David Copperfield

Muss man sich fast zweihundert Jahre nach Erscheinen noch inhaltlich mit einem Klassiker der Weltliteratur auseinandersetzen? Für die Einen ist „David Copperfield“ ein dicker fetter Wälzer, den man sich an exponierter Stelle ins Regal stellt, weil es sich einfach so gehört. Für die Anderen gehört der Roman ebenso genau dort hin, aber erst nachdem man ihn gelesen hat. Für alle diejenigen, die meinen, dass knapp eintausenddreihundert Seiten einfach zu viel sind und man doch lieber eine sinnentleerte Serie im Stream bingen sollte, stellt dieses Buch nur im besten Fall eine Kehrtwende dar.

Der kleine David verliert erst den Vater, die Mutter heiratet den Falschen, der sich alsbald als gefühlslose Ekel erweist, die Kindheit verbringt der Knirps bei Verwandten, die ihm Liebe schenken wie er es noch nie erlebt hat, er wird erfolgreicher Schriftsteller – so in etwa beginnt und verläuft das Leben von David Copperfield. Kurz und knapp. Also genau das Gegenteil, was Charles Dickens gemacht hat.

Es tut gut zu sehen, dass Legenden niemals sterben. Dafür sind die gemacht. Sie selbst hielten sich nie für Helden. Ihr Tun, ihr Handeln, ihr Vermächtnis macht sie unsterblich. Im Falle von Charles Dickens (C.D. und David Copperfield, D.C. – die persönliche Note ist unverkennbar) ist der Nachhall bis heute vernehmbar. Es gibt Gesellschaften, die es sich auf die Fahne schreiben Dickens’ Leben am selbigen zu erhalten.

Ja, dieses Buch ist wahrhaft eine Herausforderung. Charaktere tauchen kurz auf, verschwinden seitenlang scheinbar für immer aus dem Blickfeld, um dann unversehens wieder ins Geschehen einzugreifen. So was nennt man wohl Freundschaft, wenn man bei Bedarf zur Stelle ist und zu Seite steht. Je mehr man in dieses Buch, in die Welt des David Copperfield eintaucht, desto mehr kratzt an einem die Frage wie dieses Buch wohl heuet geschrieben würde. Die harte Kindheit, der Erfolg als Autor – das kann einen modernen Menschen schon mal die Flausen in den Kopf treiben. Besonders, wenn man bei Preisverleihungen (natürlich ungerechtfertigt) übergangen wird. Würde man sich heutzutage in den sozialen Medien über den Verfall der Sitten und die eigene Missachtung in der Kindheit auslassen? Sich in Boulevardmagazinen unverblümt über das erfahrene Unheil auslassen? Wie gut, dass Mitte des 19. Jahrhunderts noch jeder seines eigenen Glückes Schmied war. Nur so werden mehr als tausend Seiten zu einem Parforceritt, der keine Alterbeschränkung kennt, und niemals als angestaubt (an exponierter Stelle) im Regal der Vergessenheit anheimfällt.