Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.

Stille Jahre

Für die kleine Bohdana sind es dieses sechs Buchstaben, die eine entscheidende Wende in ihrem leben markieren. B-L-A-N-K-A. Eigentlich sind es acht Buchstaben. B-L-A-N-I-Č-K-A, die Verniedlichungsform von Blanka. Da liegt ihre Großmutter im Krankenhaus. Und für Bohdana, die soeben mit Blanka angesprochen wurde, beginnt mit einem Schlag das Leben einer Suchenden und endet das unbeschwerte Leben eines unschuldigen Kindes. Denn der Vater weicht dem fragenden Blick des Kindes aus. Wieso Blanka, Blanička? Eine Phantasie? Der Name ihrer Schwester, sagt Vater, doch Bohdana weiß, dass er lügt. Sie weiß schon in diesem Moment, dass sie diesem Geheimnis auf die Spur kommen muss. So klein, so jung, und schon mit einer so großen – selbst auferlegten – Bürde behaftet.

Ihre Mutter ist ihr so nah wie der Vater ihr fern ist. Blanka ist dreizehn. Und seit dem Krankenhausbesuch geht ihr die seltsame Reaktion ihre Vaters nicht aus dem Sinn. Mürrisch und gefühlskalt – so kennt sie ihn. Manchmal auch wütend. Immer jedoch verschlossen und niemals das, was er sein soll: Papa. Sie ist für ihn eine Belastung, für Mama ein Wunder. Und sie selbst ist gewitzt, pfiffig. Einen Stammbaum will sie erstellen. Für die Schule. Und schreibt deswegen ihre Verwandten an. Vater ist beunruhigt. Erst als er erfährt, dass es für die Schule sei, legt sich bei ihm die Anspannung. Ein wenig zumindest. Bohdana registriert diesen Sinneswandel sehr wohl. Und das stachelt sie noch mehr an herauszufinden, was hinter der Verwechslung der Namen steckt.

Die ersten Briefe der Verwandten, Antworten auf Bohdanas Wunsch nach Informationen über ihre Familie kommen zurück in das unscheinbare Haus am Ende der Sackgasse. Ein Brief jedoch erregt das Herz des Teenagers. Ihr Vater sei ein Schwein!, steht darin. Wie soll ein Mädchen in Bohdanas Alter damit umgehen?

Auch das Leben des Vaters war nicht durch Liebe gekennzeichnet. Auch er war ehr unerwünscht als ersehnt. Der Aufbruch nach dem Krieg, die Hoffnung einer neuen Gesellschaftsordnung, einer neuen Ideologie bestimmte das Dorfleben. Und immer mehr drang das Parteihörigkeitsdiktat in die Familie ein. Was der Sohn – Bohdanas Vater – bei seinem Vater (als verkappter Abkapselungsversuch) verabscheute, lebt er nun seiner eigenen Familie vor. Erschwerend hinzu kommt bei ihm aber die Verschlossenheit. Eine Tatsache, die Bohdana noch mehr anstachelt dem stillen Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen…

Alena Mornštajnová ist die Expertin für Familiengeheimnisse. Bei ihr prasseln die versteckten Fehltritte jedoch nicht wie Starkregen auf die Protagonisten hernieder. Nein, sie sind ein feiner Nieselregen, der sich festsetzt in jede noch so kleine Ritze eindringt und sich festsetzt. Für immer! Immer tiefer durchsetzt er Schicht für Schicht bis er endgültig im Herzen angelangt ist.

Sommerwasser

Eine Ferienhaussiedlung in Schottland. Vor einem Wasser, über einem Wasser, unter einem Wasser. Selbst, wenn man zurückschaut Wasser, Wasser, Wasser. Es sollen unvergessliche Tage werden. In Schottland. Erholung, Ausspannen, ohne Zwang und Regeln. Doch wenn es regnet, ist man Gefangener im eigenen Traum. Vier Wände Plus. Das war’s.

Die Hausarbeit macht immer derjenige, der sie auch zuhause erledigt. Und Vorsicht vor den knarzenden Dielen! Nur nicht den Partner wecken. Der hat sich seine Auszeit redlich verdient. Kinderbespaßung bei Regen? Oh je, permanent ist man in der Pflicht der Familie nachhaltige Eindrücke zu vermitteln. Ferienhaussiedlung hin oder her – bei so viel Wetterabhängigkeit kehrt der Alltag schneller zurück als man sich ducken kann.

Sarah Moss nimmt diese spezielle Art des Urlaubens genauer unter die Lupe. Es sind keine kleinen Reportagen über nicht sitzende Fliegengitter oder planmäßige Wassereinteilung und Waschzeiten. Hier ist für den Komfort gesorgt. Nun muss der Gast nur noch seinen Platz finden. Meist geschieht das – im Regen – mit dem symbolischen Kissen unterm Arm. Schauen, wer noch so da ist, was die Anderen so treiben. Die Autorin schaut aus ihrem Fenster und sieht die Welt wie sie wirklich ist. Durchstrukturiert, und so gar nicht losgelöst von zuhause. Alles wie gehabt. Joggen, Frühstück machen, ein bisschen kajaken. Die innere Stoppuhr immer im Blick und niemals den Stoppknopf drückend.

Es sind keine bitterbösen Beobachtungen, die Sarah Moss in „Sommerwasser“ zum Besten gibt – und dieser Superlativ ist hier wirklich angebracht. Sie muss sich nicht verstecken, um „die Anderen“ zu beobachten. Hier schaut eh jeder auf den Anderen. Man zerreißt sich das Maul über die Aussprache eines Nachnamens. Wer sich für Fußball interessiert, dem kommt der Name Shevchenko eigentlich locker über die Lippen. Aber manchmal ist es doch angenehmer dem Frust über die eigene Unzulänglichkeit mit einer Brise Anmaßung („Scheiß-chenko“, Zitat) entgegenzutreten und sich zumindest einen Moment lang augenscheinlich zu erheben.

Die Frage, wann man „Sommerwasser“ lesen sollte, ist weitaus schwieriger zu beantworten als man sich eingestehen will. Liest man es vor dem Urlaub, in einer Ferienhaussiedlung, währenddessen oder lieber im Nachgang. Liest man es zu intensiv vor Abfahrt, kann die Stimmung abfallen und vor Ort nur noch durch permanenten Sonnenschein aufgehellt werden. Im Nachgang dieses Buch zu lesen, fördert sicherlich jede Menge Kopfnicken hervor. Wer sich in die Höhle des Löwen begeben möchte und den Mut aufbringt es zwischen Couch, Veranda und dem nächsten Ausflug zu lesen, muss sich auf allerlei Selbsterkenntnis einstellen. Fakt ist, dass Sarah Moss den Urlaubern nicht nur aufs Maul schaut, sondern mit dem ganz großen Holzlöffel ihre Seele gehörig zum Brodeln bringt.

Geheimsache Italien

Würde dieses Buch von einem Journalisten, einem Fanatiker, einer Rampensau, die nur das Scheinwerferlicht sucht, geschrieben worden sein, dann wäre dieses Buch nicht mehr als ein Aufschrei ohne Substanz, das alsbald auf dem Wühltisch der Buchhändler landen würde. Doch hier schreibt einer, der es wissen muss. Giuliano Turone war Richter am Kassationsgerichtshof, Professor für Investigationstechniken und nahm an den Prozessen am Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag gegen die Kriegsverbrecher im Jugoslawienkrieg teil. Und – damit ist es endgültig bewiesen, dass er kein blindwütiger Agitator ist – er leitete die Untersuchungen gegen die Loge P2 und war Mitglied der Antimafiakommission.

Auch ohne viele Vorkenntnisse – wer dieses Buch bewusst auswählt, ist automatisch mit einer Portion Grundwissen ausgestattet – kommt man (kopfschüttelnd) schnell auf seine Kosten, wenn man sich für politische Intrigen und deren Strippenzieher interessiert. Detail- und lehrreich führt Giuliano Turone den Leser in eine Zeit, in der Italien (wieder einmal) vor einer Umwälzung stand. Schon lange waren in dem Land Mächte am Werk, die lange Zeit unbehelligt ihrem Tagwerk nachgehen konnten, weil die eigentlichen Machthaber weit weg waren. Weit weg in jedwedem Sinne. Stichwort Mafia. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Angst vor den Kommunisten größer als die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Lieber mit der Mafia paktieren als Moskau einen fruchtbaren Boden zu bereiten, war die Devise.

Im Laufe der Jahre waren derart viele Mächte am Werk, dass es einer weiteren Macht bedurfte, die diese Kräfte bündelte. P2, Propaganda Due, war diese Macht, die in der Lage war Italien – in ihrem Sinne – in die richtigen Bahnen zu führen. Ursprünglich eine Freimaurerloge, also humanistisch, aufklärerisch geprägt. Zu ihr gehörten Mafiosi, Politiker (bis hin zu Ministerpräsidenten), Polizisten, Intellektuelle, Kleinkriminelle, Kirchenleute – kurzum: Der so genannte repräsentative Querschnitt der Bevölkerung. Sie vertuschten Verbindungen, ließen Akten vernichten, planten Attentate und Entführungen, ballten eine unvorstellbare Macht in ihren Reihen. Sie waren auf einer Stufe der Machtgier angelangt, in der Geld keine Rolle mehr spielt. Und das obwohl ihre Sparschweine wegen Fettleibigkeit ihren Aktionsradius erheblich einschränken mussten.

Schlagworte, die dieses Buch als Eckpfeiler benutzt sind die Entführung von Aldo Moro und das Bombenattentat am Bahnhof von Bologna zu nennen, weil sie medial die größte Aufmerksamkeit auch in Deutschland erhielten. Mit Akribie wühlt sich der ehemalige Richter Giuliano Turone durch einen schier unendlichen Berg von Akten und Beweisen, ordnet sie – was allein schon unmenschlich erscheint ob der gigantischen Menge – und serviert dem Leser ein Menü, das einem die Kehle zuschnürt. Bloße Verschwörungstheorien? Mitnichten, auch wenn immer noch versucht wird alle Argumente mit einem Handstreich hinwegzuwischen. Nicht umsonst hatte Silvio Berlusconi P2 als eine Art Gentleman-Club bezeichnet…

Bei der Lektüre von „Geheimsache Italien“ liegen kopfnickendes „Si“ und erschreckendes „Oh no“ so eng beieinander, dass einem manchmal schwindelig werden kann.

Schlösser der Loire

Es ist schon ein besonderes Erlebnis in der Nacht an der Loire entlang zu fahren. Ringsum nur die ungetrübte Dunkelheit. In der Ferne sind kleine Lichtpunkte zu sehen. Das sind sie – die Schlösser der Loire. Funkelnd wie Edelsteine in der Nacht.

Des Tags sind sie nicht minder beeindruckend. Doch wo anfangen zwischen Tours und Angers? Wie kommt man da hin? Was darf man unter gar keinen Umständen verpassen? Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen sie alle. Darüber wird nicht diskutiert! Heike Bentheimer hat den einen, ultimativen Reiseband zu diesem einzigartigen Ensemble royaler Pracht geschrieben. Über 450 Seiten lang. Und jede Seite ein Märchen, das Wirklichkeit werden kann. Eine Tour der Impressionen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen werden. Und wer auf die motorisierten vier Räder gern verzichten möchte … kein Problem: Die Loire ist Radwanderland. Berge sucht man hier vergebens, was die Alterspanne der Pedalisten sehr breit fassen lässt. Und wer will, kann sich sogar das Gepäck von A nach B, von B nach C etc. transportieren lassen. Hier ist wirklich alles möglich.

Ob nun zu Fuß, auf zwei schmalen oder vier fetten Rädern oder gar in der Luft – die Reise an den Ufern der Loire wird zum Sinnesrausch erster Klasse. An dieser Stelle wird nicht auf ein einzelnes Schloss eingegangen. Die Auswahl erschlägt den Leser schlichtweg. Denn nicht nur die großen Hallen einstiger Macht, sondern auch die kleineren, teils Lustschlösser genannten, „Behausungen“ sind mehr als nur eine Einkehr wert.

Architektonisch ist jedes ein Juwel. Mal muss man näher herantreten, mal erschließt sich die Pracht erst bei der Beschau der Details. Wer will kann ja mal die Türme und Türmchen oder die Anzahl der Fenster zählen – ein dicker Block ist ratsam.

Dieser Reiseband steht den Schlössern in nichts nach. Eine Schatztruhe voller Reichtümer, die man vielleicht so erwartet hat. Aber wenn man sie vor sich sieht, ist man trotzdem bafferstaunt. So soll es ja auch sein. Beeindruckend ist im Buch die nicht minder aufsehenerregende Fülle an Tipps rundherum und zwischen den Perlen der Loire. Fakt ist, dass eine Reise entlang der Loire mit zahlreichen Abstechern zu den Schlössern, den Gartenanlagen, den Parks, inklusive Abbiegen nach Links und Rechts, den lukullischen Ereignissen, den phänomenalen Eindrücken mehr als nur ein Fotoalbum füllen kann. Es wird eine Reise sein, die man nie mehr vergisst. Auch dank dieses Reisebandes.

Di Bernardo

Wenn man ein paar Fakten weglässt, ist der Fall sonnenklar: Der Komponist Alessandro Ferro richtet die Waffe auf die junge Livia. Tot. Und das vor der Basilica di San Giovanni in Laterno, Rom. Die entscheidenden Fakten sind jedoch, dass auch er tot vor der Basilica liegt und die Waffe irgendwie platziert scheint. Commissario Dionisio Di Bernardo kommt die Szenerie irgendwie verdächtig vor. Auch die Zeugen. Gabriella Guselli, die Organistin hatte zuvor ein Stück von Bach gespielt, „Erbarme Dich!“ – wie passend. Sie spielte an dem nicht gerade leisen Instrument. War jedoch ziemlich am Tatort, und sie erfasste die Situation ebenso schnell. Da war nichts mehr zu machen. Die Frau war tot. So ihre Einschätzung.

Des Weiteren befragt Di Bernardo Pietro Bonolis. Bei ihm hatte sich Livia vor Kurzem um eine Lehre zur Bogenbauerin (Geige, Cello etc.) beworben. So wie Jahre zuvor ihr Vater. Der allerdings zurück nach Rumänien musste, um sich ums Geschäft wiederum seines Vaters zu kümmern. Livia war geschickt und wissbegierig, gibt Bonolis an. Doch das ständige mit dem Tuch über die schwitzige Stirn Wischen, macht Di Bernardo und seinen Kollegen Del Pino nachdenklich.

Ein mäßig erfolgreicher Komponist, eine junge Frau – schwanger, zweiundzwanzigste Woche – aus Rumänien, beide ermordet, gar nicht weit entfernt von einer Bogenbauerwerkstatt, vor einer Kirche … und rund herum nur unbefriedigende Antworten auf so viele Fragen. Hier liegt was im Argen – das weiß Di Bernardo ganz genau.

Wie in einer Sinfonie sind die einzelnen Noten für sich stehend nur Gekrakel. Erst im Zusammenspiel ergeben sie eine Melodie, die zum Schwelgen anregt und den Hörer in ihren Bann zieht. Und Di Bernardo ist der Dirigent. Er verleiht dem Stück die richtige Würze, bestimmt Tempo und bringt seine eigenen Ideen klangvoll zum Ausdruck. Da können noch so viele Misstöne auftauchen, Di Bernardo wischt sie hinweg. Und am Ende gibt es stehende Ovationen…

Natasha Korsakova schickt Commissario Dionisio Di Bernardo ordentlich auf den Holzweg. Und das nicht nur sinnbildlich, sondern wortwörtlich. Denn die Morde haben mit einer kriminellen Bande zu tun, die erfahrenen Krimilesern nur selten begegnet… Als Zwischenspiel wird jedes Kapitel mit einem kleinen Musikstück – als QR-Code jederzeit abrufbar – untermalt. Wer die Kurzbiographie im Buchumschlag liest, wird schnell erraten, dass es sich bei den Musikstücken um die Autorin selbst handelt, die „so ganz nebenbei“ auch Violinistin ist.

Grazie a voi

Schon die Andeutung des Begriffes Migration bringt eine gewisse Schwere ins Gespräch. Mit Bedacht wählt man seine Worte, nickt zustimmend oder … im schlimmsten Fall … tut unumwunden seine Abneigung kund. Ob man es nun hören will oder nicht: Migration war schon immer ein Thema. Die Landbevölkerung zog es in die Städte – Migration. Und wer es sich leisten will und kann, den zieht es in die ländliche Idylle. Auch das ist Migration.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts zog es tausendfach Italiener in die Schweiz. Hier wurden Arbeitskräfte gesucht, besonders in der aufstrebenden Textilindustrie und im nachfolgenden Gewerbe. Rund ein Jahrhundert später zog es abermals Italiener in die Schweiz. Die Heimat lag am Boden, mühsam errichtete man wieder eine Demokratie, gab sich eine neue Verfassung. In der Schweiz „war die Welt noch in Ordnung“ – kein bis kaum Kriegsschäden, überdurchschnittliche Löhne. Nur das Frauenwahlrecht war noch nicht installiert. Doch der wirtschaftliche Druck überwog so manches, was man niemandem wünscht. Willkommenskultur war sporadisch vorhanden.

So entwickelte sich eine Migrationskultur, die in diesem Buch eindrucksvoll, ungeschönt, ungefiltert „das Leben der Fremden“ für die Ewigkeit festgehalten hat. Nix grandezza und bella vita. Vielmehr harte Arbeit, fremde Sprache, neue Lebensbedingungen. Aber auch ein Lächeln auf den Lippen sich selbst ein Leben aufbauen zu können. Und die Lieben daheim – in Italien – daran teilhaben zu lassen. Auch ohne täglichen Kontakt – das Handy und Telefonflatrates gab es noch nicht!

Es ist die Schlichtheit, das Normale der Fotos, das so beeindruckt. Näherinnen in St. Gallen, Vereinsleben, aufm Bau, beim Pflastersteineverlegen in sengender Hitze oder in Schale geworfen, um dem Alltag einmal die elegante Schulter zu zeigen – jede Seite, jedes Bild ein untrügliches Abbild des ganz normalen Lebens der Italiener in der Schweiz.

„Grazie a voi“ – wer sagt das? Die Neuen oder die Eingesessenen? Wer bedankt sich bei wem? Sicher ist, dass ein grazie nicht nötig, aber gern gehört ist. Und wenn man zwischen den Erinnerungen herumstöbert, ist es sowieso egal, wer wem ein grazie schuldet. Immer wieder blättert man ein paar Seiten zurück, sich noch einmal zu vergewissern, was man gerade gesehen hat oder meint übersehen zu haben. Ob nun in nostalgischem Schwarz-Weiß oder typischen überfärbten Colorfoto-Charme – man erliegt im Handumdrehen diesen Bildern. Grazie!

Das Fest

Das Pendizack an Cornwalls Küste ist ein Prachtstück von einem Hotel. Die Gästeliste ist es auch – nur Prachtstücke. So wie Mrs. Gifford. Sie kündigt postalisch ihre Ankunft nebst Gatten per Automobil an. Die Kinder reisen im Zug. Sofern sich die Anreise der Giffords verzögern sollte, bittet sie darum die Kinder schon mal zu Bett zu schicken. Und gibt sogleich noch eine Liste mit auf den Weg mit Dingen, die sie essen darf (sehr erlesen) und Dingen, die ihr auf den Magen schlagen (eher das „gewöhnliche Essen“). Ansonsten schmeichelt sie den Besitzern noch ein wenig und hofft sich im Hotel von einer Krankheit schnellstmöglich zu erholen. Wenn die wüsste … meint man, wenn man den Klappentext gelesen hat. Denn der August 1947 hält für die anwesenden Bewohner des Pendizack eine krachende Überraschung parat. Ein paar Monate zuvor wurde eine Mine angeschwemmt. Sie explodierte, richtete aber weniger Schaden als es im ersten Moment aussah. Im zweiten Moment sind die Beschädigungen so gravierend, dass die Klippe, aus dem das Hotel steht, abbricht und das Hotel mit sich reißt. Samt aller Anwesenden, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Gebäude aufhielten. Angestellte und Gäste gleichermaßen. Da macht das Schicksal keinen Unterschied!

Und dennoch gibt es Gäste, die „nur“ den Verlust ihres Gepäcks zu beklagen haben. Denn sie waren zu eben dieser Zeit bei einem Fest. Während man sich berauschte, rauschte in geringer Entfernung das Hotel in die Tiefe und begrub alles Lebendige unter seinen Trümmern.

Kann das Zufall sein? Wenn ja, warum haben dann so viele skurrile Persönlichkeiten im Hotel eingecheckt, das bis vor Kurzem noch zu viele freie Zimmer hatte? Anne Lechene, eine Schriftstellerin, die sich ihres Rufes durchaus bewusst ist, samt Chauffeur. Mr. Waxton, ein Geistlicher, der eher der dunklen Seite der kirchlichen Macht angehört – so scheint es – samt Tochter Evangeline. Die Pendizacks nicht zu vergessen. Das alte Herrenhaus haben sie vor nicht allzu langer Zeit zum Hotel umgebaut. So wollten sie das Studium ihrer Zöglinge finanzieren.

Hotels – besonders die mit einer besonderen Klientel – haben einen besonderen Charme. Hier herrschen andere Regeln als im Bed & Breakfast. Man will unter sich sein. Mrs. Gifford bevorzugt beispielsweise das Essen im eigenen Gemach einzunehmen, um die anderen Gäste nicht mit ihrem besonderen Geschmack zu belästigen.

Das Haus an den Klippen ist speziell, so wie seine Gäste. Und nun ist es noch spezieller, weil es zertrümmert die Klippen von Cornwall verschandelt. Und zahlreiche Gäste unter sich begrub. Und vielleicht sogar so manches Geheimnis…

Margaret Kennedy schlägt klangvoll die ganz große Pauke der Andeutungen und Verdächtigungen. Sie sind weithin hörbar, nur die Melodie ist schwer zu greifen. Welches Lied singt diese Tragödie in den Meereswinden? Diese Buch ist nicht mehr und nicht weniger als das, was es vorgibt zu sein: Ein Fest!

Guatemala leuchtet

Guatemala ist sicher nicht das Reiseland Nummer Eins, in das man einfach mal so reist. Ab in die Öffis zum Flughafen und mit einem Last-Minute-Ticket – nein, wenn man Guatemala bereist breitet man sich vor. Lässt sich aber noch genug geistigen Spielraum, um den zu erwartenden Eindrücke- Flash genug Raum einzuräumen.

Susanne Hartmann studierte Ethnologie, Volkskunde und Indologie. Und die Maya, ihre Kultur, ihre Geschichte und vor allem ihre Gegenwart sind mehr als nur ein Steckenpferd. In ihren Reiseerzählungen „Guatemala leuchtet“ berichtet sie von ihren zahlreichen Reisen. Und dabei ertappt man sich – als Leser – selbst dabei dem eigenen Forscherdrang schnellstmöglich nachgeben zu wollen. Die Hingabe, mit der sie von ihren Abenteuern erzählt, ist mitreißend. Das beginnt bei einem Einbruch in der Nacht, um auf einem archäologischen Feld, einer Tempelanlage den Sonnenuntergang und den Mondschein so zu erleben wie es die Mayas sicher schon vor Jahrhunderten selbst taten. Und es endet noch lange nicht, wenn blutrünstiges Flattergetier die Unterkunft mit Leben erfüllt.

Auf ihren Reisen hat sie viele dieser Tempelanlagen gesehen. Sie hat sich intensiv mit den Inschriften beschäftigt und sie entschlüsselt. Sie wohnte bei Menschen, die die Tradition der Mayas als selbstverständlich in ihrem Alltag lebten. Der Begriff Studienzweck spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die Leidenschaft diesem Studienzweck zu folgen, ist jedoch die Grundlage all ihrer Reisen nach Guatemala.

Susanne Hartmann hat aber auch die aktuellen Probleme im Auge. Wo beispielsweise einst zahllose Generationen im Fluss badeten, der Fluss Lebensgrundlage war, ist heute mehr nur noch ein giftiges Gewässer anzutreffen. Giftig-Gelbe brühe, die auch schon so manche Leiche mit sich trug. Ebenso spielt die Gewalt in dem lateinamerikanischen Land eine nicht zu unterschätzende Rolle. Entführungen und Erpressungen und Mord sind allgegenwärtig. Auch das muss sie in ihre Beobachtungen/Forschungen einfließen lassen.

„Guatemala leuchtet“ nicht nur nach Susanne Hartmanns Einschätzungen immer noch. Das ist der Hoffnungsschimmer am Horizont ihrer Reiseimpressionen. Man muss nur die Augen offen halten, um ein Land zu erkennen, das derart reichhaltige Kulturgüter wie selbstverständlich erhält. Doch die Selbstverständlichkeit bekommt immer mehr Risse. Auch darüber berichtet die Autorin mit derselben Kraft und Hingabe wie zuvor von den „schönen Dingen des Lebens“. Dieses Buch ist mehr als nur eine Reisebeschreibung eines fernen Landes. Es ist das Abbild eines Landes, einer Kultur, die schon immer im Wandel war. Doch immer schneller rücken die dunklen Wolken der Zerstörung dieser Kultur auf die Pelle.

Altmühltal

 

Ein bisschen Verwirrung spürt man schon. Da liest man vollmundig von Stränden, archäologischen Stätten und entspannten Spaziergängen. Klingt auf den ersten Blick wie ein Reiseband über ferne Länder, eine Region irgendwo am Mittelmeer … jedenfalls weit weg. Und dann liegt all das quasi vor der Haustür. Das Altmühltal hat nichts mit Mühlen zu tun. Also, nicht in einer Dichte wie man es in Holland beispielsweise vermutet. Es ist der Fluss Altmühl, der der Region seinen Namen gab. Und hier kann man das eingangs Erwähnte tatsächlich erleben. Dass er in seinem Einzugsgebiet auch noch das Fränkische Seenland beinhaltet, kann kein Zufall sein.

Autor Andreas Haller kennt die Gegend wie seine Westentasche. Das ist so und das spürt man auf jeder Seite. Zwischen Rothenburg ob der Tauber, wo die Altmühl sich ein ruhiges Gebärflussbett gesucht hat, durch künstlich angelegte Seen (immerhin sieben an der Zahl), durch den Main-Donau-Kanal, der sich des Flusses ein Stück weit annimmt bis hin zum Loslassen in die weite Welt (der Donau) in Kelheim, erlebt man schon beim Lesen ein Abenteuer, das man umgehend in real sehen möchte.

Um bestens auf dieses Abenteuer vorbereitet zu sein, ist es mehr als empfehlenswert mehr als nur einen Blick in dieses Reisebuch zu werfen. Denn so besucht man Absberg nicht nur, um sich zu freuen, dass an den Badestellen ausreichend Parkplätze zur Verfügung stehen – was durchaus für eine gewisse Grundfreude sorgen kann – nein, neben Wakeboarding und Surfing kann man sich im Biohofladen Müßighof die versportete Energie wieder zurückholen.

Andreas Haller kennt seine Pappenheimer. Apropos woher kommt eigentlich dieser Begriff? Aus Pappenheim? Den Ort gibt es tatsächlich, hier thront die Burg der Pappenheimer über der Stadt im Altmühltal. Und hier gibt es eine juristische Kuriosität zu berichten. Welche? Das liest man am besten in diesem Buch, wenn man kurz innehält während man auf dem Weg vom Bahnhof zum Zentrum (oder in umgekehrter Richtung) unterwegs ist. Es lohnt sich.

Genauso lohnt es sich dieses Buch permanent in Griffweite zu haben, wenn man das Altmühltal als Erholungsgebiet im nächsten Urlaub erwählt hat. Oder wählt die Region ihre Besucher selbst?! Diese Frage muss nicht zwingend beantwortet werden, weil man eh ab dem Zeitpunkt, in dem man sich hier auf alles einlässt, keine Fragen mehr offen bleiben. Für die Vollständigkeit des Reiseglücks sorgt dieser Reiseband.