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Umbrien

Toscana, Abruzzen, Latium, Marken – und mittendrin Umbrien. Das Herz für jeden, der Italien nicht einzig allein als eine riesige Ansammlung an Badeorten versteht. Kein Meer, dafür berge und eine überbordende Anzahl an geschichtsträchtigen Orten. Assisi, die Stadt, die mit einem Namen – Franziskus – verbunden ist wie keine andere Stadt. Hier bebt auch öfter mal die Erde. Gubbio, die Stadt, die ihre Traditionen pflegt wie man es selten auf der Welt sieht. Und dann noch Perugia, die Hauptstadt Umbriens, die ihr historisches Stadtbild erhalten hat, so dass man sich Jahrhunderte zurückgesetzt fühlt, ohne dabei die Annehmlichkeiten des Fortschritts zu vermissen. Das ist Umbrien.

Marcus X. Schmid und Petra Regensburger kann, ja muss man vertrauen, wenn es sich um Reisebücher über Italien handelt. Gefühlt kennen die beiden hier jeden Grashalm, wissen wann und von wem er gesät wurde. Jeder angelegte Weg wird erst freigegeben, wenn die beiden vor Ort sind. So scheint es. Und wenn man sich bei der Planung der nächsten Reise intensiv mit dem Reiseband auseinandersetzt, wird schnell klar, dass das die Reise des Lebens wird. So umfangreich, so detailliert, so präzise beschriebene Routen findet man nirgends – außer eben hier.

Die Cascata delle Marmore ist der Beweis, dass künstliche Naturwunder schon immer in der Natur des Menschen lagen. Ja, hier kann es an manchen Tagen auch mal etwas voller werden, wenn man sich in der aufspitzenden Gischt des Wasserfalles bei Terni im Süden Umbriens etwas Abkühlung gönnt. Doch die meisten werden über ein „Oh“ nicht hinauskommen. In einem gelb unterlegten Kasten, die Infokästen mit Aha-Effekt-Garantie, haben die beiden Autoren den ultimativen Reisetipp um das dreistufige Naturwunder aus Menschenhand dargelegt. Links, rechts, bis zu einer Schranke – hier wird wirklich jeder Meter Fußweg erläutert, so dass Navigation mit Hilfsmittelchen unnötig wird. Auch als Reiseband in digitaler Form, was wie immer bei den Reisebüchern aus dem Michael-Müller-Verlag, eine Option ist.

Das Zusammenspiel von beeindruckenden Fotos und exzellent recherchierten Texten von Wanderungen, Rundgängen und Ausflügen halten das Blut des Touristen in Wallung. Abgelegene Orte bekommen den gleichen Platz wie die offensichtlichen Highlights, die je nach Jahreszeit einem niemals allein gehören. Es ist die Mischung aus Trubel und Einsamkeit, die Umbrien so einzigartig macht. Lustwandeln mit gleich zwei Autoren, die wissen, wo man hinschauen und wo man sich sehen lassen muss.

Trauben schwarz wie Blut

„Trauben schwarz wie Blut“ – das klingt doch vom Beginn an wie eine Geschichte, die man nicht im Vorbeigehen „zusammenschreibt“. Und dann die elegante Dame auf dem Cover, der durchdringende Blick, die noble Körperhaltung – wer da nicht Appetit bekommt zumindest einen ins Buch zu werfen, dem ist nicht zu helfen. Es kommt noch besser.

Casimiro Badalamenti lebt im Sizilien der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Cinisi ist seine neue Heimat geworden – oder soll man sagen, dass er hier Unterschlupf gefunden hat? – nachdem er Giardinello verlassen musste. Concetta nimmt den ehrgeizigen, doch grobschlächtigen Weinbergbesitzer bei sich auf. Auch ihre Reputation ist nicht die allerbeste. Bei gehen alle ein und aus, inklusive des Pfarrers, die Zuneigung suchen. Doch nun herrscht im Haus ein anderer Ton. Casimiro reißt den Haushaltsvorstand an sich. Kinder will er keine haben, viel mehr will er aufsteigen, ein ehrenwerter Mann sein. Ehrenwert – Sizilien: Alles klar?! Er muss einsehen, dass das Schicksal stärker ist als jeder erzwungener Wille. Casimiro wird Papa. Nicht ein-, nicht zwei-, mehrmals. Wer nun denkt, das der hartherzige Casimiro sich wandeln wird, kommt ziemlich schnell dahinter, dass das Gegenteil der Fall ist.

Die Zeit vergeht, Casimiro setzt alles daran ein geachteter Mann zu werden. Die Frucht seiner Lenden hat er abgegeben. Ja, abgegeben. Zu Menschen, die willige, nein, billige Arbeitskräfte benötigen. Und die in ihrer Verachtung die Kinder wie Dreck behandeln. Die Kinder von Casimiro Badalamenti – so poetisch der Name klingt, so widerlich ist sein Charakter. Auch die Rückkehr in seinen Weinberg, wo er exzellenten Wein anbaut, der für die Region ganz besonders ist. Die Trauben sind … schwarz … wie Blut.

Vier Kinder hat Casimiro gezeugt. Drei leben inzwischen wieder bei ihm. Darunter auch Nicola, sein Erstgeborener, der Stammhalter. Mit eigenem Kopf, wie der Vater. Doch Nicola steht seinem Erzeuger nicht wohlwollend gegenüber, um es ganz vorsichtig auszudrücken. An seiner Seite wird er bald schon Rosaria haben. Mit ihr soll das Glück vollkommen werden. Wird es auch. Für eine bestimmte, für beide viel zu kurze Zeit. Denn ihre Verbindung steht unter keinem guten Stern. Das merkt auch Casimiro schon bald. Es geht um seine Ehre!

Livia de Stefani – das ist die elegante Dame auf dem Cover – schreibt über ihre Heimat, die sie der Liebe wegen verließ. Aus Rom schreibt sie über ihre Heimat, die so roh und stellenweise brutal, ja unmenschlich dargestellt wird. Und das bereits 1953. Ihre Landsleute nahmen ihr ihre schonungslose Geschichte übel, so dass der Roman fast in Vergessenheit geriet. Die Strukturen, was heute gemeinhin und mit einem Handstreich als mafiös bezeichnet wird, der Sonneninsel Sizilien werden hier bis ins kleinste Glied der Gesellschaft dargestellt. Hier räkeln sich keine machthungrigen, angsteinflößenden Ehrenmänner im Sessel und beraten wortreich den nächsten Schlag gegen wen oder was auch immer. Hier ist ein Emporkömmling, der seiner eigenen Familie den Dolchstoß versetzt und es nicht bemerkt. Als die Schande zu präsent ist, wird er zum Wirbelwind seiner eigenen Perfidität. Die Ohnmacht und die den Menschen eigene Art mit dieser bedrohlichen Situation umzugehen, die detaillierte Beschreibung einer Gesellschaft, die stets am Abgrund taumelt – und die Tatsache, dass der Roman von einer Frau geschrieben wurde – machen „Trauben schwarz wie Blut“ zu einem Goldstück der Literatur.

Es gibt viele Mafiaromane. Viele erregen nur durch die Erwähnung des Wortes Mafia Aufsehen. Dann gibt es die tiefblickenden Einsichten wie beispielsweise die Bühne von Leonardo Sciascia. Und dann gibt es diesen Klassiker. Noch vor allen anderen hat Livia de Stefani, die selbst aus einer wohlhabenden sizilianischen Familie stammt, diese Art des Zusammenlebens (zu oft ist es ein Gegeneinander) beschrieben. Dieses Buch ist eine Wiederentdeckung, die viel zu lange verschollen war.

Hiroshima – Eine Stimme aus der Hölle

Ein Jahr gab sich Hisashi Tôhara, um seine Erlebnisse des 6. August 1945 niederzuschreiben. Jahrelang lagen sie gut aufbewahrt in seinem Haus. Als seine Frau Jahre nach seinem Tod sie wieder entdeckte, zerbröselte das Papier zwischen ihren Fingern. Sie rettete die Aufzeichnungen und schrieb sie erneut nieder. Nun sind sie endlich auf Deutsch nachzulesen. Hisashi Tôhara lebte zu dieser Zeit in Hiroshima.

Er war Schüler, besuchte die unterste Klasse der Oberschule, versuchte sich anzupassen und den Großen nachzueifern. Auf dem Heimweg, er wollte den Zug nehmen, traf er einen Freund, Ochiai. Sie fuhren zusammen ein Stück, unterhielten sich eifrig. Teenager. Mit einem Mal wurden sie geblendet. Ein Licht, so stark wie man es sich nicht vorstellen kann. Die wurden herumgeschleudert. Der Himmel verfinsterte sich. Um sie herum Feuer so weit das Auge reicht.

Hisashi läuft mit Splittern in den Füßen. Unterwegs fleht ihn eine Frau an. Ihre Tochter liegt unter den Trägern eines zusammengestürzten Hauses. Eigentlich will und muss Hisashi seine eigene Haut retten. Pflichtbewusst hilft er der verzweifelten Mutter. Weit und breit kann er weder für sich noch andere Hilfe entdecken. Überall nur Feuer, Rauch, verbrannte Erde.

Und verbrannte Haut, die mal lila, mal braun im Nebel des Rauches schimmert. Im Krankenhaus bzw. dem, was davon übrig blieb, bekommt er Hilfe. Die erste Atombombe, vor der so gut wie alle an der Entwicklung Beteiligten warnten, hat die Welt verändert. Nicht nur die japanischen Grundwerte – wie Hisashi Tôhara es eingangs des Buches bedauert. Zurückbleibt ein Gedächtnis, das im Jahr 2025 sein verzichtbares 80. Jubiläum begeht.

Was man gestern getan hat, ist noch präsent. Vergangene Woche liegt schon halb im Vergessenen. Was vor einem Monat war, ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Hisashi Tôhara erinnert sich auch noch ein Jahr später glasklar an die Ereignisse des 6. August 1945. Mit seiner Frau wird er sein gesamtes Leben nicht über diese Ereignisse reden können. Sie vermutet einiges, wagt es aber nicht ihn zu fragen. Erst diese eindrücklichen Erinnerungen führen ihr – und nun endlich auch einem breiten Publikum – die einfühlsamen Gedanken ihres Gatten vor Augen. Der Kaiser, der für die meisten zum ersten Mal erlebbar wird als er im Radio die Kapitulation (er versteckt sich hinter der Formulierung, dass Japan dem Potsdamer Abkommen beigetreten sei) bekannt gibt, ist für Hisashi Tôhara ein Schock. Das stolze Japan ist am Boden zerstört. Hisashi Tôhara erkennt die (Trag-) Weite dieser Katastrophe jede Minute. Hier steht kein Stein mehr auf dem Anderen. Und die Gesellschaft hat sich nicht minder langsam auch verändert … meist nicht zum Guten.

Der falsche Vermeer

Es sind nur ein paar Puzzleteile. Also eine ganz leicht zu lösende Aufgabe. Doch erst, wenn das letzte Teilchen sich ins Bild fügt, wird das Gesamtbild sichtbar.

Der krieg ist vorbei. Die Niederlande sind befreit. Van Aelst sitzt im Gefängnis – Kollaboration mit dem Feind. In Frankreich wurde Frauen der Kopf geschoren, so dass jeder die sichtbare Schande sehen konnte. Schließlich war nach de Gaulles Aussage jeder Franzose im Widerstand. In den Niederlanden ist man nicht ganz so expressiv. Trotzdem muss man sich verantworten, hat man mit den braunen Horden gemeinsame Sache gemacht und daraus einen eigenen Vorteil gezogen. Und somit auch zum Unwohl der niederländischen Gemeinschaft. Das ist Puzzleteil Eins.

Ja, der niederländische Untergrund war aktiv, erfolgreich, bekam nur weniger Aufmerksamkeit nach dem Krieg. Auch Mag van Hettema kämpfte auf ihre Art gegen die Besatzer und ihre Willkür. Nun sind die Fronten geklärt, die Aggressoren verjagt. Nun beginnt die Zeit der Aufarbeitung. Als Journalistin ist sie endlich wieder frei in ihrer Arbeit. Doch die kleinen Alltagsgeschichten füllen sie nicht aus.

Da erfährt sie vom Schicksal van Aelsts. Der Fall scheint sonnenklar. Er hat – mit enormem Gewinn – dem Generalfeldmarschall Hermann Göring, der Dicke, der Kunstsammler, der Uniformkönig (dem Anschein nach Phantasieuniformen) von Großdeutschland Kunst verkauft. Auch einen wundervollen, prächtigen Vermeer. Niederländisches Kulturgut. An einen Deutschen. Und dann ausgerechnet dem?! Klar, dass van Aelst dafür büßen muss. Doch Meg kommt da ein Verdacht. Puzzleteil Zwei.

Van Aelst sieht das natürlich anders. Würde jeder behaupten, dessen Haupt auf dem Spiel steht. Ist nur menschlich. Doch van Aelst hat gute Argumente. Leider kann er sie nicht alle komplett und schon gar nicht sofort ins Gefecht führen. Denn dann würde er sein Geschäftsgeheimnis verraten. Und sich somit seiner Lebensgrundlage berauben. Puzzleteil Drei.

Patrick van Odijk mischt auf seiner Wortpalette unverrückbare historische Fakten, mengt eine gehörige Portion Phantasie bei, akzentuiert mit ein wenig krimineller Energie und malt mit Eleganz einen Kunstkrimi, der an Chuzpe – ha, den Nazis mit Chuzpe eine Schnippchen schlagen: Doppelter Schlag ins feige Gesicht! – kaum zu überbieten ist.

Sich diebisch freuend kann man es kaum aushalten endlich weiterzublättern. Wie ein ungeduldiges Kind rutscht man auf dem Hosenboden umher, um zu erfahren, ob die Gewieftheit wirklich echt ist oder ob hier jemand ein doppeltes Spielchen treibt, um die eigene Haut zu retten. Und vor allem will man wissen, ob der erhöhte Einsatz von Meg auch wirklich zielführend ist. Großartig und vielschichtig! Eine seltene Kombination.

Latinoamericana

Nicaragua, Venezuela, Peru, Kolumbien, dazu Mexikaner und Kubaner – diese Reise kann man nicht buchen. So eine Reise entsteht im Kopf und folgt dem Herzen. Marko Pogačar vereint beides. Kopf und Herz, fasst sich letztes und reist wohin es ihn verschlägt. Was „Latinoamericana“ von anderen Reiseberichten unterscheidet sind die Begegnungen mit Menschen, die vielleicht nicht exemplarisch für ihr Land sind, sondern ihre Verbundenheit mit der Stadt, in der sie leben. Keine glücksselige Beschreibung von Freiheit und unsäglichen Ausführungen und Aufzählungen von Begrifflichkeiten. Leben im Hier und Jetzt.

Marko Pogačar begegnet ihnen auf Augenhöhe. Ihm ist bewusst, dass er ein privilegierter Reisender ist. Farbige Fensterläden, Warteschlangen an Eisständen, kurze Wortwechsel und immer wieder das Auge schweifen lassen – so entstehen unvergessliche Momente für den Autor.

Als Leser ist man da eigentlich außen vor. Mal neidisch, mal staunend, doch immer interessiert folgt man Pogačars Ausführungen. Zurückschauen gehört für den 1984 in Kroatien geborenen Autor dazu. Er hat in jungen Jahren Krieg erlebt. Ein Schicksal, das er mit vielen, denen er begegnet, teilt. Doch ihm gelingt es immer wieder genau diese Gemeinsamkeit auszublenden – das Leben ist hart genug. Da muss man nicht zusätzlich Öl ins Feuer gießen.

Es sind einhundert Seiten, die einen ganzen Kontinent so darstellen wie er ist. Bunt, hart, zart, rebellisch, neugierig. Den Gaumen verwöhnt, die Sinne berauscht, das Augen überlaufend kämpft Marko Pogačar den schönsten Kampf seines Lebens. Reisen und davon erzählen – das, was viele versuchen, gelingt ihm spielerisch und bescheiden. Als Zusatzlektüre im Handgepäck ist dieses Buch niemals die falsche Wahl.

Qimmik

Mit dem Wort Genozid sollte man sehr bedächtig umgehen. Die Vorstellung darüber reicht weit über den brachialen Schuss hinaus. Einen Menschen zu brechen, ist ein Einfaches im Vergleich zu dem, was man einem Volk, einer Volksgruppe antun kann, um sie ihrer Identität zu berauben. Davon berichtet Michel Jean in „Qimmik“.

Kanada in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Also vor gerade mal einem reichlichen halben Jahrhundert. Der Weltkrieg ist lange vorbei. Die Welt taumelt immer noch. Ulaajuk ist Jäger und versucht nun seine Felle zu verkaufen. Kuujjuaraapik, wo Tundra und Taiga sanft ineinander übergehen, scheint für in der ideale Ort zu sein. Saullu, wie Ulaajuk Inuk (bei uns besser bekannt als Inuit, Einwohner der arktischen, subarktischen Gebiete auch in Kanada), verliebt sich in den geschickten Jäger. Er und Sie – das ideale Paar. Schnell ist beschlossen gemeinsam die Jagdgebiete nach Karibu, Robben und Beluga zu durchforsten. Ihre Zeit ist von Entbehrungen geprägt, es ist aber auch die Zeit der Liebe. Leider verliert Saullu ihr Kind. Nach Jahren kehren sie zurück an den Ort, der der Grundstein ihrer Liebe ist: Kuujjuaraapik.

Der Ort hat sich verändert. Straßen und Häuser sind hinzugekommen. Der beschauliche Ort hat sich in einen geschäftigen Platz verwandelt. Ulaajuk fällt sofort auf, dass hier eine trübsinnige Stimmung herrscht. Es fehlt das Gebell der Hunde. Auf ihrer Jagd hatten er und Saullu zwei Gespanne mit je zehn Hunden immer bei sich. Tag und Nacht waren die treuen Gefährten um sie herum. Sie brachten sie von Ort zu Ort, waren unerlässliche Helfer. So wie schon ihre Väter, ihre Großväter und Urahnen gehörten Mensch und Tier zusammen, wie die Nacht, die auf den Tag folgt.

Hoffnung bietet den beiden die Tatsache, dass Saullu erneut schwanger ist. Das Schicksal meint es dieses Mal gut mit ihnen. Saullu und Ulaajuk sind nun Eltern. Einen Tag später stirbt Saullus Vater. Ein Schicksalstag. Der noch nicht zu Ende ist. Denn genau in dem Moment, in dem ihr Vater zu Grabe getragen wird, erscheint einmal mehr die Sécurité du Québec. Sie waren schon einmal hier, als Saullu und Ulaajuk auf der Jagd waren. Damals erschossen die Beamten alle Hunde der Inuk. Das allein ist schon verächtlich genug. Aber einem Volk einen Grundbestandteil seiner Kultur derart brutal und unnachgiebig zu entreißen, ist zumindest moralisch verwerflich, bislang noch nicht justiziabel und deswegen ein Akt der Unmenschlichkeit. Ganz zu schweigen vom Leid der Tiere. Dieses Mal haben die Beamten die Hunde von Ulaajuk im Visier…

Es ist erstaunlich wie viel Geschichte, wie viele Geschichten Michel Jean auf zweihundert Seiten unterbringen kann. Ein rasanter Horrortrip durch ein historisch verbürgtes Kapitel kanadischer Geschichte, das hierzulande kaum bekannt sein dürfte. Bis jetzt. Michel Jean ist der Geschichtsvermittler Kanadas, leider auch der bitteren Kapitel.

Kurze Geschichten über böse Menschen und andere … – Band 1

Da steht man nun vor dem reichhaltig aufgefüllten Krimibüffet. Was soll man sich nun zuerst zu Gemüte führen? Einen Mord? Eine gut durchdachte Rache? Gift? Hackebeil? Ach, am liebsten würde man sich den Bauch voll schlagen mit all dem Übel dieser Welt. Also als Krimifan. Am besten wären doch so klitzekleine Gemeinheiten, die einem munden, aber den Magen nicht belasten. Bitte sehr, Ihre Bestellung. „Böse Menschen und andere…“

Andere was?! Menschen, böse Geschichten? Fiese Gesellen? Und schon hängt man am Haken. Kaum eine Zeile gelesen – nur den Titel – und schon ist man angesteckt von der Sucht Seite für Seite zu durchforsten nach den übelsten Machenschaften, die ein menschliches Gehirn sich nur ausdenken vermag.

Rolf Dangel lässt es richtig krachen. Blatt vorm Mund, um ja nicht anzuecken an den sprachlichen Moralaposteln – nicht mit ihm. Er schaut den Tätern ins Hirn, ins Herz und aufs Maul. Und wenn die sich nicht im Griff haben, was kann denn der Autor dafür?! Alles raus, was raus muss. So mancher lässt sich im Buch betäuben – der Leser ist die ganze Zeit hellwach. Und wenn ein Delinquent doch das letzte Schlupfloch der Justiz für sich ausnutzt, freut man sich umso diebischer, wenn Justizia nicht nur die Augen verbunden hat, sondern auch noch in die komplett falsche Richtung schaut. Manchmal trägt die Rache schwarz und rot – das kann man genießen wie man will. Kalt oder heiß spielt keine Rolle.

Diese fiesen, kleinen Appetithappen aus der „Gerichteküche“ sind garniert mit Wortwitz und unbeirrbarer Stringenz. Eine Prise Kaltblütigkeit verleiht allem eine Frische, die in so mancher Blutorgie fehlt. Raffinesse ist des Künstlers Blut. Und davon gibt es hier jede Menge. Die Blutspende wird zum Augenschmaus, der alle Sinne erfordert. Wer findet den Täter schneller? Autor oder Leser? Ein rasanter Wettstreit, der den Leser übervorteilt, denn er kann zurückblättern sich noch einmal alles in Erinnerung rufen. Und darum geht es doch! Der Leser soll unterhalten, an mancher Stelle herausgefordert werden.

Die Rechnung bringt es ans Tageslicht: Volltreffer. Jede bestellte Position ist aufgeführt – es hat gemundet – zufrieden zieht man von dannen und freut sich beim letzten Blick auf das Cover, dass es auf jeden Fall Nachschlag geben wird. Denn das ist nur der Anfang … (an dieser Stelle folgt nun ein gruseliges höhnisches Lachen) aber wie soll man das in Buchstabenform quetschen?!

Wassermilch & Spitzenwein

Alles begann so unbeschwert. Sieht man mal von der Aussicht auf ein kleines Verbot ab. Ein herrlicher Sommertag in Berlin. Andrea, ihre jüngere Schwester Gerta und Luise waren baden. Ausgelassene Stimmung unter den jungen Frauen. Ein Tanzlokal lässt die geforderte Heimgehzeit im Handumdrehen vergessen.

Kurze Zeit später: Andrea und Max sind nun ein Paar. Sie haben sich beim Tanzen kennengelernt. Sie hat sich höflich mit ihrem Namen vorgestellt. Anstand hat auch Max. Kein Holterdiepolter sich in eine Affäre stürzen. Dafür sind Sie und Er zu gut erzogen. Und bald stellt sich auch schon Nachwuchs ein. Irene. Irene Bindel. Die Autorin dieses Buches. Da ist die unbeschwerte Zeit auch schon bald vorbei. Max ist Jude. Die Machthaber sehen darin einen Grund ihn zu schikanieren. Plötzensee ist bald schon seine neue Adresse. Händchenhalten im Knast, Bemerkungen über die Haftbedingungen etc. … alles verboten. Sonst …

Das Sonst wird bald zur Realität. Auch als der Krieg zu Ende ist. Es gibt nur noch Mutter und Tochter. Den Vater gibt es nicht mehr. Eine Geschichte von vielen? Inhaltlich sicher Ja. Sprachlich ist diese Biographie ein Juwel. Denn Irene Bindel schafft es trotz der Bitterkeit ihrer Geschichte sich das Positive zu bewahren. Mit jeder Zeile spürt man das gewinnende Lächeln, das sie beim Schreiben ausstrahlt.

Die Sehnsucht nach dem Vater, nicht nach einer Vaterfigur, sondern ganz profan nach einem Vater treibt sie ihr Leben lang um. Auch als sie in Kanada lebt. Der Vater ist immer bei ihr. Aber niemals wirklich da. Kein Händchenhalten, nicht auf den Rücken krabbeln, mit ihm reden, Ratschläge bekommen. All das lernt sie nie kennen. Es gelingt ihr mit dieser Sehnsucht, mit diesem unerfüllbaren Wunsch zu leben.

Schlussendlich ist dieses Buch die Manifestation ihrer Sehnsucht. Es überrascht wie offen und ohne Scheu sie ihr Innenleben nach außen trägt. Ohne dabei Mitleid einzufordern. Oder gar Aufmerksamkeit erheischen zu wollen. Nein, Irene Bindel weiß um ihr Schicksal. Es macht dem einen oder anderen sicher Mut, der Gleiches oder Ähnliches zu verwinden hat. „Wassermilch & Spitzenwein“ lebt von der Zuversicht, dass Leben und leben lassen die Grundessenz für eigenes Vertrauen ist. Immer wieder muss man schlucken, liest man die Erinnerungsbruchstücke von Irenes Mutter von den Besuchen im Gefängnis. Dann wiederum erhellen die privaten Fotos dieses dunkle Kapitel. Eine echte Berg- und Talfahrt der Gefühle!

Backstage

Es mag für viele eine Überraschung sein, aber Donna Leon kann mehr als nur Brunetti. Andererseits kann man Brunetti nur beherrschen, wenn man sich zuvor eine gesunde Basis an Neugier, Schreibfertigkeit und mentaler Agilität angeeignet hat.

So was beginnt schon in der Kindheit, wird im Berufsleben fortgesetzt. Nur, um dann im Fortgang zu einer Ikone des Krimis heranzureifen. Um es kurz zu machen: Hätte Donna Leon (eigentlich de Léon, doch woher aus Südamerika der Großvater in die USA auswanderte, verriet er niemals) nicht die Empathie für Menschen und ihre Geschichten, wäre Brunetti ein Schreibtischtäter, dem kein Mensch über die Schulter schauen möchte.

Auch Donna Leon hatte schwierige Zeiten. Zeiten, in denen der Geldbeutel aus Zwiebelhaut bestand. Charles Dickens half ihr mit seinen Erkenntnissen diese Zeit zu überstehen. Und siehe da: Zwei durchaus attraktive Angebote brachen über sie herein. Zum Einen konnte sie ihren Doktor in Literatur machen und in den USA dem Studienbetrieb treu bleiben. Zum Anderen ergab sie die (einmalige) Chance ins Ausland zu gehen. Im Iran wurden Englischlehrer gesucht, die Helikopterpiloten das ABC und Einmaleins der internationalen Flugsprache beizubringen. Der Kulturschock und die Umstellung auf komplett andere Ge(p)flogenheiten lagen ihr näher als der gemütliche Bürodienst in halbwegs gehobener Position.

Sie lernt, dass der direkte Kontakt oft, nein, immer die besser Variante ist, um sich einzugliedern. Keine Binsenweisheit, sondern Notwendigkeit. Miete in einem Umschlag überreichen sorgt für bessere Behandlung im Alltag – klingt komisch, ist aber so. Sie nimmt sehr wohl wahr, was um sie herum passiert. In der heutigen Zeit, in der man digital „ohne viel Aufwand und viele effektiver (weil unpersönlicher)“ eine fast schon antiquarische An- und Einsicht.

Da stimmt es einen schon fast traurig, wenn man liest, dass Donna Leon bis vor ein paar Jahren nicht „Smoke on the water“ von Deep Purple kannte. Im Dezember 1971 unterrichtete Donna Leon Schweizer Kinder in englischer Sprache an einer Privatschule. Allesamt ganz braven Buben und Mädchen, die gottesfürchtig dem Schulstoff folgten. Bis … ja, bis bekannt wurde, dass Frank Zappa in Montreux spielt. Mit einem Mal war all die Frömmigkeit der Kinder einer enervierenden Klagemasse gewichen. Miss Leon wollte die Klasse als Anstandsdame zum und beim Konzert begleiten. Klar, dass Donna Leon da sofort dabei ist- Leon und Zappa: Das passt! Denkste! Frank Zappa kannte sie nicht. Der Rest ist bekannt. Das Casino brennt, geordneter Rückzug aus der bedrohlichen Flammenhölle. Jahre später erntet sie dafür Erstauen und Bewunderung. Bei einer Party verblüfft sie alle mit der Anekdote, dass sie damals dabei war. Dass „Smoke on the water“, nach der Hymne das zweitbekannteste Lied in den Staaten, darauf basiert, war ihr wiederum neu…

Donna Leons Geschichten zu folgen, ist jedes Mal eine kleine Reise. Mal staunt man mit aufgerissenen Augen, mal schüttelt man ungläubig den Kopf. Dann fallen einem Parallelen zu den Brunettis auf, um sich sofort wieder in einer anderen Geschichte zu verlieren. Was backstage passiert, bleibt nicht immer backstage. Himmlische Einblicke!

Das Verschwinden des Ettore Majorana

Da ist doch die ganze Stimmung verschwunden, wenn man weiß wie es ausgeht! Könnte man meinen. Denn „Das Verschwinden des Ettore Majorana“ ist historisch verbürgt – ein gutes Ende gab es nicht, gibt es nicht bis heute. Wenn „gutes Ende“ das Wiederfinden des besagten Ettore Majorana bedeutet.

Dieser Ettore Majorana wurde 1906 in Catania in Sizilien geboren. Als Kind wurden seine Fähigkeiten als herausragend der Familie präsentiert. Wo andere Kinder hübsch rausgeputzt ein Liedchen trällern, überraschte er mit mathematischen Höchstleistungen. Als Student arbeitete er mit Enrico Fermi in Rom und Werner Heisenberg in Leipzig zusammen, immerhin Physik-Nobelpreisträger der Jahre 1938 und 1933. In seiner Forschungsgruppe bei Fermi legten alle die Rechenschieber beiseite, wenn Majorana anwesend war. Allein dieses Bild des Einzelgängers macht die Suche nach ihm von vornherein sinnlos. Majorana wird selbst Professor, macht Entdeckungen, die er nicht veröffentlicht, verbietet anderen (auch Fermi!) darüber zu reden. Das kam unter anderem Heisenberg zugute.

Leonardo Sciascia begibt sich – nicht als Erster – auf die Suche nach dem verschwundenen Genie. Er stöbert Briefe auf, durchforstet Archive, interviewt Menschen, mit denen Majorana in Kontakt stand. Das waren nicht viele. Fest steht nur, dass Majorana mit dem Schiff nach Neapel gefahren ist. Dort, wo er als Professor arbeitete. Der Fall ging bis zum Duce. Der machte eine Aktennotiz, dass Majorana unbedingt gefunden werden muss. In einer Zeit, in der Atomforschung so eminent wichtig war, brauchte man jedes Genie. Aber vielleicht wollten die Genies ja gar nicht mit ihrer Forschung berühmt werden. Leó Szilárd kannte nachdem er erfahren hat, was er „anrichtete“ nur noch eines: Die Bombe verteufeln – koste es, was es wolle. Majorana ging den Weg in den Untergrund. Nicht, um zu kämpfen, sondern in Frieden zu leben.

Einmal wurde er in Venezuela gesehen. Doch dank der spärlichen Qualität der Fotografie wird man es wohl nie herausfinden. So beharrlich Majorana wissenschaftlich gearbeitet hat, so unnachgiebig forscht Sciascia nach Spuren über den Verbleib des Physikers. Er wird ihn nicht finden. Aber sein Theorien – Majorana sei im Kloster untergetaucht – führten zu heftigen Auseinandersetzungen. Aber Sciascia wäre nicht Leonardo Sciascia, wüsste er nicht damit umzugehen. So traurig die Tatsache ist, dass auch ein gewiefter (literarischer) Schnüffler wie Leonardo Sciascia den verschwundenen Ettore Majorana nicht aufstöbern kann, so eindrucksvoll ist es seinen Gedankengängen zu folgen. Solange man nicht die letzte Seite, den letzten Absatz, das letzte Wort – ja den letzten Buchstaben in sich aufgesaugt hat, besteht immer noch die Hoffnung, dass Majorana gefunden wird. Das kann nur Literatur!