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Jahresendzeitgrüße eines maritimen Zeitgenossen

 

Zur Weihnachtszeit bekommt man heutzutage gern mal über die sozialen Medien unmotivierte und unpersönliche Grüße, garniert mit einem Bild/dem ersten Treffer einer Suchmaschine, in der allen eine gesegnete Zeit gewünscht wird. Nichts Persönliches – so viel zu den „sozialen“ Medien. Endzeitstimmung.

Und dann gibt es die Grüße, bei denen man sich wie selbstverständlich weigert sie nach den freien Tagen dem Recyclingkreislauf zu übergeben. Handgemachtes. Selbst Erdachtes. Mit Raffinesse gestaltete PERSÖNLICHE Grüße. Und so was gibt s in diesem Buch!

Niko Pross ist Arzt… und seefahrtbegeistert … und Künstler. Ein Strich hier, ein Strich da, und fertig ist eine stimmungsvolle Karte, die man sich gern auch außerhalb der besinnlichen Tage noch das eine oder andere Mal anschaut.

Seit über vierzige Jahren macht Niko Pross das nun. Er malt maritime Jahresendzeitgrüße und verschickt sie. Das lag es vielleicht nicht unbedingt nahe ein Buch zu gestalten – er musste überredet werden. Und dennoch ist eine kunstvolle Chronik der vergangenen fast vierzig Jahre entstanden.

1988 beginnt dieses Buch. Jedes Jahr eine Karte mit Motiven, die nicht nur Seemänner ins Schwelgen geraten lässt. Und jetzt kommt der gewisse Kniff, mit dem dieses Buch eben nicht nur Kunstinteressierte oder alte Seebären begeistert. Jedes Kapitel wird mit historischen Ereignissen garniert. Rückblick und Kunstgenuss in Einem.

Und wer auch nur ein bisschen geschichtliches Verständnis und Gedächtnis besitzt, kommt schnell darauf, dass der Beginn des Buches in die Zeit der großen Umbrüche fällt. 1988 – da bröckelt so einiges. Unter anderem der Eiserne Vorhang, der im Folgejahr endgültig der Schrottpresse übergeben wird. Aber auch das Geiseldrama von Gladbeck, bei dem Polizei und Presse derart überfordert waren, dass sie Fehler am laufenden Band produzierten. Da kommt ein Fels in der Brandung wie das Haus der Reederei F. Laeisz gerade recht. Diese Reederei betreut unter anderem die Polarstern, ein Forschungsschiff, das bei der Erforschung des Klimawandels einen entscheidenden Beitrag liefert.

Und wer erinnert sich noch an Dolly? Das Klonschaf. Das war … wann`? 1996. Das Jahr, in dem Niko Pross seinen Jahresendgruß mit einer Nacht ohne Finsternis gestaltet. Die Zeichnungen haben keinen Bezug zu aktuellen Ereignissen, das auch nicht nötig. Er ist keine Chronist, sondern einfach ein begeisterter Künstler, der dem Jahresausklang einen gebührenden Rahmen verleihen möchte. Und das gelingt, Seite für Seite. Die Chroniken haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind ganz subjektive Erinnerungen. Das und vor allem die eindrucksvollen Zeichnungen machen dieses kleine Buch zu einem echten Hingucker!

Warum ist Weihnachten am 7. Januar?

Reizthema Religion. Für die Einen unverzichtbarer Teil ihres Lebens, für die Anderen unverzichtbarer Teil ihrer Lebenseinstellung. Die Gründe auf beiden Seiten sind so unterschiedlich wie die Religionen selbst. Missverständnisse sind immer vorprogrammiert, weil Religionen Leitfäden sind und die Hüter dieser Leitfäden sie meist auch „nur“ interpretieren können. Da ist es wichtig einmal genauer hinzuschauen.

Wolfgang Reinbold tut dies in seinem Podcast, der es mittlerweile auch ns lineare Fernsehen geschafft hat. Das best of ist nun – bereits zum weiten Mal – in einem Buch zusammengefasst.

Besonders in der Weihnachtszeit kommen in unseren Breiten wieder verstärkt religiöse Rituale in Mode, man hört so einiges hier und da – aber bei der Einordnung – warum, weshalb, wieso? – hapert es bei den meisten. Wer weiß schon warum Gold, Weihrauch, Myrrhe von den Heiligen drei Königen als Geschenke mitgebracht wurden?! Und wie viel hat eigentlich Halloween mit christlicher Lehre zu tun? Und was ist ein Segen, im eigentlichen Sinn?

Das geht’s schon los. Worte, die jeder kennt, sicherlich auch benutzt. Aber! Den sinn dahinter kennen nur wenige. Dieses kleine Buch – reichlich einhundert Seiten – trägt wahrscheinlich mehr zum Verständnis der Religionen bei als so mancher Interpret der Religionen.

Da immer mehr Religionen zum Alltag gehören, werden in diesem Buch nicht nur die vorherrschenden Religionen und ihre Traditionen vorgestellt, sondern auch Religionsgemeinschaften besprochen, die man vielerorts nur dem Namen nach kennt. Aleviten, Eziden, Bahai. Gehört – ja, Wissen – mmmmh, wahrscheinlich weniger.

Natürlich kann man das Buch hintereinander weglesen wie einen Roman. Doch schon bald wird man merken, dass doch nicht alles im Bewusstsein stecken geblieben ist. Also empfiehlt es sich, das Buch häppchenweise zu genießen. So liest man an einem Tag von Abraham, Chanukka und König Charles und hat schon einen weiten Bogen geschlagen.

50 Museen in Wien, die Sie gesehen haben müssen

Wien ohne Museumsbesuch ist möglich, aber … irgendwie auch wieder nicht. Die Stadt atmet an jeder Ecke royale Geschichte aus. Man kommt nicht umhin, doch mal die Nase in das eine oder andere Museum zu stecken. Man muss sie ja auch nicht suchen.

Allen voran die Albertina. Das Museum für alle, die vor allem vor Gemälden tief in sie eindringen können. Zentral gelegen, ist das Museum nicht nur Regenschutz an Schmuddeltagen, sondern und vor allem ein Augenschmaus für jedermann. Allein schon Monets Seerosen fesseln so manchen Durchgangsbesucher für etliche Minuten.

Gleich um die Ecke wird’s übersichtlicher – die Albertina kann auf einen Fundus im siebenstelligen Bereich zurückgreifen. Das Globusmuseum mag um einiges kleiner sein, doch die elegante Präsentation in den teils deckenhohen Vitrinen lässt Fernweh aufkommen. Und im Erdgeschoss ist die gesamte Welt versammelt. Denn befindet sich das Esperanto-Museum. Erstaunlich wie präsent die künstliche Weltsprache sich darstellen lässt.

Was wäre Wien ohne kaiserliche Pracht?! Nicht zu übersehen sind das Kunst- und das Naturhistorische Museum. Prachtbauten, die traditionelle Darstellung der Objekte im modernen Gewand vereinen. Beide gehören zu Wien wie Donau und Schnitzel.

Dieser Museumsband verbindet informativ und sehr gut handhabbar das Offensichtliche, Bekannte mit dem leicht versteckten. Wer weiß schon, dass Wiener Aktionismus und ein Kindermuseum (wo nun wirklich niemand meckert, wenn man Kunst anfasst) ebenso zum Stadtbild gehören wie Uhrenmuseum und Illusionen, die einen fast vergessen lassen, dass man sich in einem Museum befindet – sofern man dies möchte.

Wer Wien schon kennt, war garantiert schon in einem der zahlreichen Museen. Sie gehören einfach zu einem Wientrip dazu. Doch die kleinen, versteckten Kleinode machen diesen handlichen Band zu einem unverzichtbaren Begleiter. Und oft ist es erstaunlich nah bis zum nächsten Schauerlebnis. Die klare Gliederung und die kurzen ausreichenden Infos zur weiteren Recherche sind ein echter Anker auf dem voller Attraktionen steckenden Wiener Pflaster.

Vieles hat man vielleicht schon mal gehört, doch so recht weiß man dann doch nichts darüber. Die Texte im Buch sind Ratgeber, Appetitmacher und Wegweiser in Einem. Von Kaffee über Militärgeschichte bis zu Musik – auch hier gilt wieder: es geht nicht ohne! – ist alles dabei. Stellt sich nur die Frage wie viele Museen schafft man in einem Urlaub? Wie viele Besuche sind nötig, um Seite für Seite aus dem Buch zu besuchen? Denn eines steht fest: Man will sie alle sehen!

Dog Star

Blackie ist weg und mal wieder da. Weg aus der Besserungsanstalt. In der war er, weil … ja, das ist erstmal unerheblich. Jedenfalls ist er weg. Einfach so. Schnappt sich seine Gitarre und läuft los. Immer der Sonne entgegen. Was so poetisch klingt, ist einfach nur eine Wegbeschreibung. Er springt auf einen LKW. Lässt sich treiben. Um der Poesie dieses „sich die Freiheit um die Nase wehen zu lassen“ noch mehr die Intensität zu klauen, lässt Donald Windham die zärtlichen Versuche mit der Gitarre ein wenig Romantik aufkommen zu lassen im Ruckeln des LKWs ersticken.

Blackie will heim. Heim bedeutet für ihn allerdings nur dorthin zu gehen, wo seine Mutter wohnt. Die ist sichtlich überrascht ihn zu sehen. Fragt aber auch nicht weiter nach, was ihn wieder zurücktreibt. Die Besserungsanstalt anzurufen, um den Verlust der Einrichtung als Bereicherung ihres eigenen Lebens zu erklären, kommt ihr aber nicht in den Sinn. Blackie ist halt wieder da. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Whitey ist der Grund warum Blackie ausgebüchst ist. Whitey, der Junge, der allen Respekt einflößte. Groß, stark, durchsetzungsfähig. Das hat Blackie imponiert. Doch Whitey – wer’s immer noch nicht kapiert hat: Gegensätze ziehen sich an. In diesem Fall in jeder Hinsicht – war mehr als nur ein Leidensgenosse in der Besserungsanstalt.

Und nun ist Blackie zurück. Heimatliche Gefühle kommen gar nicht erst auf. Alles um ihn herum scheint in Gleichgültigkeit zu versinken. Empathie, Zuneigung oder gar Liebe ist vollkommen aus dieser trostlosen Gegend verbannt. Kindheitserinnerungen als ausgelassene Spiele draußen – drinnen gab’s ja nichts, an dem man sich erfreuen konnte! – sind blasse Reflexionen einer Zeit, die es nie zu geben schien. Blackie ist wie ein Gast ohne Attribute. Willkommen oder nicht willkommen spielt keine Rolle. Er ist da. Und damit muss es auch reichen. Wer ihm Liebe entgegenbringt, wird von ihm mit Gefühlskälte zurückgegrüßt. Blackie will nur eines: Ein Leben führen. So mit Job und so. Mit Haus und so. Mit Anhang? Naja, vielleicht.

Donald Windham zeichnet ein Bild einer emotional verkümmerten Umgebung und Gesellschaft. Alle, was an Gefühlen zur Sprache kommt, ist kein Werben um Zuneigung, sondern um Anerkennung. Niemand schient in der Lage zu sein sich selbst zu erkennen. Es geht nur darum irgendwie irgendeinen Platz zu finden. Das Glück ist eine launige Diva. Das hat Blackie längst erkannt. Auch wenn er es sicher nicht so poetisch ausdrücken würde. Sein Funken Hoffnung ist die Tatsache, dass er sich noch nicht ganz aufgegeben hat. Er will vorankommen. Warum und wie, das ist ihm schleierhaft. Festgefahrene Strukturen geben ihm den Halt, der er nicht zu finden wagt. Das Buch erschien in einer Zeit, in der der „Fänger im Roggen“ die Literaturszene gehörig durchschüttelte. „Dog Star“ stößt nicht ins selbe Horn, sondern ist in seiner nur oberflächlichen emotionalen Verkümmertheit viel intensiver.

Zwei Menschen

Was ein Urlaub?! Mehrere Monate Rom. In den 60ern. Als Amerikaner. Forrest und seine Frau genießen die Zeit in der Ewigen Stadt … nicht. Nicht im Ansatz! Sie nörgelt, er lässt es zu. Es gibt keinen Grund, keine gründe für den Streit, den anhaltenden Zwist. Sie reist ab. Er ist … irgendwas zwischen konsterniert und erleichtert. Wobei Letztes doch die Oberhand gewinnt. Sie reden noch miteinander. Schreiben sich. Sie hält ihn über den Stand der Familie – sie haben zwei Töchter – auf dem Laufenden. Doch mehr ist da nicht (mehr).

Forrest war Broker in New York, stammte aus dem Mittleren Westen. Für ihn war New York mit all seinem Trubel die große weite Welt. Jetzt streift er durch Rom. Sitzt in Cafés, beobachtet Leute. Auch einen Jungen. Der ist ihm schon einmal begegnet. Er hat ihn schon einmal gesehen. Hier kommt Donald Windhams unglaubliches Gefühl für Sprache mit voller Wucht zum Einsatz. Er könnte jetzt eine herzzerreißende, von unerfüllten Sehnsüchten zerfleischende Gier heraufbeschwören oder sich in endlosen Gefühlsduseleien ergehen. Er belässt es bei fast nüchterner Betrachtung. Forrest spricht den Jungen an. Nimmt ihn mit…

Marcello ist Siebzehn. Ein Alter, in dem die Welt ihn nicht versteht. Die Welt ist in allernächster Nähe vor allem sein Vater. Er ist der Ernährer der Familie und bestimmt somit alles. Alles! Ein Patrone reinsten Ausmaßes. Die verständnisvolle Mama tut, was in ihrer Macht steht, um ihrem Nachwuchs die Auswüchse dieser Macht hinfortzufegen. Das klappt mal besser, mal weniger gut. Bildung für die Mädchen und Arbeit für den Sohn: Nein und Ja. So sieht es im Leben der jungen Heranwachsenden aus.

Auch Marcello irrt durch die Stadt. Party hier, Party da. Und den Kopf voller Pläne. Und vor allem voller Fragen.

Auch wenn Forrest und Marcello zig Jahre trennen, so trommeln diese Fragen wie ein steter Hammerschlag gegen alles, was lärmt. Es wird ein Jahr, das ihnen die Augen öffnen wird. Türen werden sich öffnen. So mancher Schleier wird durchlässiger. Happy end inklusive.

Donald Windham ließ sich Zeit zwischen seinem Erstling „Dogstar“, der einschlug wie eine Bombe und selbst Thomas Mann zu Schwärmereien hinreißen ließ. Mitte der 60er Jahre barg auch diese Storyline um einen verheirateten Strohwitwer abroad und einem sinnsuchenden Teenager Zündstoff für eine skandalträchtige Betrachtung. „Zwei Menschen“ ist so neutral verfasst, fast komplett befreit von jeglicher Emotionalität auf den ersten Blick, dass Kritiker von vornherein mundtot gemacht wurden. Es sind „nur zweihundert Seiten“. Doch jede Seite berauscht den Leser auf wundersame Weise.

Anderswo atmet man, hier lebt man

Wie war das noch, damals, in Paris? Oder: Wie war das damals in Paris? Isolde Ohlbaum war – damals – in Paris. Als Au pair. Saugte die französische Lebenskultur und mit ihr die alles überstrahlende Hauptstadt auf. Doch nicht der Eiffelturm und die Prachtboulevards sind ihr vor allem in Erinnerung geblieben. Es sind die Spaziergänge, die Lesenachmittage, die Kinoabende, die ihr im Gedächtnis geblieben sind. Das viel strapazierte Wort von Freiheit trägt sie nicht wie eine Fahne vor sich her. Sie hat sie erlebt, diese liberté.

Ihre Fotos lassen Träume erstehen. Entspanntes Leben wohin das Auge blickt. Und dann diese Kurzportraits! Menschen, die Frankreich präsentieren. Erinnerungen an Frauen und Männer, die die französisch-deutsche Freundschaft symbolisieren wie nur wenige. Wilhelm Hausenstein zum Beispiel. Generalkonsul in Paris, von Adenauer ernannt, von den Nazis verbannt. Er ebnete unter anderem mit den Weg zu der Versöhnung von Deutschen und Franzosen.

Es sind die kurzen Absätze, die – zusammen mit den Portraitfotos und den Stadtansichten – ein Bild der Traumstadt Paris zeichnen, das so nachhaltig in den Köpfen der Leser haften bleibt. Es sind mehr als nur bloße Erinnerungen an Zeiten, die uns in Schwarz-Weiß träumen lassen. Es sind Alltagsszenen voller Eleganz und Nostalgie. Isolde Ohlbaum hat die unruhigen Zeiten der späten Sechsziger miterlebt. Und damit sind nicht die Straßenschlachten gemeint. Die Nouvelle vague war ihr näher als die Demonstranten. Weil hier wahrhafte Veränderungen nachhaltig gestaltet wurden. Steine werfen kann jeder. Veränderungen anstoßen und weiterzuverfolgen, dazu braucht man Courage und Ideen. Die fand sie in den Kinos und den Schriften. Den Verfassern dieser Schriften ist dieses Buch ebenso gewidmet wie denen, die immer noch träumen wollen.

Ein kleines Buch, das in seiner Einzigartigkeit jedem vom Stuhl in den Parks von Paris haut. Und das bis heute!

Piemont

Feinschmeckern läuft schon bei den Untertiteln das Wasser im Mund zusammen: Albi – mmmh Trüffel, Barolo – oh ja, schenken Sie gern noch einmal nach. Nur die Piemont-Kirsche – die sucht man vergebens. Die gibt’s nämlich gar nicht!

Das gibt’s doch nicht – wird man noch öfter sagen, blättert man sich voller Ungeduld durch den Reiseband. Man beginnt bei Land und Leuten, was in einem Trescher-Reisebuch auch bedeutet Persönlichkeiten ausführlich zu begegnen. Vom Schriftsteller Cesare Pavese über Umberto Tozzi bis hin zum Autor der heimlichen Hymne Italiens „Azzurro“ Paolo Conte. Alle stammen aus dem Piemont.

Und dann kommt das Kapitel, das einem die Reiselust ins Unermessliche steigern lässt: Küche. Cucina. Das ist im Piemont reichhaltig … in jeder Hinsicht. Bis auf eben die berühmten Piemont-Kirschen. Nüsse, Nudeln, Naschereien. Ein Füllhorn, ach was, eine ganze Armada an Füllhörnern präsentiert sich an jeder Ecke und verführt. Auch schon beim Lesen.

Natürlich nimmt Turin den meisten Platz im Buch ein. Ein Industriestadt, die vielen erst auf den zweiten Blick ihre Pracht vor Augen führt. Palazzi und breite Prachtstraßen zeugen von der Macht, die von hier ausging. Turin als Hauptstadt des Piemonts vereinnahmt den Besucher gnadenlos für sich. Die ehemaligen Hausherren, das Haus Savoyen ist weithin sichtbar durch die Prachtbauten immer noch nicht wegzudenken.

Saluzzo hingegen muss man schon suchen. Und vor allem besuchen. Denn hier herrscht hauptstädtisches Flair im Kleinen. Die Stadt hat immer noch das Potenzial Turin den Rang abzulaufen. Doch die Savoyer entschieden sich für Turin. Saluzzo ist ein Kleinod, das nur eineinhalb Stunden Zugfahrt entfernt südlich von Turin, den Besucher mit seinem Charme in Empfang nimmt.

Ob nun in luftigen Höhen im Aostatal wandern oder durch die Weinberge wandeln oder gar bis zum Lago Maggiore seinen Erholungsurlaub ausdehnen – mit diesem Piemont-Reiseband ist man bestens gerüstet ohne dabei auf angenehme Überraschungen verzichten zu müssen. Und dass Alba mehr als nur Trüffel zu bieten hat, dürfte so manchen Leser/Besucher verblüffen.

Wer Schatzsuchen liebt wird hier schnell fündig. Mondovi, Valle Grana, Langhe – allesamt keine Orte, die man sofort parat hat, wenn jemand das Piemont ins Spiel bringt. Doch wer diese Worte besucht hat, wird noch lange danach von seinen Erlebnissen zehren und andere mit seinen Erzählungen anstecken.

Einigelzeit

Boah, was ist denn das für Wetter?! Da schickt man keinen Hund vor die Tür! Das igelt man sich in den eigenen vier Wänden ein und liest ein Buch. Dieses Buch! Auch wenn der Titel beim ersten flüchten Draufschauen etwas sperrig wirkt. Auf den zweiten Blick ist alles klar. Ein-Igel-Zeit.

Cesare Pavese liebte seine Stadt – Turin – wie kein anderer. Ihr setzte er mit jedem seiner Texte ein kleines Denkmal. Dem Altweibersommer konnte er unendliche Freude abgewinnen. Rudyard Kipling – auch wenn in seiner Geschichte von der Erfindung des Gürteltiers der Herbst kau meine Rolle spielt – lässt die trüben Winde und das Alltagsgrau mit einem Mal verschwinden, wenn er ungestüme und leichtgläubige Leopard den gewieften Igel und der ebenso gewitzten Schildkröte intellektuell unterlegen ist. Mit Wilhelm Busch kommt die Leichtigkeit ins getrübte Gemüt. Robert Louis Stevenson genießt es die neue Farbenpracht in sein Herz zu lassen.

Und so liest man sich durch die Herbstgedanken von Eduard Mörike und Friedrich Hebbel über Hoffmann von Fallersleben und Adalbert Stifter bis hin zu Carson McCullers und Ernest Hemingway. Das ist ein Herbst! Da machen einem die dicken grauen Wolken nichts mehr aus. Im Gegenteil: Man freut sich, wenn es draußen so richtig ungemütlich ist. Denn dann ist Einigelzeit.

Und wenn dann einmal der herbst mit all seiner Pracht wiederkehrt, ist es auch nicht schlimm. Denn dann erinnert man sich beim Spaziergang in feucht—frischer Luft an die gelesenen Zeilen und zitiert tief im Inneren so manchen „Leidensgenossen“.

Der Herbst kann kommen. Das passende Buch ist schon da. Die dunklen Tage werden in ein sonniges Licht getaucht, so dass der Winter beruhigt Einzug halten kann. Pssst: Das Buch kann man in jeder Jahreszeit lesen! Und sei es nur, um sich insgeheim z freuen, dass der graue Herbst mit dieser Lektüre keine Chance haben wird…

Samsara

Das historische Setting ist bekannt: Die Unabhängigkeitsbewegung Indiens. Die handelnden Personen sind weltbekannt und teilweise unbekannt. Der Eine ist zum Begriff des gewaltlosen Widerstandes geworden. Trug stets weiß und eine Brille. Und er starb durch eine Kugel. Mahatma Gandhi. Der Andere musste wegen des Kampfes gegen die britischen Besatzer seine Heimat verlassen, ließ sich in den USA zum Agronomen ausbilden, bereiste den Erdball, lebte in Mexiko und starb friedlich in seinem Zuhause. Pandurang Khankhoje ist sein Name und selbst das deutschsprachige Wikipedia findet nur Seiten, in denen sein Name vorkommt.

Patrick Deville, der Weltreisende mit ausgeprägtem Hang zu Geschichte(n) erzählen, nimmt sich dieser beiden Figuren der Weltgeschichte an. Bei seien Recherchen machte ihm vor allem die Corona-Situation zu schaffen, in jeder Hinsicht. Ein weiteres Mal gelingt es ihm scheinbar spielerisch biographische Daten und Anekdoten zu einem festen Stoff zu verweben, der keinerlei Kritik an sich heranlässt.

Mal taucht ein Kämpfer auf, der nur mit Mühe marodierenden Schergen entkommt. Mal ist es eine russische Autorenikone, die geschickt mit dem Leben (in diesem Falle Gandhi) verwoben wird. Stets korrekt und niemals blind dem Effekt hinterher haschend. Das ist das Erfolgsrezept der Bücher von Patrick Deville, dessen Bücher die Weltengeschichte so einzigartig dem Leser näher bringen.

Der indische Unabhängigkeitskrieg wird bildhaft immer nur als langer Marsch ohne Gewalteinsatz dargestellt. Da lief einer vorneweg, der Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam predigte (und vorlebte) und somit das Bild eines ganzen Landes – und mittlerweile von mehr als einer Milliarde Menschen – immer noch prägt. Wie es dazu kam, wird selten bis niemals erläutert. Mit einer Whatsapp-Gruppe wird er das wohl niemals geschafft haben…

Pandurang Khankhoje ist hingegen kaum bekannt. Kampf hatte für ihn etwas mit Krieg zu tun. Waffen waren durchaus eine geeignete Wahl. Sein Er und Gandhi verfolgten dasselbe Ziel. Ein freies Indien, das sich geeint eine sonnige Zukunft selbst aufbaut.

Dieser historische Roman – ein reines Sachbuch ist „Samsara“ nicht – nimmt den Leser in die Hand in eine fast schon unbekannte Welt. Drückende Hitze, längst vergangene, verschwommen wirkende Zeiten und der enorme Faktenreichtum locken den Leser durch die präzise Sprache in historische Zukunftsvisionen, die wie Seifenblasen zerplatzt sind. Patrick Deville ist wie der Großvater auf dessen Schoß man sitzt und dem man unendlich bei seinen Geschichten zuhört. Das sanfte Wippen der Schenkel ist das Umblättern im Dickicht des Unwissens. Und der Duft der Ahnen wird dem umschriebenen Duft des unbekannten Landes gleich gesetzt. „Samsara“ ist wie eine historische Science-Fiction-Saga, der man sich nicht entziehen kann.

Leonard Cohens Stimme

„Um das Experiment mit Maisstärke, Wasser und einem Lautsprecher durchzuführen, spannen Sie Frischhaltefolie über die Membran des Lautsprechers und befestigen Sie sie gut mit Klebeband. Mischen Sie dann Maisstärke und Wasser in einem Verhältnis von etwa 2:1, bis ein zähflüssiger Brei entsteht. Gießen Sie dieses Gemisch vorsichtig auf die Folie und spielen Sie Musik mit starken Bässen ab. Die Vibrationen des Lautsprechers lassen die Stärke sich wie ein Feststoff verhalten und erzeugen faszinierende Muster und Formen auf der Membran, da das Gemisch eine nicht-newtonsche Flüssigkeit ist.“ Soweit die KI-Antwort auf die Stichworte Maismehl – Wasser – Lautsprecher. Soweit die Physik.

Und der ultimative Soundtrack zu diesem Experiment kommt aus den Tiefen des Bauchraums und aus Kanada.

In Caspar Battegay rufen das Timbre und die Texte wohl ähnliche Ergebnisse hervor. Das Prophetische in seinen Liedzeilen, die Wut, die Sanftheit von Leonard Cohen fängt er mit chirurgischer Präzision ein und hüllt sie in eine Sprachwolke, die dem großen Meister des lyrischen Impressionismus in nichts nachsteht. Auszüge seiner Lieder im richtigen Licht dargestellt, eröffnen selbst eingefleischten Fans eine neue Welt. Immer wieder trifft man auf Bekanntes und wird durch neue Sichtweisen mitten ins Licht geführt. Leonard Cohen bewegte zu Lebzeiten die Massen. Mit seinem Tod im Jahr 2016 nahm die Legendebildung richtig Fahrt auf. Er wird auf unabsehbare Zeit die Stimme mehrerer Generationen sein.

Hall und Rausch gehen bei ihm eine Symbiose ein, die den ganzen Körper in Beschlag nimmt. Schon beim Lesen keimt der unstillbare Wunsch noch einmal die Vergangenheit zurückzuholen als man das erste Mal diese Stimme hörte. Der Moment als eine kurze Wortfolge das Leben auf den Kopf zu stellen drohte.

Viele haben sich daran versucht Leonard Cohen zu analysieren. Oft war nur die Suche das Ergebnis. Caspar Battegay gelingt das, was vielen versagt blieb. Nämlich Leonard Cohen ein wirkliches Denkmal zu setzen, das neben der Legende besteht.

Es passiert so gut wie nie, dass man bei der gesamten Lektüre eines Buches leise vor sich hinsummt. Ein lang anhaltendes „Hallelujah“ oder ein nicht minder kurzer Dance (me) „to the end of love“ lassen sie Seiten an einem vorbeifliegen, so dass man Lust bekommt es gleich nochmal zu lesen. .