Black Ass

Es gibt Tage, an denen wäre man lieber im Bett geblieben. Weil man Angst vor dem hat, was da kommt. Angst der Herausforderung nicht standzuhalten. Angst einen Weg zu beschreiten, der mehr als wackelig ist. Furo Wabiboko kann über solche Ängste nur lachen. Denn er hat ein echtes Problem. Heute steht ein wichtiges Vorstellungsgespräch auf dem Plan. Er hat sich gut vorbereitet, gut geschlafen. Doch als er aufwacht, ist nichts mehr wies es war. Er lebt in Lagos, dem Millionen-Moloch im Süden Nigerias, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Hier leben hunderte Völker, mehr schlecht als recht zusammen. Das Sprachenwirrwar ist nicht zu bändigen. Hier kann es sein, dass am anderen Ende der Stadt ein Dialekt gesprochen wird, den selbst engste Verwandte nicht verstehen.

Nicht verstehen kann Furo das, was des Nachts mit ihm passiert ist. Er ist weiß. Weiß. Weiße Hautfarbe. Dort, wo bisher das satteste Schwarz seinen Körper zierte. Weiß. Von nun auf gleich. Alles Weiß. Alles? Nein ein Teil seines Körpers wehrte sich gegen die Verweißung, sein Hinterteil ist immer noch schwarz! Das Bild muss man erstmal auf sich wirken lassen…

Furo ist also wach, und weiß. Und er weiß nicht wie er, der Weiße, seiner Familie, schwarz, nun verdeutlichen soll wie es dazu kam, der er über Nacht aus einer überreifen plantain (Kochbanane) zu einer weißen Bohne geworden ist. Wie bei Kafkas „Verwandlung“ muss er nun versuchen sich anzupassen, Ausreden zu erfinden, neue Wege zu beschreiten. Doch wie? Er hat ja nicht mal einen Kobo (kleinste nigerianische Münze, einen Bruchteil eines europäischen Cent) in der Tasche. Er muss in der Masse untertauchen, um nicht erkannt zu werden. Wie soll das gehen? In Lagos und Umkreis leben 30 oder noch mehr Millionen Menschen – 99,9 Prozent sind schwarz, das fällt ein Weißer unweigerlich auf. Ach ja, da ist ja noch die Sache mit dem Vorstellungsgespräch. Furo hat es heute Morgen wahrlich nicht leicht…

A. Igoni Barrett nimmt seinen Protagonisten an die Hand und leitet ihn durch diese ungewöhnlich Situation. Ein happy end ist erst einmal nicht in Sicht. Auch wenn Furo sich auf einmal vor Herausforderungen gestellt sieht, die bisher unüberwindbar waren. Nun – als Weißer – hat er Chancen, die den meisten für immer verwehrt bleiben. Furo ist jetzt Weiß. Privilegiert. Was Besseres? Öfter als zuvor.

Es ist anfangs ein köstlicher Spaß dieser absurden Geschichte zu folgen. Nach und nach gelingt der Umschwung zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der nigerianischen Gesellschaft. Das kulturelle Erbe des Landes ist ein wild zusammen gewürfeltes Geflecht aus unzähligen Traditionen und Ritualen, das es unmöglich macht eine nationale Identität zu kreieren. Man ist Igbo oder Edo, Fulani oder Haussa, aber nur außerhalb der Gesellschaft ist man Nigerianer. Innerhalb ist es eigentlich nur die Hautfarbe, die zusammenschweißt. Wenn die sich ins Gegenteil verklärt, steht die ganze Welt Kopf. Und das, was einen einst getragen hat, wirkt blutleer.

Mord, Mystery & History

Da steigt man nichts ahnend in die Pariser Metro und … da liegt eine Frau. Nicht einfach so! Sondern tot. Geschehen am 16. Mai 1937. In ihrem Nacken steckt ein ziemlich langes Messer. Und der Täter! Fort. Hinweg. Verschwunden. Einfach so. Die Ermittlungen – ergebnislos. Zumindest offiziell. Denn die Akten darf niemand sehen. Sind unter Verschluss. Bis 2038, also einhunderteins Jahre nach dem Verbrechen. Denn die Dame – sehr gut aussehend, man wird nicht müde es zu betonen – spielte ein doppeltes Spielchen. Zum Einen das nimmermüde Partygirl, zum Anderen Spionin für die französischen Behörden im Kampf gegen die extreme (und einflussreiche) Rechte. Die Tatwaffe deutet jedoch auf Italiens Machthaber Mussolini bzw. seine willfährigen Helfer. War es vielleicht sogar ein doppeltes Doppelspiel. Ein paar Jahre müssen wir noch warten, dann werden die Akten geöffnet.

Wie wäre es damit? Man selbst ist ein gefürchteter Schlächter. Horden von Mannen stehen unter seinem Befehl. Gilt es jemanden, der der Mafia gefährlich werden könnte, aus dem Weg zu räumen, gibt es nur eine Adresse: Albert Anastasia. Circa tausend Opferkerben zieren seinen Opferstock. Heute steht wieder ein Barbierbesuch auf dem Plan. Es wird der Letzte sein. Gewehrsalven und der finale Kopfschuss bereiten dem Chef der „Murder inc.“ ein jähes Ende. Wer war’s? Mh, keiner weiß es. Vielleicht hätte Albert Anastasia sich mehr an die Gepflogenheiten und Regeln seiner Auftragsgeber halten sollen.

Mit diesen zwei Geschichten beginnt eines der spannendsten true-crime-Bücher. Alle Fälle sind echt. Genauso passiert, oder zumindest annähernd und allesamt tragen das Gütesiegel „Der perfekte Mord“. Einen Mord durchführen ist das Eine. Damit davonzukommen das Andere.

Journalist Ingo Gentner geht den Stories hinter aufsehenerregenden Schlagzeilen auf den Grund. Auch er vermag es nicht die wahren Mörder auf- und anzuzeigen. Doch das bisher Ermittelte ist allein schon Stoff genug für Schauergeschichten, oftmals sogar filmreif. Und so liest man sich durch die kurzen Kapitel und fragt sich selbst, wie es die Täter immer wieder schaffen ungeschoren davonzukommen.

Vielleicht sind sie es aber auch nicht, und ein weiterer Täter, der wiederum ungeschoren davongekommen zu sein scheint, hat Rache genommen … ein Teufelskreis. Doch das ist nur die eine Seite des Buches. Es kommen auch wahre Wunder ans Tageslicht. Wie der Überlebenskampf eines Polizisten aus Arizona. An einer Ampel crasht mit unvorstellbarer Wucht ein Auto ins seinen Streifenwagen. Der Unfallfahrer hatte einen Anfall und war nicht mehr Herr über seinen Körper. Zweieinhalb Monate liegt das Opfer im Koma. Dann kämpfte er sich zurück ins Leben. Sein Gesicht ist bis heute entstellt. Dennoch oder vielleicht deswegen bezeichnet er sich als glücklichen Menschen. Das sind die mysteriösen Seiten des Buches.

Wer sich in wahre Fälle eingraben kann, in ihnen aufgeht, wird dieses Buch lieben. Für alle anderen bleibt die unstillbare Neugier nach dem Unfassbaren, dem Grauenhaften, dem immer noch eine Faszination anhängt.

Kulinarisches Brandenburg

Früher an später denken, denn eines ist sicher: Der Hunger kommt garantiert. Und wenn man dann nicht vorgesorgt hat… muss man zwar nicht hungern, aber sicher zieht der eine oder andere Geheimtipp an einem vorbei, weil man ihn nicht (er-)kannte.

Julia Schoon ist die gute Fee für den kleinen, mittleren, großen Hunger, die Appetitmacherin für alle Sinne und Kochtopfgucker mit dem hang andere teilhaben zu lassen. Wie wäre es mit Eseln? Nicht auf dem Teller! Neben einem. Schritt für Schritt sind sie duldsame Wanderkollegen, die den Urlaub im Planwagen (und das ist kein Sprachbild) mehr als nur abrunden. In der Uckermark sind diese Langohren nicht leicht zu finden, aber wer wirklich was Besonderes erleben will, inkl. lukullischer Leckereien, der kommt voll auf seine Kosten. Und wird noch lange danach davon schwärmen.

Dieses kleine Büchlein hat es faustdick hinter den Umschlagseiten. Komplette Touren, Restauranttipps, Wegweiser zu abgelegenen Hofläden … Brandenburg putzt sich immer mehr heraus. Vorbei die Zeiten, in denen Rainald Grebe Lied „Brandenburg“ hämische Zustimmung fand. Und es biete mehr als nur die Spreewaldgurke. Auf dem Forellenhof Nassenheide nördlich von Oranienburg bekommt der Spruch „Frisch auf den Tisch“ eine ganz andere Dimension. Angel in Wasser halten, etwas Geduld und schon landet der Fang auf dem Teller.

Wer den Fläming nur von der Autobahnraststätte kennt, der sollte das Bilderbuchdorf Blankensee besuchen. Schloss, Café, zwei Seen, nur ein paar Straßen und nur 600 Einwohner. Oder kurz gesagt: Ruhe! So viel Ruhe, dass man das Knurren im Magen hören kann. Und es gibt auch die passende Medizin gegen dieses lärmende Bauchkonzert.

Immer tiefer taucht man in das Bundesland Brandenburg ein ohne dabei das Links und Rechts der Strecke außeracht zu lassen. Ein Reiseband, der in Herz, ins Hirn und durch den Magen geht.

Nazi-Führer sehen dich an: 33 Biographien aus dem Dritten Reich

In einem Land, in dem Bücher verbrannt werden, wird man niemals das Erinnern auslöschen. In einem Land, in dem Hassschriften verbreitet werden, wird es immer Bücher geben, die dagegenhalten können. Als 1933 das perfide Machwerk „Juden sehen Dich an“ dauerte es fünf Jahre bis das gewiefte Buch „Naziführer sehen Dich an“ veröffentlicht wurde. Anonym, versteht sich. Walter Mehring portraitiert darin 33 Nazigrößen – ob die 33 mutwillig gewählt wurde oder Zufall ist? – die man kennen, um deren Tun man wissen und die man verteufeln muss.

Er kategorisiert diese Bekanntheiten – typisch deutsch – und klassifiziert sie nach Göttern, Halbgöttern, Provinzgötter (die dürfte dieses Buch wohl am stärksten persönlich getroffen haben), Heroen, betrogene Betrüger und Drahtzieher. Letztere Namen klingen bis heute nach … Thyssen. Hjalmar Schacht war in den 60ern Berater von verschiedenen Regierungen, die sich sein Wissen und seiner Ansichten zur Finanzpolitik gern annahmen.

Das Buch hat bis heute nichts an Tragweite verloren. Einzig die Tatsache, dass es im Präsens geschrieben ist, verwirrt anfangs. Schließlich ist es fast neunzig Jahre alt und ist in dieser Ausgabe dahingehend nicht verändert worden.

Man muss an dieser Stelle nicht auf jeden einzelnen eingehen. Das wäre zu viele der Ehre für die Schlächter von Millionen von Menschen und Brunnenvergifter ganzer Generationen. Aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es dieses Buch immer noch und wieder gibt.

Der anonyme Mehring geht in seinem Buch auf die Werdegänge der kleinen und größeren Führer ein. Er zeigt ihren Werdegang auf und mit welch drastischen Mitteln sie ihren Aufstieg ebneten. Von Erpressung bis Mord ist da alles dabei, was eigentlich auch im Dunkeldeutschland der Zeit von 33 bis 45 justiziabel gewesen war. Aber manche waren eben doch gleicher als andere…

Es sind vor allem die vermeintlich Unbekannten bzw. nur einem kleineren Kreis bekannten Machthaber, die dieses Buch immer noch so lesenswert machen. Über die Götter weiß man mittlerweile schon so viel, aber wer kennt schon Scheppmann noch? Oder Edmund Heines, Paul Hinkler und Martin Mutschmann? Nicht weniger bedeutend als die Lamettahengste der ersten Garde. Und bei Weitem nicht minder schuldig. Ein Lesebuch, das zusammen mit Klemperers LTI niemals an Aktualität verlieren wird.

Ellis

Wie soll man in der Fremde Halt finden, wenn der Boden aus einem Gemisch auf Ablehnung gebaut ist? Ellis kennt die Antwort auf diese Frage nicht. Sie ist mit ihrer Mutter aus Italien nach Deutschland gekommen. Alles um sie herum ist fremd. Die Menschen, die Sprache, die Kultur. Vor allem aber diejenigen, die jede Minute um sie herum sind.

Das ändert sich als Grace in ihr Leben tritt. Auf Anhieb sind sich beide so nah wie es sonst nur Schwestern sein können. Von nun an gibt es sie nur noch im Doppelpack. Selbst Ellis’ Mutter bekommt die Tochter nur noch selten zu sehen. Niemals würden sie getrennt sein. Ellis weiß das und klammert sich daran fest wie ein Koala an einem Eukalyptusbaum.

Doch Grace verändert sich. Und wechselt – wie Ellis es sieht – die Seiten.

Jahre später kommen sich beide – nun schon – Frauen wieder näher. Sie verbringen eine Zeit in Italien. Bei Ellis’ Familie. Bei der Nonna. Vorsichtig rücken Ellis und Grace näher aneinander. Gehen gemeinsam die Umgebung erkunden, die für beide fremd ist. Ellis hat ihre Heimat nun in Deutschland. Und Grace kennt in dieser Gegend nichts und niemanden. Außer Ellis. Dennoch schaffen es beide nicht das, was damals geschah aufzuarbeiten. Warum wechselte Grace die Seiten? Die Frage wird in den Raum gestellt. Dort bleibt sie allerdings auch. Oder sind es gar die Worte, die nicht ausgesprochen werden, die die Verständigung so einfach machen?

Selene Mariani ist in Verona und Dresden aufgewachsen. Ihr Romandebüt weißt Spuren dieses Weges auf. Wohlwollend gibt sie beiden Frauen den Raum, den sie benötigen, um sich frei entfalten zu können. Dass das nicht immer schmerzfrei über die Bühne gehen kann, wird ihnen erst im Laufe der Zeit klar.

Mit behutsamen Worten, im rasanten Wechsel der Zeitebenen und unverwüstlichem Glauben daran, dass die beiden wieder zueinander finden werden, berauscht man sich am Festival der Gedanken zweier Frauen, die sich nur eines wünschen: Endlich wieder beisammen zu sein und die Geister der Vergangenheit in den azurblauen Himmel aufsteigen zu sehen.

My darkest prayer

Reverend Esau Watkins ist tot. Der Pfarrer der New Hope Baptist Church in Mathew County, Virginia wurde vor einigen Tagen tot aufgefunden. Nun muss Nathan Waymaker die Beerdigung vorbereiten. Es soll ein würdiges Begräbnis werden. Für einen ehrwürdigen Mann. Ein Mann mit Vergangenheit. Dieb, Dealer, Hehler, Friseurladenbesitzer. Bis er zu Gott fand. Dass er noch nicht unter der Erde liegt, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Umstände seines Todes … nun sagen wir mal … nicht ganz so natürlich zu sein scheinen wie sie es sollten.

Dass er nun doch schneller als der Situation angemessen unter die Erde kommen soll, ist den ziemlich eigenartigen Ermittlungsmethoden der örtlichen Polizisten zu verdanken. Hier stimmt was nicht! In der Gemeinde rumort es. Es muss doch einen ehrlichen, aufrichtigen Menschen geben, der den Mut aufbringt im Dreck zu wühlen, ohne sonderlich viel des selbigen aufzuwirbeln.

Nathan Waymaker scheint dieser Mann zu sein. Schon bei den Marines bekam er den Ruf eines hilfsbereiten und vor allem loyalen Menschen. Wenn Not am Manne ist, war Nathan Waymaker zur Stelle. Und dass er anpacken kann, beweist er tagein tagaus bei seiner Arbeit. Und schon stehen die Gemeindemitglieder bei ihm auf der Matte. Er muss helfen, den Tod des Reverend aufzuklären, flehen sie ihn an. Nathan willigt ein. Ohne zu wissen, worauf er in der nächsten Zeit gefasst sein muss.

Denn auch er hat eine Vergangenheit. Ein Vorleben, das nicht immer frei von Schuld war. Auf ihn gehen mehr als nur eine Kerbe im Sargdeckelholz zurück. Damals … als … er und … na ja, so gern will er nicht darüber sprechen. Und er wird es auch nicht. Das hatte er sich geschworen. Doch nun? Nun steht er selbst im Fokus von Leuten, die ihm in die Suppe spucken wollen. Und es auch können. Sie sind so wie er es fast geworden wäre. So wie es vielleicht der Reverend einmal war. Doch das ist egal. Denn Nathan ermittelt sich fast um Kopf und Kragen.

Kleinstadtidylle, das klingt nach sauberer Luft, zufriedener Nachbarschaft, glücklichem Leben. Nach außen stimmt das auch alles. Doch im Inneren ist es finster wie in den Weiten des Alls. S. A. Cosby mischt die Zufriedenheit dieser Idylle mit dem tiefsten Schwarz der sie füllenden Seelen. Da sitzt jedes Wort. Wie Peitschenhiebe durchschneidet er das Schweigen. Ohne Klischees bedienen zu müssen, zeichnet er Landschaften ins Hirn der Leser, die nur eines sein können: Absolut echt.

Beim Lesen von „My darkest prayer“ fühlt man sich wie ein Kind, das auf dem Boden sitzt, die Ellenbogen in die verschränkten Knie und den Kopf in die Handteller gestützt. Sie lauschen den Worten des Mannes im großen Lehnstuhl. Dieser Mann ist S. A. Cosby. Und er hört einfach nicht auf zu erzählen … Großartig!

Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Siv, Aki, Anna Maria, Jens und Ivo – eine verschworene Gemeinschaft. Eine Bande, die zusammenhält und davon träumt, was nie passieren wird. Sie haben sich nicht gesucht, aber gefunden. Ihre Herkunft ist so verschieden wie es nur im richtigen Leben sein kann. Mutter Alki, Onkel Pastor, beide Eltern Zahnärzte, Rebellin, Zweifler, Künstler, Träumer und alle zusammen: Kämpfer.

Das Autorenpaar Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert, kurz Sylvia Frank, beschreiben lebensecht eine Jugend in der DDR. Ohne „früher war alles besser“, was es definitiv nicht war, dafür aber mit grandiosem Feingefühl. Das alles umgebende Grau ist der Spielplatz der Jugendlichen, die für das Klettergerüst zu groß und für die Samstagabend-Disco zu jung sind.

Dreizehn Jahre umreißt der Roman, von 1977 bis zum Schicksalsjahr 1990. In diesem Jahr brechen die alten Träume, die bisher nie oder selten ernsthaft ausgesprochen wurden aus der Gruppe heraus und brechen die Gruppe entzwei. Neue Träume entstehen, das War wird barsch in die Ecke gestellt und das Wird übernimmt die Führung. Noch immer nicht ganz erwachsen stellen sich fünf junge Menschen der Herausforderung nun doch „mit den Vögeln ziehn“ zu können.

Wer in der DDR ebenso wie die Fünf groß geworden ist, wird immer wieder auf Eigenerlebtes gestoßen. Wer es nicht kennt, ist baff erstaunt, dass hier nicht schon früher alles umgekehrt wurde. Verständnis für die Fünf wird Hüben wie Drüben aufkeimen, wenn gesponnen, unbeschwert in den Tag hinein gelebt und den Widrigkeiten eine Nase gedreht wird. Beispielsweise wenn auch bei der Asche (so wurde die Nationale Volksarmee genannt, die jeder junge Mann achtzehn Monate aktiv unterstützen musste) Hanf angebaut wird. Oder mit dem Saxophon in eine Welt eingetaucht wird, die universell funktioniert.

Der titelgebende Soundtrack stammt von Tamara Danz, charismatische Frontfrau der Band Silly. Sie schriebe dieses Zeilen als der Krebs von ihr Besitz ergriffen und ihr jede weitere Chance schon genommen hatte. Der Tod als endgültiges Momentum, dem man nur mit einem Lied auf den Lippen begegnen kann.

Das Sizilien des Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Es ist die Schlussszene des Films „Der Leopard“, der die Faszination dieses Epos ein ums andere Mal zu übertreffen scheint. Die versammelte Gesellschaft gibt sich im Reigen dem eigenen Verfall, des Wegschauens und Wegduckens hin. Man ist höflich-höfig distanziert. Man kennt sich, weiß wen man mag und braucht. Bloß nicht verändern. Opulente Ausstattung, begnadete Schauspieler, eindringliche Bilder.

Doch ist das das Sizilien, das den Besucher mit überbordender Wärme empfängt? Ja. Nur anders. Im Film, und vor allem im Buch ist es ein Sizilien, das von einem Mann beschrieben wird, der genau in diesen Kreisen erwachsen geworden ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte zum Hochadel der Insel. Als er geboren wurde, war Italien schon eins. Zumindest auf dem Papier. Die Vielstaaterei war „nur noch in den Köpfen“. Aber da saß sie noch fest im Sattel.

Autor Jochen Trebesch begibt sich auf Spurensuche. Bis ins kleinste Detail seziert er den Werdegang des großen sizilianischen Schriftstellers, der immer noch mit nur einem Roman ein Ganzes abbildet, das bis heute ein Rätsel bleibt. Sizilianer als stur und veränderungsunwillig abzutun, träfe niemals komplett den Kern. Sofern dem Unterfangen Sizilien umfassend zu verstehen überhaupt Erfolg beschieden werden kann.

Immer tiefer taucht mit dem Text in ein Leben ein, das so weit entfernt liegt wie Schneesturm in Palermo. Und immer verfestigt sich der Gedanke, dass das Leben des Schriftstellers mehr Symbolgehalt hat als man anfangs dachte. So vollzieht sich im Laufe des Lesens ein Sinneswandel. Der goldene Löffel, der dem kleinen Giuseppe schon in der Wiege im Mund steckte, versperrte ihm nicht die Sicht auf die Umwälzungen, die seinem Land bevorstanden. „Il Gattopardo“, wie „Der Leopard“ im Original heißt und auf das Wappen der di Lampedusa zurückgeht, ist die perfekte Symbiose von erstarkender Vorstellungskraft und Biographie der eigenen Familie.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Angelika Fischer. Die Wahl für Schwarz-Weiß hätte nicht besser sein können. Denn nur so kommen die Kontraste erst zur Geltung. Kein quitschbunter Farbenrausch, der die Stimmung ins gewöhnliche rauschen lässt. Sondern konzentrierter Fokus auf das Objekt. Das Buch mag auf den ersten Blick dünn erscheinen. Doch sein Inhalt ist lehrreicher als so mancher Pageturner, der nach 500 Seiten nur noch als dekorativer Schnickschnack im Bücherregal herhalten kann.

Almosen fürs Vergessen – Wo man singt

Das altehrwürdige Cambridge. Hier liegen die Traditionen auf dem Präsentierteller. Hier wiegen die Traditionen noch was. Hier wird gelehrt, hier wird gelernt. So war, so ist es, so wird es immer bleiben.

Von wegen. Großer Veränderungen kündigen sich an. Einerseits wird ein nicht ganz unbeträchtlicher monetärer Zuwachs durch den Verkauf eines Stücks Land erwartet. Andererseits – überall im Europa des Jahres 1967 brennt es auf den Straßen unter der Leitung der Studenten – verschließt sich niemand mehr vor den revolutionären Ansinnen der Studenten. Dass es unter den Talaren mieft, ist nicht mehr zu vertuschen. Auch unter den Professoren rumort es.

Hugh Balliston ist der mehr oder weniger heimliche Anführer der Studenten. Ihm hört man zu, ja, man folgt ihm sicherlich ziemlich weit. Wie weit, das wird sich noch herausstellen. Von Lehrkörperseite betrachtet man die Aktivitäten mit Argwohn. Und das obwohl man selbst Veränderungen nicht abgeneigt sei. Schließlich ist man als Lehrer stets Triebfeder des Fortschritts. Ab in Maßen, please.

Hugh hingegen ist Feuer und Flamme. Er berauscht sich an seinem Image als Revoluzzer. Ist aber auch clever genug, um echte Veränderungen herbeiführen zu können. Nicht ganz so clever und reaktionsfreudig ist er hingegen als ihm die Führungsrolle abspenstig gemacht wird. Zu spät merkt er, wer ihn um- und übergehen will…

„Almosen fürs Vergessen“ – da muss man schon zweimal hinschauen, um es richtig zu verstehen. Ein Romanzyklus, der im siebten Band die philosophische Auseinandersetzung mit den Umwälzungen der 60er Jahre sucht. Niveauvolles Geplänkel nach dem Tennis im steten Wechselspiel mit profanen Alltagsproblemen.

Simon Raven scheut nicht vor der Provokation. Intellektuell, provokativ, direkt und zutiefst ehrlich schickt er Menschen in die Arena in einen Kampf auf Leben und Tod. Dass er sich beim Ritt auf der Rasierklinge nicht schneidet – und seine Betrachtungen als schnöden Krimi ins Bücherregal schickt – ist ein wahrer Kunstgriff. Man berauscht sich am intelligenten Gerangel ebenso wie an vordergründigen Interesse am anderen Geschlechts gleichermaßen.

Mutters Stimmbruch

„Die alten Zähne wurden schlecht, und man begann sie auszureißen. Die neuen kamen gerade recht, mit ihnen ins Gras zu beißen.“ Heisa, was war das lustig, als man frisch gebadet im Schlafanzug bei der Oma auf der Couch saß und gebannt der großen Samstagabend-Fernsehshow folgte. Hihi, Zahnausfall, dachte man. Bis es einen selbst betraf.

Betroffen ist auch die Tochter, die ihrer Mutter beim Stimmenverlust anfangs tatenlos zusehen muss. Auch hier sind die Zähne die Quelle des Verlusts. Waren sie zu Beginn noch Quell der Hoffnung – mit jedem Milchzahnverlust erlernte die Mutter eine neue Sprache (allerdings nur bei Eckzähnen) – steht heute der Wegfall der Beißkraft für einen Schritt des Älterwerdens. Irgendwie ist der Schwung verloren gegangen.

Alles um Mutter herum ist Herbst. Es regnet durchs Dach, der Garten ist braun und grau und unansehnlich. Die Motivationsschübe sind noch nicht ganz verklungen, doch die Abstände werden größer. Dafür werden die Ausschläge expressiver. Es muss sich was ändern.

Der Umzug ist der einzige Ausweg, wenn es diesen überhaupt gibt. Verzögerungstaktik oder Umwälzung? Ewiger Herbst oder neuerlicher Herbstbeginn mit strahlendem Sonnenschein und partieller Lichtkraft? Es ist mehr als einen Versuch wert…

Katharina Mevissen treibt ihre sonderbaren Gedanken (und das ist in diesem Fall nur positiv gemeint) dem Leser mitten ins Hirn. Voller Anspielungen und Mehrfachdeutungen bedient sie sich dem Klischeebild der alternden Mutter. Wenn etwas fehlt – in diesem Fall erst ein Zahn, dann noch einer, immer öfter sogar die Stimme – geht auch der Nimbus Mutter verloren.

Immer wieder schafft Katharine Mevissen den Twist nicht ins Kitschige oder gar Lächerliche zu verfallen. Mutter ist ein ernstes Thema. Doch nicht nur das: Mutter ist Mutter. Das gibt es keine Grauzone. Nicht einmal eine Parallelwelt. „Mutters Stimmbruch“ ist nicht mehr und nicht weniger als eine liebevolle Auseinandersetzung mit dem Älterwerden des wichtigsten Menschen. Tragik und Komik liegen oft beieinander. Hier hupfen sie Händchen haltend durchs Leben. Und der Leser darf dabei zusehen. Und lauschen. Und sich in der Geschichte festbeißen…