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Millionärsurlaub auf einer kommunistischen Insel

Was sind wohl die prägendsten und ältesten Erinnerungen, die ein Mensch haben kann? Es sind wohl die an die Oma und den Urlaub. Und erst die Erinnerungen an den Urlaub bei oder mit der Oma. Nur noch zu toppen, wenn man im Urlaub mit Mama, Papa, Geschwistern, Großeltern bei den Urgroßeltern ist. Maura Lonzari hat das Nonplusultra an Erinnerungen in diesem kleinen, so fröhlichen Büchlein festgehalten.

Anfang der Fünfziger ging es für die Dreijährige zum ersten Mal nach Lussinpiccolo, Mali Losinj, einer jugoslawischen Insel in der Adria. Das Heim in Triest glich schon Wochen zuvor einem Arsenal an Dringlichkeiten und erfüllten Wunschzetteln. Die Wartezeit, ob das Visum genehmigt wird – der Eiserne Vorhang war hier vielleicht durchlässiger als anderswo, dennoch nicht minder starr und widerstandsfähig – wurde mit Vorfreude, Organisationsexpressionismus und logistischer Präzisionsarbeit ausgefüllt. Und dann endlich. Ankunft in Lussinpiccolo. Streng wurde darauf geachtet, dass Neugierige und Ankömmlinge sich nicht sofort vermischten. Die kleine Maura wollte auch nicht mehr warten und umgehend mit der ihr noch unbekannten Uroma Ballspielen. Was die Oma mit Engelsgeduld und der ihr eigenen Überzeugungskraft zu verhindern wusste.

Zuhause in Triest war die Familie eine von vielen. Hier waren sie die Attraktion. Voll gepackt mit tausend Sachen, die das Leben schöner machen, und der Neugier auf das Leben der Anderen, die so nahe wohnen, dass man ihnen vom Küchenfenster fast zuwinken könnte, gepaart mit der Anspannung, was der zeitlich begrenzte Systemwechsel (eigentlich nur ein Hereinschnuppern) so alles mit sich bringt.

Die Jahre vergehen. Die Urlaube in Lussinpiccolo sind Routine geworden. Maura Lonzari wächst zu einer jungen Frau heran, die ihre Freiheiten auslebt. Mit Folgen. Und dann auch noch im Ausland. In einem Ausland, das Familie bedeutet, aber auch Abgrenzung ob der sichtbaren, unverrückbaren Unterschiede. Die Sommer, in denen sie unbeschwert sie selbst sein kann, sind ein lieb gewonnenes Ritual. Geplante Familienzusammenführung aus Zeit mit der Leichtigkeit der Jugend.

Dieses kleine Büchlein ist die ideale Urlaubslektüre. Nicht nur für die Adria. Die Hingabe, mit der die Autorin ihre Erinnerungen sich selbst noch einmal vor Augen führt, berührt ab der ersten Seite. Schnörkellos und absolut ehrlich vollführt sie einen Freudentanz, dem man sich nur anschließen kann.

Mein Vater, vielleicht

Es lag immer ein Schatten über der Erzählerin. Ein Schatten, der ihr die Sicht niemals verdunkelte, dennoch immer präsent war. Es war der Schatten ihres Vaters. Nun, da sich die Mutter den Ende ihres irdischen Daseins nähert, nimmt der Schatten immer öfter schärfere Konturen an. Ein Satz hier, eine Andeutung da. Sobald es konkret wird, blockt die Mutter ab. Bis ihr eines Tages ungewollt, ungeplant, doch erleichtert die Wahrheit herausrutscht: Der Mann, der als Vater die Tochter erzogen hat, ist nicht ihr Vater. Nicht ihr Erzeuger, um es genau zu sagen. Die Unschärfe der Vermutungen nimmt klare Formen an. Was nun?

Soll sie ihn suchen? Ihn ausfindig machen? Ihn zur Rede stellen? Warum? Was würde sich ändern? Doch nichts tun, ist auch keine Lösung. Die Legende, dass er auf der Straße zusammengebrochen ist und unter Fremden friedlich starb, ist ein wohlwollendes Bildnis, das ihr niemals Schmerzen bereitet hat. Soll sie Wunden an Stellen aufreißen, die bisher von jeder Pein verschont blieben.

Sie entschließt sich dem Vater näher zu kommen. Näher als sie ihm jemals war. Aber auf gar keinen Fall persönlich. Ihr Ausweg – wenn man es so bezeichnen will – ist dieses Buch: „Mein Vater, vielleicht“. Schatten und Licht begleiten von nun an sie und den Leser auf einer Spurensuche, die keine sichtbaren Spuren im eigentlichen Sinne hinterlassen wird. Es sind Spuren im Herzen, im Bauch, im Kopf, die Laura Forti in den Pfad des Ungewissen setzt.

Die Familiengeschichte ist stark von Religion geprägt. Die Familie ist jüdisch. Während der NS-Besatzung Italiens eine lebensgefährliche Situation. Die Mutter ist verliebt. Sie und der Mann an ihrer Seite leben in ständiger Gefahr. Als die Zeiten wieder besser werden, trennen sich die beiden. Sie telefonieren heimlich, haben ein geheimes Signal. Stehen ständig in Kontakt. Lauras Heranwachsen ist für ihren Vater, ihren leiblichen Vater kein Mysterium. Für alle anderen herum, ist er es umso mehr.

Laura Forti gehört zu den meist gespielten Dramatikerinnen im Ausland. Mit Leichtigkeit nähert sie sich einem Thema, das schwerer kaum wiegen kann. Es ist nur logisch, dass sie in der limone-Reihe des nonsolo-Verlages mit „Mein Vater, vielleicht“ eine gewichtige Rolle einnimmt. Das Leben im Moment bekommt mit diesem Buch eine bedeutende Komponente hinzugefügt. Kein rastloses Suchen, kein zu Tränen rührendes Finden, von Kitsch so gar keine Spur. Rational und dabei zugleich emotional tiefschürfend kreist ihre Vatersuche nur um den einen Gedanken nach Erlösung aus dem Kreislauf des ewigen Fragens.

Metamorphosen 62 – Il bel paese – Italien

Ich packe meinen Koffer: Ich nehme mit Kosmetikartikel, Wechselklamotten und ein Buch. Ein Buch, das mir mehr über das Land verrät, das mich fesselt, das Lust auf mehr macht. Doch welches? Italienreisende haben die Qual der Wahl. So reichhaltig das Angebot an Literatur, auch und vor allem hierzulande. Einen Klassiker von Boccaccio, oder doch etwas Modernes fürs Hirn von Pasolini, etwas aus der Ginzburg-Dynastie, etwas Spannendes aus einer Krimireihe … ach, die Auswahl ist schier unendlich.

Die Lösung ist ganz einfach: Hier. Metamorphosen. Band 62. Die Literaturzeitschrift für alle, die nicht genug bekommen können, denen das Neueste nicht neuest genug ist und für alle, die Inspiration brauchen. Für den Kurztrip reicht das Magazin aus. Für den längeren Aufenthalt ist es der aperitivo.

Und natürlich darf auch hier Boccaccio nicht fehlen. Ursula Menzer lustwandelt mit dem unfehlbaren Lustvermittler. Gabriele d’Annunzio – streitbar und in seinen Gedichten ein fast unschlagbarer Romantiker. Und auch zu Pasolini wird man in der Italienausgabe der Metamorphosen fündig.

Für alle anderen gilt: Italien ohne Literatur ist wie Pasta senza sugo. Ist möglich, aber … geschmacklos, farblos, freudlos. „Das schöne Land“ heißt der Titel von Ausgabe 62 in Deutsche übersetzt. Und Schönheit findet man auf jeder der 160 Seiten. Besonders, wenn man die Gedichte in Rein- und übersetzter Form sich oder anderen leise – wer’s mag und vor allem kann auch gern laut – vorliest.

Ligurien

Berge oder Meer? Diese Frage stellt sich hier, in Ligurien, nicht! Beides. Am besten gleich nebeneinander. Küstenstraßen, die dem Beifahrer ein Ah! oder an mancher Stelle ein oooohh! entlocken werden – das ist Ligurien. Doch das ist noch lange nicht alles. Idyllische Bergdörfer mit Eckhäusern, deren Kanten regelmäßig von Bussen geschrammt werden. Das Festival in San Remo, das immer noch Stars hervorbringt. Die Metropole Genua, die mit ihrer einzigartigen Architektur aufwartet. Strände, die dafür gemacht zu sein scheinen, um Wasser und Meer miteinander zu verbinden. Auch das ist Ligurien – und auch das ist noch lange nicht alles.

Sabine Becht und Sven Talaron kennen die vielleicht nicht zwingend versteckten, dennoch fast unbekannten Schätzchen der Region. Einfach mal nach Borgio Verezzi suchen, im Buch ist das Seite Eins-Eins-Null. Zweitausendeinhundert Einwohner, ein Info-Büro, und etwas mehr als eine Seite im Reiseband. Da liest man dann von hinkenden Ziegen, verstummender Hektik und einer Tropfsteinhöhle – macht schon beim Lesen Appetit.

Und so geht das weiter auf den fast vierhundert Seiten dieses Reisebandes. Die Landschaft erstrahlt vor dem Auge des Lesers. Unruhig blättert man sich durch Schluchten der Palmenriviera (ja, die Blumenriviera ist nicht die einzige Riviera, kraxelt auf Hänge der Cinque terre, bereist Städte deren Namen wie Donnerhall das Herz höher schlagen lassen. Und zwischendrin immer wieder kleine Haltepunkte. Gelbe Infokästen, die selbst Einheimische ein Staunen ins Gesicht zaubern wird.

Die ausgeklügelten Touren sind gespickt mit Augenschmaus und lukullisch ist Ligurien eine Offenbarung. Das pesto genovese ist da nur die Spitze des Genusses.

Ligurien ist ein bisschen wie die Rolling Stones. Schon immer da und immer wieder überraschend überraschend. Alles schon mal gesehen und doch reizt es den Reisenden immer tiefer einzutauchen. Hier erfindet sic die Geschichte immer wieder neu. Schritt für Schritt taucht man in eine Region ein, die ihre Reize offen zeigt. Man muss nur wissen, wo man ausgetretene Pfade verlassen sollte, um noch wirklich Neues zu entdecken. Das erfahrene Autorenteam Becht/Talaron ist für diese Art des Reisens der ideale Wegweiser im wahrsten Sinne des Wortes. Doch Vorsicht: Vor lauter Wissbegier auch mal den Blick aus dem Buch in die Ferne und das Naheliegende richten!

Lago Maggiore

Italien darf sich rühmen eine eigene Art des Reisens entwickelt zu haben: Italienreisen. Obwohl es vorrangig die Engländer waren, die diesen Begriff mehr oder weniger bewusst geprägt haben. Sie kamen, staunten und machten Italienreisen zu einem Must-Have. Geballte Architektur-Ensemble, grandiose Ausblicke, fantastische Küche – und wo geht das wohl am besten? Überall! Aber wo geht es noch ein bisschen besterer? Am Lago. Klar, am Lago ist es immer am schönsten. Und an welchem Lago am schönstesten? Am Lago Maggoire!

Ja, es ist eine Binsenweisheit mit orthographischen Ungereimtheiten. Aber wer einmal am Lago Maggiore tief eingeatmet hat, den Blick schweifen ließ, der weiß, was damit gemeint ist. Für alle anderen gibt’s dieses Buch als Appetitmacher.

Zum Beispiel Stresa – beginnen wir am Anfang, denn hierher kamen die Engländer zuerst. Sie sahen die Borromäischen Inseln. Sie blickten über den See, sahen die Berge, genossen die Sonnenstrahlen. Und errichteten Paläste, die heute als Hotels den Glanz der guten alten Zeit zum Besten geben. Heruntergezogene Mundwinkel sucht man hier vergebens. Alles ein bisschen edler, ein bisschen feiner, reiner und erlebnisreicher.

Eberhard Fohrer und Marcus X. Schmid gehen auf Entdeckungsreise rund um einen der beeindruckendsten Seen Oberitaliens. Vom Schweizer Nordufer – Locarno und Ascona verheißen noblesse und Verwöhnprogramm erster Klasse – bis in den Süden, vorbei am benannten Stresa und den idyllischen Borromäischen Inseln. Doch es gibt noch mehr zu sehen. So viel, dass man erstaunt ist, dass alles, wirklich alles(!), auf reichlich dreihundertfünfzig Seiten Platz findet.

Egal ob man nun das Nordufer bevorzugt, dem Süden noch ein Stück näher kommen will, oder Links und Rechts des Sees auf Erkundungstour geht, es kommt immer darauf an, wo man die ausgetretenen Pfade verlässt. Denn eines steht fest: Allein ist man hier nur selten! Besonders im Sommer. Umso wichtiger ist es, dass man sich auf ein geschultes Auge und unkomplizierte Wissensvermittlung verlassen kann. Die beiden Autoren kann man getrost als alte Maggiore-Hasen bezeichnen. So manche Ecke, so mancher versteckte Schatz wurde durch sie gehoben und dem Publikum zur Begutachtung dargeboten. Wer’s nicht gelesen hat, der läuft eben da lang, wo die Anderen auch langlaufen. Wer außergewöhnliche Orte braucht, um sich erholen zu können, dem steht eine dreihundertachtundsechzigseitige Entdeckungsreise bevor, die erst so richtig beginnt, wenn die letzte Seite, der letzte Abschnitt, der letzte farbig abgesetzte Infokasten, die letzte Info, die letzte Karte gelesen sind. Doppelt reisen – erst lesend, dann per pedes oder mobil. Auf alle Fälle wird es nicht langweilig!

 

Apulien

Fernab der Klischees von den typischen Rundbauten, den Trulli, dem immer warmen Badewetter und einer unüberschaubaren Anzahl von architektonischen Kostbarkeiten reist Reisebuch-Autor Andreas Haller durch einen Landstrich, der einen fast das Blinzeln vergessen lässt.

Da sind die großen Städte Bari und Lecce. Wer noch nicht dort war, bekommt schon nach wenigen Zeilen eine ziemlich exakte Vorstellung von dem, was da vor dem Auge erscheint, ist man schon bald in einer dieser Städte. Viel Hintergrundinformation für das, was im Vordergrund steht. Nicht nur in den gelben Kästen, die dem Leser Historie und Histörchen als Wegbegleiter und –bereiter dienen. Da ist für jeden was dabei. Tipps für die Unterkunft oder den schnellen und großen Hunger, Einkaufstipps – vor allem aber das komplette Programm für den Tag, um nichts zu verpassen. Jeder einzelne Abschnitt ist klar gegliedert, inkl. kleiner Hilfestellung wie sehr man dies oder das besuchen wollte.

Das Buch arbeitet sich von Norden nach Süden durch Apulien. Und dann immer im Wechsel von Küste und Hinterland. Da weiß man oft gar nicht wo man anfangen soll. Auch hier ist dieser Reiseband, immer hin schon die elfte Auflage, ein nützlicher Ratgeber. Denn wer nun wirklich gar keine Vorstellung hat, was er in Apulien besuchen möchte, liest sich einfach von Anfang bis Ende durch das Buch. Fündig wird man auf jeden Fall. Und Spannung und Vorfreude sind garantiert.

Dass am Anfang eines neuen Kapitels, das Buch ist in sechs Regionen unterteilt, schon die ersten Kurzzusammenfassungen wie kleine Appetithappen auf den hungrigen Leser warten, ist ein echter Segen. Besonders die Tipps zum Reisen vor Ort – wie gut kommt man denn nun von A nach B? etc. – sind echte Alleinstellungsmerkmale auf dem Reisebuchmarkt. Alles noch einmal kompakt zusammengefasst am Ende des Buches.

Bei all der Fülle an sorgsam beschriebenen Höhepunkten darf man nie aus den Augen lassen, dass das Buch der Wegweiser ist. Anschauen ist wichtiger, genießen ist Gesetz. Den Reiseband beiseite zu legen ist mindestens so frevelhaft wie ihn im Gepäck zu lassen. Griffbereit sollte er immer sein. Egal wie man unterwegs ist, per pedes, per Rad, mit dem Bus, dem Zug oder im Auto. Die lockere Sprache ohne dabei den Ernst des (Er-)Lebens aus dem Blick zu verlieren, passt in das Lebensgefühl an der unteren Rückseite des Stiefels. Wer A sagt, muss auch pulien sagen. Wer A sagt, muss auch ndreas Haller vertrauen. Er reiste 2024 mehrmals nach Apulien, um der Neuauflage das Neueste hinzuzufügen, Bewährtes zu aktualisieren und neue Wege zu beschreiten. Vor allem Pedalisten werden hier auf ihre Kosten kommen. Elf Wanderungen runden den Reiseband ab. Allesamt für jedermann zu bewältigen. GPS-Koordinaten im Buch sind mehr als nur bloße Festhaltepunkte zum Entlanghangeln. Und für Puristen gibt’s wie immer die faltbare Karte zum Herausnehmen und im Buch zahlreiche Karten und Pläne. Wer nun immer noch nicht weiß, was er in Apulien machen soll … dem ist … nein … der liest das Buch einfach noch mal.. Die Erkenntnis kommt garantiert!

Bitteres Blau – Neapel und seine Gesichter

Neapel sehen und … immer wieder zurückkommen, sich neu verlieben, das Kribbeln spüren. Maike Albath macht noch viel mehr. Sie saugt die Stadt auf, sie läuft sich von ihr aufsaugen. Sie trifft die, die schon lange nicht mehr da sind und die, die niemals von hier weggehen werden. Sie sieht Angst, aber auch die Hoffnung. Hoffnung worauf? Dass das Image der Stadt einmal ein anderes sein wird? Niemals! Der Charme der Stadt – ein von Teufeln bewohntes Paradies, wie Benedetto Croce sagte – baut auf den Anachronismus von Gut und Böse, von rau und sanft, von Verkommenheit und unendlicher Schönheit.

Wer einmal im Dezember-Nieselregen durch dunkle, enge Straßen ging, erlebt eine rohe Schönheit. Funktionalität stellen die Napoletaner selbst her. Und wenn man dann am Abend auf dem Bett liegt und den Tag Revue passieren lässt, wird einem bewusst, dass das Image der gefährlichen Stadt eben zu einem großen Teil ein Image ist. Ein Postkartenmotiv mit shabby chic. Und mit einer Seele, die keine Ruhe kennt.

Im Quartieri spagnoli ist der Fußball zuhause. Alle paar Ecken werden die Reviere mit Graffiti markiert. Jede Fanvereinigung (und es sind mehr als nu Fans vom SSC Napoli) schaut in seinem Abschnitt nach dem Rechten. Neuankömmlinge werden beobacht, gemustert und eingeschätzt. Nach ein paar Sichtungen weiß man hier aber auch Bescheid, wer wo und vielleicht auch wie lange in der Stadt weilen wird. Unangenehm ist es nur für denjenigen, der vor allem Fremden Angst hat. Alle Anderen werden willkommen geheißen.

Maike Albath schreitet über schwülstige Treppenaufgänge aber auch auf dem unebenen Pflaster der Stadt. Stimmengewirr versiegt nur bei Fußballspielen. Während der WM 2022 war es selbst am Markt an der Muro Maradona – einem Freiluftgelände, auf dem nur mit Devotionalien von Diego Armando Maradona gehandelt wird – muxmäuschenstill. Doch sofort nach Abpfiff kehrte das gewohnte Leben wieder zurück. Binnen Sekunden heulten Mopedmotoren, sprachen alle durcheinander, wurde jeder Spielzug noch einmal durchexerziert, war Napoli wieder Napoli. Der scudetto, die italienische Meisterschaft vom SSC wurde tagelang gefeiert. Kleinere und größere Betriebe waren tagelang geschlossen.

Mit Maike Albath eine italienische Stadt zu erkunden (sie war schon Reisebegleiterin in Rom, Turin und Palermo – ist eine Offenbarung. Durch Gassen, über Plätze, in Bars, auf offener Straße spricht sie mit Menschen, die Napoli ein Gesicht geben. Teuflisch gut – himmlisch verführerisch.

Cellini – Ein Leben im Furor

Wäre Benvenuto Cellini heute ein Superstar? Ein über alle Maßen erfolgreicher content creator, der mit allerlei Krimskrams auf sich aufmerksam machen würde? Er müsste es nicht! Denn er war ein begnadeter Goldschmied und Bildhauer. Seine Werke stehen im Louvre, in den Uffizien. Und sein Leben bietet Stoff gleich für mehrere Staffeln einer Serie. Nun war es die Gnade der frühen Geburt, dass er vom Social-Media-Hype verschont blieb – er wurde am 3. November 1500 geboren #cellini1500. Wäre auch ein guter Name für seine eigene Duftmarke.

Und von denen hatte er einige gesetzt. Mit 13 begann er eine Lehre zum Goldschmied. Die meisten seiner Follower versuchen heutzutage ihre mangelnde Hygiene mit angesagten Mittelchen zu kaschieren. Im Alter von 23 wird er wegen Sodomie verurteilt, also Sex mit etwas anderem, was keine Frau ist. So war das damals. Und außerdem hat er sich ganz ordentlich mit einem Mitglied einer anderen Goldschmiedefamilie geprügelt. Er flieht. Nach Rom. Dort spielt er auch im Orchester von Papst Clemens VII. die Flöte. Und bekommt erste Aufträge vom Stellvertreter Gottes auf Erden. Im Alter von 30 wird er zum Mörder – der Papst vergibt ihm.

Na, ist das genug Stoff für eine spannungsgeladene Biographie? Oh ja. Und es bleibt nicht dabei. Immer wieder muss Cellini fliehen. Roma, Mantua, Florenz, Pisa, Siena, Neapel, Frankreich. Immer wieder findet er sofort Anschluss. Erhält Aufträge der Machthaber. Viele seiner Arbeiten gehen verloren, werden vermutlich eingeschmolzen. Doch das, was erhalten bleibt, „Perseus“, „Nymphe von Fontainbleu“ und die „Saliera“, lässt noch heute jeden Besucher innehalten. Die Detailversessenheit ist wegweisend, prachtvoll, atemberaubend.

Andreas Beyer nimmt sich die erhaltenen Seiten der Vita von Cellini – er diktierte fleißig seine Leben einem Gehilfen – und bringt sie in eine moderne Form. Oberflächlich wird die Renaissance von einer Handvoll Künstlern bestimmt, wie Michelangelo und da Vinci. Cellini ist fast in Vergessenheit geraten. Wer will schon einem Mörder frönen?! Einem mehrfachen Mörder.

Was ist er nun, dieser Cellini? Genie, Wahnsinniger, Getriebener, Unbelehrbarer, Freigeist? Wohl eine zum großen Teil ungesunde Mischung aus allem. Von ganz oben protegiert, vom Leben ausgespuckt, von der Muse verschlungen. Dieses Buch ist ein Höllenbrand, der sich in Hirn brennt, und niemals gelöscht werden kann.

Das Handwerk des Lebens

Immer wenn man in einem Tagebuch blättert, wird die Zeit ein wenig zurückgedreht. Man erinnert sich an das, was war und wie man damals empfunden hat. Liest man in den Memoiren eines Fremden, kommt die wangenrote Exotik und eine Brise was Verbotenes zu tun hinzu. Manchmal sogar noch eine Nachschlag Erkenntnis.

Cesare Pavese zu den Mitbegründern des Neorealismo in Italien. Er war Übersetzer, Autor und Verlagsleiter. Fünfzehn Jahre wurden zu seinen Lebzeiten seine Werke verlegt und verkauft. Es sind die Jahre, in denen er Tagebuch führte. Von der Verbannung in den Süden – den Faschisten war er ein Dorn im Auge – bis hin zu seinem viel zu frühen und selbst erwählten Tod im Spätsommer 1950.

Auch wenn man das Werk Paveses nicht komplett kennt, rückt man ihm (und seinem Werk) ziemlich nah auf die Pelle. Ein Künstler, der hadert. Ein Künstler, der streikt. Ein Künstler, der vor Kreativität zu explodieren scheint. Pavese bedient die ganze Palette der Emotionen, die es braucht, um künstlerisch tätig sein zu können.

Die Selbstverständlichkeit in seinen Romanen wird erst durch den erklärenden Schaffensprozess zu einem Meisterwerk. Denn bei Pavese war nichts selbstverständlich! Seien Werke saugte er sich unter Qualen aus den Fingern – nicht immer. Aber schmerzhaft genug, um sich in seinem Tagebuch zu beschweren und die Qualen mit den Lesern zu teilen. Denn für vorbehaltlose Liebe zahlt man, zahlt man, zahlt man. Wie er sich selbst eingestehen muss. Aber er weiß auch, dass der Neid der folgenden Generationen dem Dichter gewiss sein wird.

Wie liest man nun solch ein Tagebuch? Brav von Seite Eins an, immer weiter blätternd bis man ans bittere Ende gelangt oder doch wild durcheinander? Zuerst die Daten, zu denen man selbst eine Beziehung hat – wie Geburtstage von Verwandten, wichtige Familieneckpunkte etc. Es ist einerlei. Und das im positiven Sinne! Pavese geht immer – und die Reihenfolge seiner Gedanken ist nicht an Daten gebunden. „Das Handwerk des Lebens“ ist ein starker Titel, dem man gerecht werden muss, will man nicht als Hochstapler dastehen. Cesare Pavese entgeht dem Vorurteil, indem er mit Wortgewalt dem inneren Widerstreben die Schönheit der Worte eine unüberwindbare Mauer in den Weg stellt.

Blutorangen

Jeder Emotion, jeder Empfindung kann man eine Farbe zuordnen. Das reicht vom letzten Versuch – lila – bis zum neidischen Gelb und dem hoffnungsvollen Grün. Und der Geschmack? Der ist Rot! Die Salto-Reihe ist gespickt mit genussvollen Geschichten, die einem das Wasser im munde zusammenlaufen lassen. Dort, wo klassische Reisebücher ihre Grenzen erreichen oder – j nach Sichtweise – noch gar nicht beginnen können, setzen die kulturhistorischen Abhandlungen ihre Duftmarken. Nun ist es an der Zeit, dem Duft des Südens, genauer gesagt Italiens, ein Lesemal zu setzen. „Eine Reise zur den Zitrusfrüchten Italiens“ – Es geht nicht ohne, nicht ohne ungewöhnliche Formen so mancher Zitronen von Cinque terre bis Amalfi. Es geht nicht ohne den Duft der Orangen durch Sizilien zu reisen. Und die Bergamotte erst – von Ligurien über das englische Frühstück bis hin zum vierziffrigen Parfumdauerbrenner … es geht nicht ohne.

Und dabei geht es nicht nur um den lukullischen Genuss, der an jeder Straßenecke im wahrsten Sinne des Wortes greifbar ist. Von literarischen Werken bis hin zu Fresken – wohin das Auge blickt: Agrumen, Zitrusfrüchte, säumen das Blickfeld.

Für Stendhal war der Süden der Ort, wo die Orangen aus dem Boden wachsen. Für Leckermäuler gehört ein Spritzer Zitrus zur Pasta, um überall auf der Welt bella italia zu spüren. Und für jeden, der dieses rote Büchlein in den Händen hält ist jede Seite Fernweh und dessen Linderung zugleich. Die unvermeidlichen Rezepte im Buch tun ihr Übriges…

Es ist erstaunlich, was man literarisch aus Zitrusfrüchten machen kann: Die bittere Wahrheit aus Ligurien – chinotto, als erfrischende Limonade in allen erdenklichen Größen überall im Supermarkt erhältlich. Koschere Zutaten, die den Süden in jedes noch so einheimische Gebäck hineintragen. Überbordender Genuss in den Gärten der Medici.

Dieses Buch ist Dauerbegleiter im „Land wo die Zitronen blühen“. Man handelt nicht mit selbigen, wenn man einmal pro Tag darin blättert und den Marktrundgang zu einem neuerlichen einzigartigen Erlebnis macht. Unzählige Bücher sind über Italien und die Lebensweise geschrieben worden. Alle haben ihre Berechtigung und machen süchtig. „Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens“ wirkt schneller und tiefer als alle anderen Bücher. Denn auch ohne Duftseiten verströmen die einhundertvierundvierzig Seiten ein Aroma, dem man sich nicht entziehen kann. Warum sollte man auch?!