihre sieben Sachen und macht sich auf den Schwager zu suchen. Nicht, um ihn zurückzuholen, sondern um Rache zu nehmen – Fannys Rache. Auf ihre eigene Art und Weise. Da wir uns im frühen 20. Jahrhundert befinden, gibt es nicht viele Möglichkeiten gen Minsk „zu reisen“. Linienflüge, feste Busverbindungen, per Anhalter etc. – das gab’s damals noch nicht. Und mit einem gigantischen Messer einfach mal so Grenzen überqueren – ha, das ging nur damals.

Unterwegs sammelt Fanny so allerlei Unrat auf. Einen stummen Fährmann – welch Symbolbild – und  die liebe Verwandtschaft. Denn im Russland des frühen 20. Jahrhunderts waren Juden über ganz Europa verteilt. Klar, dass man hier und da immer wieder auf Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen etc. trifft. Allesamt nicht gerade vorzeigbar. Günstlinge der Hölle, die geschickt ihre Fähigkeiten und ihre Chuzpe nutzten, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Fanny stapft beseelt von ihrem Vorhaben durch die Weite des russischen Reiches und nimmt keinerlei Rücksicht auf Verluste. Eine weibliche Heldin durch ein Land, das mit, um es vorsichtig auszudrücken, mehr als eine Handvoll Ressentiments gegenüber Juden hegt. Die resolute Art wie Fanny jedwedem Problem entgegentritt und mit dem riesigen Messer im Gepäck, lässt den Leser ein ums andere Mal vor Freude aufjaulen. Man selbst möchte ihr nicht begegnen, ihr bei ihren Begegnungen zuzuschauen, ist ein Fest. Manchmal tut es gut und ist es hilfreich einem Buch einen Stempel aufdrücken zu können. In diesem Fall ist das unmöglich. Das ganze Cover wäre dann voller Stempel. Großartig, witzig, böse, hintersinnig, brutal ehrlich, … die Rose und das Schwert auf dem Cover (keine Anlehnung an die sächsische Asterix-Ausgabe „De Rose und’s Schwärd“) sind mehr als schmückender Kaufanreiz. Wer „Fannys Rache“ nicht liest, dem entgeht eine wortgewaltige und intelligente Erfahrung, die die Gegenwart teils in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Huldrychs Ende

Das Wichtigste vorweg: Das hier ist Satire! Ein satirisches Buch über den Literaturbetrieb in München. Da könnte so manchem Frömmling die Oblate im Hals stecken bleiben. Und das ist auch gut so! Denn echte Satire darf alles!

Huldrich Librorius ist Verleger – der Name sagt es ja bereits. Schweizer und der unangefochtener König auf dem Markt. Gerade hat er seine 250. Filiale in Bayerns Landeshauptstadt eröffnet. Mit viel Tamtam, wie es sich gehört. Auf einem Schloss im Süden. Man grüßt sich höflich, hält Smalltalk, verspritzt ein bisschen Gift – verbal. Halt! Nicht nur verbal! Denn am nächsten Morgen ist der König tot. Der letzte Orangensaft war wohl mit etwas versetzt, das dem schwachen Herz Huldrychs nicht bekam.

Und schon springt die Getuschel-Maschinerie Münchens an. Die Esoterik-Buchladen-Besitzern Gundula Hexenstaller (wie gesagt, es handelt sich um Satire) sprintet zu ihrer Bank und will einen Kredit, um die nun besitzerlosen Immobilien zu erwerben. Hat sie etwa ein Motiv den Verlegerkönig zu beseitigen?

Caspar Kurt Caspar, auch dieser Name spricht Bände, zerfetzt sich dermaßen das Maul, dass die Charakterisierung am Beginn des Buches (die ihn als Arschloch UND geilen Kerl bezeichnet) nur als Punktlandung bezeichnet werden kann. Und zwischendrin – wir lesen ja nun mal einen Krimi – Hauptkommissar Lukas Lukaschonsky und Oberkommissarin Jana Vecera. Eine Wahnsinnsfrau, die hat Nerven … hieß einmal in einer Fernsehserie.

Bis man nach reichlich 150 Seiten weiß, wer dem Verleger so vitaminreich den Garaus gemacht hat, muss man in so manches schwarzes Loch schauen. Das geht, wenn man dieser Löcher als bitterböse schwarzhumorige Irrlichter begreift. Wer München kennt, wer die Literaturszene und ihr wirtschaftliches Beiwerk kennt, dem werden so manche Figuren vielleicht nicht ganz unbekannt vorkommen. Wer sie nicht kennt, lernt sie kennen. Versprochen! Lug und Trug sind die Geschwisterpaare dieses unheimlichen Krimis, der zu Tränen rührt. Es sind Tränen der Freude ob der Absurdität, die das Leben schreibt.

Groll

Vittorio Leonardi starb eines natürlichen Todes, sagt der Arzt, der ihn untersuchte und den Tod feststellte. Und darüber hinaus sein Freund seit Schultagen war. Auch gibt es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen.

Jahre später sitzt seine Tochter Marina der Anwältin Penelope Spada gegenüber und spricht von ihrem Unwohlsein wegen des Todes ihres Vaters. Jahre später!

Ist schon seltsam. Da unterhalten sich zwei Frauen über den Todes des Vaters der Einen. Die Andere hört gewissenhaft zu und mittendrin fällt ihr urplötzlich der Name der Einen auf. L-E-O-N-A-R-D-I. Das war mal was! Fünf Jahre zuvor war Penelope Spada noch bei der Staatsanwaltschaft. Unter der Flut von Anzeigen stach ihr damals eine besonders hervor. Es ging um die Loge P2 und ihr illegales Schneeballsystem. Das wurde zerschlagen und ein entsprechendes Gesetz zur Vermeidung solcher Untriebe erlassen. Die Loge hatte (und hat?) weitreichende Verbindungen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Ermittlungen führten Spada auch zu dem Namen Leonardi. Vittorio Leonardi. Anerkannter Chirurg und ehemals Abgeordneter. In Spadas Kopf klingeln alle Alarmglocken.

Eigentlich müsste sie den fall ablehnen. Es gibt einfach keine Hinweise auf ein Verbrechen. Aber dieser Familienname – es ist ihre Nemesis.

Vittorio Leonardi starb also an einem Herzinfarkt. Fakt. Kurz zuvor wollte er sein Testament ändern lassen, dass auch seine Ex-Frau, Marinas Mutter, berücksichtigen sollte. Marina selbst hat – auf dem Papier – ihren Pflichtteil bekommen. Doch sie vermutet, nein, sie weiß!, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Und die Witwe des Doktors, ist nur schwer aufzufinden. Penelope Spada steht vor einem kniffligen Fall, wenn es denn überhaupt einen Fall gibt.

Gianrico Carofiglio führt die aufgewühlte Situation – Penelope Spada hat wirklich allen Grund aufgewühlt zu sein – mit weisen Worten und bedachtem Tun in ruhige Gewässer. Jede Ermittlung, jedes Gespräch, jeder Hinweis sind winzige Teile eines unüberschaubaren Puzzles, das Penelope Spada zusammensetzen muss. Gern würde sie zuerst die Ecken legen, dann den Rahmen zusammenfügen und sich dann Stück für Stück dem Mittelteil widmen. Doch binnen Bruchteilen von Sekunden befindet sie sich in einem Labyrinth aus Schweigen und Intrigen. Und wenn sie sich nicht allzu ungeschickt anstellt … wer weiß … vielleicht verschwinden dann auch die kreischenden Geister der Vergangenheit?!

Waldeck

Deutschland, Westdeutschland im Mai 1964. Die Euphorie über den Weltmeistertitel zehn Jahre zuvor ist dem Wohlstand der Gegenwart gewichen. Eine neue Generation ist auf dem Weg neue Pfade zu beschreiten und alte Zöpfe abzuschneiden.

Journalist Ferdinand Broich hat von einer Frau erfahren, dass sie ihrem Peiniger aus dem KZ begegnet sei. Für ihn, den in Ungnade gefallenen Autor vielleicht die Chance wieder in gesicherte Gefilde schippern zu können. Für die Frau leider der Weg ins Verderben. Als Broich sie interviewen will, ist sie bereits tot. Ist das vielleicht die Story seines Lebens? Der Zynismus dieses Gedankenspiels ist Broich durchaus bewusst. Doch erst vom das Fressen, dass die Moral, sagte schon Brecht.

Währenddessen macht sich eine junge Frau auf den Weg aus ihrem „wohlbehüteten“ Leben auszubrechen. Fast wortwörtlich. Silvia entdeckt Papiere, die nur eines beweisen: Ihr Vater hat eine mehr als dunkle Vergangenheit. Hastig packt sie zwei Koffer, schnappt sich die Aktentasche, die sie versteckt hat und kauft sich eine Zugfahrkarte.

Waldeck soll der erste Ruhehalt auf ihrer reise werden. Sie hat gehört, dass auf der Burg im Hunsrück ein Musikfestival stattfindet. Dort erhofft sie sich die ersehnt Ablenkung.

Andernorts hat man die Hosen gestrichen voll. Zwei Männern sind nicht gerade erfreut über das Tun des jeweils Anderen. Man hätte vorsichtiger sein müssen. Sich nicht erwischen lassen dürfen. Die Tat ist schrecklich genug. Aber einen Augenzeugen entwischen zu lassen … das kann böse enden.

Jürgen Heimbach spinnt in seinem dritten Roman über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein dichtes Geflecht aus Angst, Hoffnung, Gier, Verrat, falschem Pflichtgefühl und ungebremster Aufbruchsstimmung. Das Festival auf der Burg Waldeck gab es tatsächlich von 1964 bis 1969. Folksänger, Liedermacher nannte man das damals noch. Eine Generation von Künstlern weigerte sich im Tralala der Zeit einzuordnen und machte mit harschen Texten auf die Probleme der Zeit aufmerksam. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt, ja sogar Katja Ebstein und Reinhard Mey sind bis heute in aller Munde. Die Zeit vor 45, wie man es fast schon neutral beschrieb, war noch nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil. Die braunen Schergen hatten es sich in der Demokratie gemütlich gemacht. Jürgen Heimbach führt im Nachwort auf, dass fast jeder zehnte Zahnarzt aktiv bei der SS war. Sie selektierten in den KZs, stahlen das Zahngold und waren rührige Mitglieder des Regimes. Die Angst davor, dass ihre Tarnung im neuen Deutschland auffliegt, wurden sie nie los. Und was machen betroffene Hunde?… Sie bellen. Manchmal beißen sie sogar.

Die Spannung im Buch lebt vom Vorwissen des Lesers. Die Unerträglichkeit des Unwissens ist der Spannungsbogen, der bis zum Ende radikal durchgehalten wird. Vermutungen schweben über jedem Umblättern und die Erlösung ist wie ein Befreiungsschlag. Die Krimireihe von Jürgen Heimbach – jeder Roman ist für sich eine abgeschlossene Geschichte, doch die Reihung der Ereignisse lässt durchaus die Vermutung nahe liegen, dass man es hier mit einer Reihe („Die rote Hand“ gefolgt von „Vorboten“) zu tun hat – wird fortgesetzt. Man kann sich ja schon mal ein paar Gedanken machen… Eines steht jetzt schon fest: Viele kleine Geschichten türmen sich fast unmerklich zu einer großen umfassenden Geschichte auf, dessen Faszination man sich einfach nicht entziehen kann.

Superhits der Showa-Ära

Japan kann sich zweier Autoren rühmen, die sich den gleichen Namen teilen: Murakami – zwei mit dem perfekt ausgeglichenen Verhältnis von Vokalen und Konsonanten. Und doch so unterschiedlich. Während der Eine – Haruki – mit blumigen Worten der weiten Welt wie eine Sonne erscheint, in dem er Japans Kultur erklärt, ist Ryū eher der kleine Teufel, der aus der Erde herausbricht und mit brachialem Heavy-Metal-Sound den Dreck der Gesellschaft nach Oben wirbelt, um noch mehr Kultur zu zeigen. Seine Bücher sind keine Sinfonien, sie sind orchestrale Wuchtbrummen, die lange die Synapsen zum Schwingen bringen.

Apropos gleiche Namen und ausgewogenes Verhältnis von Vokalen und Konsonanten: Midori, so heißt sie und sie und sie und sie und sie und … sie auch. Ja, sechs Frauen, alleinstehend, alle heißen Midori. Ihnen gegenüber stehen sechs junge Männer – zum Glück für den Leser haben sie unterschiedliche Namen. Ishihara, Yano, Sugiyama, Katō, Sugioka und Nobue sind echte Taugenichtse. Die Typen, bei denen man die Straßenseite wechselt, wenn sie ins Sichtfeld geraten. Gelangweilte, antriebslose Gestalten, die nur Unfug im Sinn haben. Was die beiden Halbdutzende verbindet ist Karaoke. Die Jungs verkleiden sich, trashy, die Frauen haben mehr Gefallen an dem gemeinsamen Singen. Die Jungs reiben sich auf an den unzähligen Gedanken, was sie alles machen könnten. Den Willen haben sie ja schon. Böse Gedanken, schreckliche Willensbekundungen – bisher blieb es jedoch bei den Gedankenspielen.

Es ist wieder einmal soweit. Karaoke. Die Jungs organisieren – fast schon militärisch – ihren Abend. Sie bestimmen, wer die Technik organisiert, wer als Fahrer nüchtern bleiben muss und so weiter. Der Abend am Strand verläuft wie immer: Singen, rumalbern, sich an die Nachbarin von gegenüber erinnern, die sich so grazil aus ihrer Kleidung schält, sich haarklein vorstellen, wie sie sich ihren Körper einseift – die Jungs sind in freudiger Erwartung dessen, was nie passieren wird. Nur Sugioka ist am nächsten Morgen immer noch in der Stimmung der Nacht. Da wird selbst eine alte Frau zum Objekt der Begierde. Und schon ist es passiert. Ein anzügliches Nähern. Einfach nicht aufhören können. Eine blitzende Klinge. Und schon liegt die Frau am Boden. Blut umschließt ihren leblosen Körper.

Midori ist tot. Aus den sechs Midoris wie aus heiterem Himmel ein Fünferpack geworden. Und dieses Fünferpack hat es in sich. In Windeseile werden die biederen Damen zu fünf Fingern einer Faust, die kein Erbarmen kennt. Wie ausgewechselt beginnen sie zu recherchieren. Und sie sind gut! Schon bald haben sie einen Verdächtigen. Und wo ein Verdächtiger ist, ist auch ein Zweiter. Eine rauschende Rachejagd beginnt. Eine Jagd wie sie nur von einem Autor geschrieben werden kann: Ryū Murakami.

Love letters

Was wäre eigentlich, wenn Virginia Wolf und Vita Sackville-West heute leben würden? Sie würden sich heutzutage auf einem Charity-Event kennenlernen, wo sich die C-Promi-Garde mit der D-Kategorie ablichten lässt, weil sie so mehr Follower generieren würden. Hinter vorgehaltener Hand würde eine Viertelfinalteilnehmerin einer Casting-Show oder ein Teilnehmer bei einem menschenverachtenden Reality-Format mit einem leichten Grinsen das Gerücht verbreiten, dass sie und sie, Virginia und Vita

– die Namen würden schon mal zu den TV-Formaten passen … – etwas miteinander hätten. Eine hektisch sprechende Moderatorin würde aus ihrem „Was ist denn da passiert?“-Monolog eine Sensation ankündigen. Und die beiden selbst? Sie würden elegant, aristokratisch, gelangweilt den bunten Mikrofonen und den kreischenden Zurufen der Fotografen die kalte Schulter zeigen.

Denn sie haben sich, haben einander, haben ihre Gatten, Freunde, Geschäftspartner (oft in Personalunion) und würden trotzdem schwitzen wegen der vermeintlichen Hetzjagd. Doch im Vergleich zu damals – Virginia Wolf und Vita Sackville-West lernten sich 1922 bei einem Dinner kennen – wäre die Hetzjagd nach ein, zwei Wochen vorüber. Bis, ja bis sie sich wieder öffentlich zeigen (vielleicht sogar gemeinsam?!) und das Getuschel von Neuem beginnt.

Was hätten sie dann noch? Ihre Social-Media-Kanäle, in denen sie in wohlgewählten Worten auf die Missstände in der Gesellschaft hinweisen. Vielleicht würden sie die Regenbogenfahne schwenken, was ihre Partner ungewollt in die Regenbogenpresse ziehen würde. Würden die beiden gendern?

Oder würden Virginia Wolf und Vita Sackville-West den abgemagerten Promiklatschreporterinnen und den leicht zu Übergewicht neigenden Promireportern (das ist eine ganz subjektive Einschätzung, aber passt irgendwie ins Bild, oder?!) frontal entgegentreten und Gegenfragen stellen, die jeden Unterton entlarven?

Ach es wäre ein Fest für alle, die die beiden Autorinnen für ihr Tun verehren! Zum Glück waren die Zeiten als die beiden sich ihre Liebe in unzähligen Briefen und Tagebucheinträgen gegenseitig versicherten anders. Geschliffene Worte, erhabene Sehnsucht, feuriges Verlangen und schnippige Bemerkungen ohne dabei bewusst verletzen zu wollen. Dieses Buch ist ein meisterhaftes Beispiel dafür, das Liebe und Zuneigung laut und leise, offen und verborgen, zart und roh zugleich ist – die Außenwelt darf zusehen, aber nicht eingreifen. Zwei unabhängige, starke Frauen, die nicht müde werden in ewiger Verbundenheit getrennt und zusammen jeglichen Konventionen zu trotzen!

Im Dienst des Irdischen

China, die Volksrepublik und Religion – jaajjjeeiinn. Irgendwie durchaus eine logische Verbindung, andererseits auch wieder nicht. Es ist kompliziert. Und so sollt man sich diesem Buch auch nähern. Klar, China, Asien, Buddhismus – die Verbindung ist eindeutig da. Und dann die monströsen Parteitagsbilder der Kommunistischen Partei, wenn im Takt dem Vorsitzenden gehuldigt wird – das ist so gar nicht buddhistisch.

Religion ist in China überall vorhanden, so wie hierzulande der christliche Glaube und seine Sichtbarkeit nicht zu übersehen sind. In China hingegen gibt es stellenweise Tempel, die nicht historisch gewachsen sind, sondern moderne Bauten sind (ja, die gibt es auch in unseren Breiten), sondern von Firmen erbaut wurden. Und deren Größe die historischen Tempel um ein Vielfaches übertreffen. Also, China und Religion ist doch nicht so verwunderlich wie so mancher Dauerskeptiker es glauben mag.

Hans-Wilm Schütte reist durch ein China, das ohne rasanten Fortschritt nicht überlebensfähig ist. Das Land lebt vom selbst auferlegten Image des enormen Aufschwungs.

Als Erstes fällt im Buch die üppige Farbenpracht der Abbildungen auf. Gold soweit das Auge reicht. Festgehalten aus unterschiedlichen Perspektiven. Und erst die Erläuterungen! China ist gemessen an der Zahl der Gläubigen die Nummer Eins im buddhistischen Lager. Neben der Pracht der Bilder stellt Autor Hans-Wilm Schütte die Geschichte und Tradition in den Fokus. Strömungen innerhalb des Buddhismus sind oft stellenweise ein Dorn im Auge der Religionshüter sowie der Machthaber im Reich der Mitte.

„Im Dienst des Irdischen“ ist ein tiefer Einblick in den Alltag der Buddhisten in China. Tempel mit gigantischen Ausmaßen, daneben bescheidene Rituale, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Besinnliche Bilder und ausufernde Goldbeschau. Propaganda und reine Lehre. Wer sich auf diese Reise einlässt, erlebt Seite für Seite ein Abenteuer nach dem Nächsten. Unter den Reisebildbänden nimmt dieses Buch einen ganz besonderen Platz ein, und zwar auf den vorderen Plätzen!