Archiv der Kategorie: Literally Britain

Mathilda

Der 9. November ist besonders für Deutsche ein besonderer Tag des Gedenkens. Zum Einen ist es der Tag des Mauerfalls, zum Anderen aber auch der Tag, an dem offener und für jedermann legitimierter Judenhass straffrei war, zum Glück für eine begrenzte Zeit. Im Jahr 1819 beginnt eine Frau ihr Tagebuch zu schreiben. Das tut man in heutiger Zeit, um sich selbst auszudrücken – so wie es ursprünglich mal angedacht war. Oder man tut es, weil es hip ist oder weil man einer Tradition folgen will, selbst eine Tradition ins Leben rufen will. Wie auch immer: Dieses Tagebuch ist in tiefes Schwarz getaucht. Denn es ist das Tagebuch von Mathilda. Nicht die, die schon als Kind lernen muss ihre übermenschlichen Fähigkeiten zu kanalisieren – wie im gleichnamigen Film. Auch nicht die junge Mathilda, die den Tod an ihren Eltern rächen will und dafür die Dienste des Profikillers Leon in Anspruch nimmt – ebenfalls wie im Film.

Nein, sie ist die Frucht einer unzerstörbaren Liebe. Einst waren ihre bildschöne, gebildete, empathische Mutter und ihr Vater füreinander bestimmt. Sandkastenliebe mit der Aussicht auf ewiges Glück. So war das damals im England des ausgehenden 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Doch schon kurz nach der Geburt der Tochter verstarb die Mutter. Und der Vater war ein gebrochener Mann. Er konnte die Anwesenheit von Mathilda nicht ertragen. Und verschwand. Einfach so. Nach Deutschland, nahm einen anderen Namen an. Mathilda wuchs derweil bei der Tante auf. Liebe und Zuneigung waren fromme Wünsche, nicht mehr und nicht weniger. Als dann auch die Tante im Sterben liegt, schient Licht ins dunkle Leben des Teenagers zu kommen. Der Vater will sie wieder sehen, will sie kennenlernen. Er erklärt sogar, dass es für nichts Sehnlicheres auf der Welt gibt als sich voll umfänglich um sie zu kümmern. Ein Wendepunkt? So wie der Mauerfall am 9. November 1989? Zuerst schon, doch dann wird es doch eher ein Wendepunkt wie der in der Nacht des 9. November 1938.

Mathilda ist voller Hoffnung, nicht aufgekratzt, doch innerlich lodert die Euphorie wie niemals etwas zuvor in ihr. Der Funke erlischt relativ schnell. Vater ist depressiv, zerstörerisch in fast jeder Hinsicht. Sich selbst zu vernichten scheint sein Elixier zu sein. Andere mit zu reißen geht für ihn damit Hand in Hand.

Das bisherige dunkle Leben, das gerade erst mit Licht gefüllt wurde, scheint im ewigen Dunkel der geistigen Nacht zu verenden…

Mary Shelley ist für die meisten die Autorin des wohl bekanntesten One-Hit-Wonders der Literatur, „Frankenstein“ – das geht soweit, dass einige denken, dass der Vorname des Monster „Mary Shelleys“ ist. „Mathilda“ ist das Folgewerk. Und hier beweist sie allen Kritikern, dass „Frankenstein“ keineswegs ein One-Hit-Wonder war. So düster die Geschichte auch sein mag. So klar und präzise zeichnet sie den Niedergang eines Menschen, dem alles genommen wurde, das man mit Geld nicht kaufen kann. Grandios, faszinierend, um immer wieder, immer noch mehr als lesenswert.

Beatrice Webb – Aus ihren Tagebüchern

Wer sich eine Biographie zur Hand nimmt, ist meist schon ein Fan desjenigen, dessen Leben beschrieben wird. Ob man ihn dann nach der Lektüre kennt oder „nur besser kennt“, muss man für sich selbst entscheiden. Besonders, wenn das Objekt der Begierde von einem Anderen beschrieben wurde. Je länger die Lebzeit her ist, desto größer der Einfluss und damit die Sichtweise der Gegenwart. Das beginnt bei der Wortwahl, der Biograph benutzt und endet noch lange nicht bei der zigsten Sichtung der Hinterlassenschaften. Und dann ist da immer noch das Damokles-Schwert, auf dem „wem nützt es?“ oder „was ist der Zweck der Biographie“ eingraviert ist… Briefe, Tagebucheinträge sind untrügliche Zitate, Meinungen, Momentaufnahmen. Wahrscheinlich sind sie näher an der Realität als so manche Nachbetrachtung.

Beatrice Webb und ihr Mann Sidney waren zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte Sozialreformer, Politiker mit gewichtigen Ideen und Worten. Sie gründeten die Fabianische Gesellschaft, um weitreichende Reformen in Gang zu setzen. Heute würde man das als Thinktank bezeichnen – so viel zum Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart.

Ihre Arbeit in der Fabianischen Gesellschaft – das war ihnen von Anfang an klar – benötigten sie Menschen mit Reputation, mit Ideen, mit einer weittragenden Stimme. Dazu gehörten in ihrem Fall unter anderem der Schriftsteller H.G. Wells, Upton Sinclair, ebenfalls Sozialreformer, aber auch der als Lawrence von Arabien berühmt gewordene Thomas Edward Lawrence. Und George Bernard Shaw. Wahrscheinlich würden sie heutzutage die sozialen Medien mit ihren reformerischen Ideen fluten und als Berufsbezeichnung würde so manches mal „Influencer“ unter ihrem Namen stehen.

In ihren Niederschriften lässt der spätere Nobelpreisträger und Oscargewinner (für Pygmalion und eine erste Verfilmung des Stoffes) einfach nicht los. Es ist keine süßliche Verliebtheit, die sie fesselt. Es ist der komplexe Kosmos eines findigen Autors, der mit Wortgewalt die Leser bis heute in seinen Bann ziehen kann. Doch ist auch der scheinbar widersprüchliche Charakter. Als Shaw Charlotte Frances Payne-Townshend kennenlernt, benimmt er sich zeitweise wie ein verliebter Teenager, der öfter das Herz sprechen lässt und der Vernunft – und der Etikette – eine Nase dreht. Für Beatrice Webb ein beschauliches Spektakel.

Die im Untertitel angekündigten Enthüllungen sind zeitlos. Wüsste man nicht, das Shaw bereits vor 75 Jahren gestorben ist, man würde ihn einen modernen Zeitgenossen nennen. Nur die Umrechnungen der genannten Summen erinnern einen daran, dass es sich hier um historische Persönlichkeiten handelt. Die Einträge von Beatrice Webb stecken voller Empathie und lesen sich noch heute wie spannende Artikel aus längst vergangener Zeit. Immer schüttelt man sich und kneift sich, weil die Moderne der Gegenwart scheinbar doch nicht so neuartig ist wie man sich selbst gern einredet.

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

David Copperfield

Muss man sich fast zweihundert Jahre nach Erscheinen noch inhaltlich mit einem Klassiker der Weltliteratur auseinandersetzen? Für die Einen ist „David Copperfield“ ein dicker fetter Wälzer, den man sich an exponierter Stelle ins Regal stellt, weil es sich einfach so gehört. Für die Anderen gehört der Roman ebenso genau dort hin, aber erst nachdem man ihn gelesen hat. Für alle diejenigen, die meinen, dass knapp eintausenddreihundert Seiten einfach zu viel sind und man doch lieber eine sinnentleerte Serie im Stream bingen sollte, stellt dieses Buch nur im besten Fall eine Kehrtwende dar.

Der kleine David verliert erst den Vater, die Mutter heiratet den Falschen, der sich alsbald als gefühlslose Ekel erweist, die Kindheit verbringt der Knirps bei Verwandten, die ihm Liebe schenken wie er es noch nie erlebt hat, er wird erfolgreicher Schriftsteller – so in etwa beginnt und verläuft das Leben von David Copperfield. Kurz und knapp. Also genau das Gegenteil, was Charles Dickens gemacht hat.

Es tut gut zu sehen, dass Legenden niemals sterben. Dafür sind die gemacht. Sie selbst hielten sich nie für Helden. Ihr Tun, ihr Handeln, ihr Vermächtnis macht sie unsterblich. Im Falle von Charles Dickens (C.D. und David Copperfield, D.C. – die persönliche Note ist unverkennbar) ist der Nachhall bis heute vernehmbar. Es gibt Gesellschaften, die es sich auf die Fahne schreiben Dickens’ Leben am selbigen zu erhalten.

Ja, dieses Buch ist wahrhaft eine Herausforderung. Charaktere tauchen kurz auf, verschwinden seitenlang scheinbar für immer aus dem Blickfeld, um dann unversehens wieder ins Geschehen einzugreifen. So was nennt man wohl Freundschaft, wenn man bei Bedarf zur Stelle ist und zu Seite steht. Je mehr man in dieses Buch, in die Welt des David Copperfield eintaucht, desto mehr kratzt an einem die Frage wie dieses Buch wohl heuet geschrieben würde. Die harte Kindheit, der Erfolg als Autor – das kann einen modernen Menschen schon mal die Flausen in den Kopf treiben. Besonders, wenn man bei Preisverleihungen (natürlich ungerechtfertigt) übergangen wird. Würde man sich heutzutage in den sozialen Medien über den Verfall der Sitten und die eigene Missachtung in der Kindheit auslassen? Sich in Boulevardmagazinen unverblümt über das erfahrene Unheil auslassen? Wie gut, dass Mitte des 19. Jahrhunderts noch jeder seines eigenen Glückes Schmied war. Nur so werden mehr als tausend Seiten zu einem Parforceritt, der keine Alterbeschränkung kennt, und niemals als angestaubt (an exponierter Stelle) im Regal der Vergessenheit anheimfällt.

Schöne Bescherung auf Compton Bobbin

Klingt erstmal wie ein Rock ’n Roll Hit aus den 50ern: Compton Bobbin. Und ein Stein wird auch ins Rollen gebracht. Und eigentlich rockt dieses Buch ganz gehörig. Also doch schnörkelloser Rock ’n Roll im feinen Tweed? Ein bisschen.

Lady Bobbin besitzt ein Anwesen in den Cotswolds – edle Gegend. Ruhig, abgelegen, idyllisch. Eine Art Visitenkarte, Eintrittskarte ins flegelhafte „Ich bin reich – ich darf das!“-Getue. Lady Bobbin beliebt eine Weihnachtsgesellschaft zu geben. Nur das, was da vor dem Tore steht, was noch angefahren kommen wird, wer mit wem im Gepäck und mit welchen Absichten, das konnte die Gute nun beim besten Wissen nicht erahnen.

Der Schriftsteller Paul Fotheringay hat es endlich geschafft: Sein erster Roman ist erschienen. Und er wird geliebt und gelobt. Man hält sich den Bauch vor Lachen und findet, dass dies das richtige Buch zur richtigen Zeit sei. Zu dumm nur, dass Paul Fotheringay meinte ein sehr ernstes Buch geschrieben zu haben.

Philadelphia Bobbin, die Tochter des (guten) Hauses ist der Prototyp des gelangweilten Teenagers. Die Etikette und das ganze Drumherum gehen ihr gehörig auf die Nerven.

Amabelle Fortescue ist dem Namen nach eine ebenso feine Dame der Gesellschaft wie Lady Bobbin. Amabelle feiert Weihnachten in der Nähe in einem Cottage, das sie eigens zu diesem Zweck angemietet hat. Der Name lässt es nicht vermuten – Amabelle Fortescue gehört nicht zum alten Adel. Ihr finanzielles Polster, auf dem sie ihren edlen Körper bettet, wurde durch finanzielle Beigaben ihrer zahlreichen – zahlungsfreudigen – Männerbekanntschaften gepolstert. Sie heiratete geschickt, der Gatte verblich nicht weniger für sie geschickt nach angemessener Zeit. Oder anders gesagt: Wer in den gehobenen Kreisen nach Entspannung jedweder Art suchte, kannte Amabelle Fortescue.

Gleich zu Beginn des Buches gibt Nancy Mitford die Stoßrichtung vor: Sie stellt die handelnden sechzehn Personen der Reihe nach vor. Allesamt mit reichlich Dreck am Stecken, doch nahezu unantastbar. Dass das Weihnachtsfest für keinen der Anwesenden zu hundert Prozent perfekt verlaufen wird, steht ziemlich schnell fest. Doch was passieren wird, muss man sich erarbeiten. Was heißt hier erarbeiten?! Nein, Nancy Mitford hat einen diebischen Spaß die ganze Gesellschaft an der Nase durch die Arena des bitterbösen Humors zu ziehen. Selbst der Friedfertigste bekommt sein Fett weg. Die Parallelen zu ihrer eigenen Familiengeschichte sind durchaus sichtbar. Nancy Mitford war das schwarze Schaf der Familie, die sich mit den Faschisten Großbritanniens gemein machte. Alle bewunderten Hitler und seine Ideen. Nancy Mitford war das alles zu abstoßend, weswegen sie auch im Namen der Krone gegen ihr eigenes Blut spionierte.

„Schöne Bescherung auf Compton Bobbin“ ist ein schonungsloser Einblick ins Leben und Denken der scheinbar besseren Gesellschaft. Show and shine inmitten der landschaftlichen Idylle der Cotswolds. Menschliche Perfidität und rücksichtsloses Handeln sind der Treibstoff, der Mitfords zweiten Roman im rasanten Tempo von einer gefährlichen Kreuzung zur nächsten treibt. Da kommt man schon mal ins Schlingern und holt sich die eine oder andere Beule. Es ist halt Weihnachten. Vorsicht, Glatteisgefahr!

Leo Daly & James Joyce – Eine literarische Irlandreise

Überall auf der Welt gibt es Orte, die etwas Magisches in sich tragen. Schnell hat man dann den Begriff „Lieblingsort“ zur Hand. Immer wieder zieht es einen an diesen Ort. Es sind Häuserschluchten, weite Ausblicke, architektonische Blitzlichter oder im besten Fall Menschen, die eine Sehnsucht kreieren, die einen selbst fest im Klammergriff halten. Doch irgendwann hat man alles mindestens einmal gesehen. Bei den meisten verschwimmt der „Lieblingsort“ hinter dem Vorhang der Sättigung. Und dann?

Chris Inken Soppa zieht diesen Vorhang weit zurück und wandert durch Dublin. Im Handgepäck James Joyce und Leo Daly, an ihrer Hand Ralf Staiger. Der ist Illustrator und die beiden Erstgenannten literarische Ikone Irlands und einer seiner größten Fans.

In Erinnerungshappen schlendert Chris Inken Soppa durch Dublin, das sie kannte und kennt. Sie erkennt die Veränderungen. Leo Daly schlenderte auch durch Dublin, auf den Spuren seines Vorbildes James Joyce. Er forschte zu dem irischen Überliteraten. Und James Joyce selbst? Er war Dublin. Wo heute die Billigflieger-Globetrotter den Euro dreimal umdrehen, um typisch irisches Flair zu erleben – oder zumindest das, was ihnen suggeriert wird – war einmal wirklich irisches Flair, das nicht durch einen Algorithmus kreiert wurde. Tief traurig, überbordend lebensfroh. Hart und liebevoll zugleich. Rustikal verspielt. Musikalisch weltoffen.

Zwei Neugierige auf den Spuren eines Mannes, der auf den Spuren einer Legende Dublin immer wieder neu entdeckte. In Dublin gibt es unzählige Guides, die Wissbegierige und solche, die sich dafür halten, auf den Spuren von Leopold Bloom, James Joyce’ legendärem Wanderer durch die Stadt, an Orte führen, die man leicht selbst herausfinden kann, wenn man intensiv liest.

Chris Inken Soppa und Ralf Staiger entdecken Dublin für sich immer wieder neu. Ihre sehr persönlichen Eindrücke sind aber nicht nur Tagebucheinträge, die man zukünftig als Erinnerungsstütze gebraucht. Nein, selbst wer Dublin kennt, wird hier Neues entdecken. Joyce-Jünger werden mit Kopfnicken einer erneuten Stippvisite dieser entgegenfiebern. Und wer bisher zögerte Dublin auf Joyce’ Spuren zu erkunden, bekommt hier den entscheidenden Kick. Irland, Dublin, Joyce und Daly – von nun an eine vierfältige Symbiose, die fest im Reiseplan steht.

Der Stich der Biene

Wenn der Schein das Sein übertrumpft, ist der Niedergang vorprogrammiert. So einleuchtend dieser Sinnsatz erscheinen (haha) mag, so gehaltvoll ist er im Nachhinein. Wenn man Barnes heißt, in einer irischen Kleinstadt wohnt, trifft es den Kern der Familiengeschichte ziemlich genau.

Dickie Barnes verkauft Autos. Er ist fast der einzige weit und breit, der das tut. Und trotzdem geht das übernommene Geschäft den Bach runter. Seiner Frau Imelda ist das Grund genug ihm endgültig die Liebe zu entziehen. Sie ist die Kleinstadtschönheit, die es genießt eben diese Rolle auszufüllen. Hier, wo man im Coffeeshop erstmal die aktuelle Familiensituation erläutern muss bevor man die dünne aufgebrühte Aromabombe zu sich nehmen kann, wo jeder jeden kennt, wo jeder, der nicht hierher gehört misstrauisch beäugt wird, ist das ein gefundenes Fressen für die Lästermäuler.

Am meisten leidet Cass unter dieser Situation. Sie ist achtzehn. Macht bald ihren Schulabschluss, was für sie kein Problem darstellt. Sie gehört zu den Klassenbesten. Ihre beste Freundin Elaine jedoch wendet sich urplötzlich von ihr ab. Das einstige verschworene Duett geht mit einem Mal getrennte Wege. Die Vertrautheit, die freundschaftliche Enge sind passé.

Der zwölfjährige PJ bekommt natürlich auch mit, dass der Haussegen schief hängt. Freunde machen komische Bemerkungen, das Getuschel in den Straßen beliebt auch ihm nicht verborgen. Wenn er doch nur älter wäre – dann würde er lieber gestern als heute abhauen. Pläne und Ideen hat er zuhauf.

Cass hat auch einen Plan dem Stumpfsinn, der bedrückenden Einöde zu entkommen. Bis zum Schulabschluss will sie dem Tageslicht die Farbenvielfalt des Rausches entgegensetzen. Nicht umsonst ist Irland für seine Destilliertradition bekannt.

Jeder hat einen Plan. Einen Plan, um dem Moment eine Mauer der Gleichgültigkeit in den Weg zu bauen. Doch warum das alles? Was ist denn nun eigentlich geschehen? Je länger man in den siebenhundert Seiten (!) liest, desto mehr fragt man sich, warum es diese bisher erfolgreiche Familie nicht schafft sich der Ursache des Schlamassels zu stellen. Das kann doch nicht alles angefangen haben als Imelda am schönsten Tag ihres Lebens von einer Biene gestochen wurde?! Auch der Unfall ein Jahr vor Cass’ Geburt kann nicht die Wurzel allen Übels sein. Und als Dickie schmerzhaft lernen musste was es heißt ein Mann zu sein, kann das allein nicht der Grund dafür sein.

Unterdessen entdeckt Imelda ihre Liebe zu Big Mike wieder. Der ist Elaines Vater und hatte schon immer ein Auge auf die Kleinstadtschönheit Imelda geworfen. So beschaulich das Kleinstadtleben bisher war – so bedrohlich ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.

Paul Murray zeichnet ein graues Bild von der grünen Insel. Die Idylle der in sich geschlossenen Gesellschaft in der Kleinstadt, in der man auf den ersten Blick nichts zu vermissen scheint, ist trügerisch. Ein Jeder träumt vom Ausbruch aus der vorgeplanten Zukunft. Die, die bisher immer hier geblieben sind, haben ihre Träume auf dem Friedhof begraben und sich dem Schicksal ergeben. Die Barnes sind anders. Und doch mittellos, um sich selbst aus dem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Paul Murray setzt dieser Trostlosigkeit jedoch etwas Besonders entgegen. Mit Wortwitz und Entschlossenheit gibt er den Barnes ein Werkzeug in die Hand, das jeden Widerstand aufzubrechen vermag: Humor.

Wer meint, dass man unbedingt einmal im Leben ein dickes Buch – siebenhundert Seiten – gelesen haben muss, der sollte dieses Buch als mehr als nur eine Option erachten.

Wenn Ewigkeit vergänglich wird

Im Urlaub suchen viel Ruhe und Erholung. Andere suchen die Action, um mit erhöhtem Adrenalinspiegel die Sorgen hinwegzuspülen. So ein erhöhter Adrenalinspiegel wäre auf einem Friedhof durchaus unangebracht. Hier flaniert man. Schaut links und rechts. Atmet tief ein. Lauscht der Stille. Und fürs Auge ist auch meist was dabei. Zum Beispiel wenn man die Gartenfriedhöfe Londons erkundet. Was scheinbar verklärt – „Wenn die Ewigkeit vergänglich wird“ – daherkommt, ist ein Juwel unter den Büchern zu diesem Thema.

Die Fülle an Abbildungen – das reicht von historischen bis aktuellen Fotos über Zeitungsausschnitte bis hin zu Skizzen – bricht wie eine gigantische Welle über den Betrachter herein. Die Autorin Georgia Rauer lässt zwar keine Toten wieder auferstehen, gibt aber den Weg frei, um diese architektonischen Stätten der Ewigen Ruhe wirken zu lassen.

London wuchs vor zweihundert Jahren wie kaum eine andere Stadt. In der Stadt fanden unzählige Menschen Arbeit. Schufteten sich die Buckel krumm … und ja, sie starben auch. Ganz natürlich oder manchmal auch unfreiwillig. Doch wohin mit den leblosen Körpern? Windige Geschäftemacher ließen die Leichen mehr oder weniger verrotten, was oft zu einem bestialischen Gestank führte – Enon Chapel brachte es zu einem zweifelhaften Ruf. Später entstand hier ein Tanztempel, der mit den Worten „Tanz auf den Toten“ warb.

Das viktorianische Zeitalter – und in dieser Zeit entstanden die sieben Gartenfriedhöfe Londons war auch geprägt durch die Trauer der Queen, die nach dem Tod ihres Alberts kategorisch schwarzgekleidet auftrat. Als Stilikone ihrer Zeit, und das war sie nun mal, ob sie es wollte oder nicht, prägte sie auch die Bestattungskultur.

Wer heutzutage diese Friedhöfe besucht, kann sich stundenlang auf ihnen bewegen. Botanisches Meisterwerke auf verwunschenen Pfaden, kleine architektonische Perlen, Ruheoasen. So kennt man London nun wirklich nicht. Dieses Buch ist das gelungene Rüstzeug für diejenigen, die London wirklich einmal anders erleben wollen. Abseits von Trubel, Shopping-Overkill und maßlos überteuerten Restaurantbesuchen. Hier herrschen andere Regeln. Bedächtig setzt man einen Schritt vor den anderen und liest ein wenig in diesem Buch. Von der extrem hohen Kindersterblichkeit, von der Verzweiflung der Menschen, aber auch von seelischem Frieden und erhabener Gediegenheit. Spaziergänge über die viktorianischen Gartenfriedhöfe gehören zu den eindrucksvollsten Erinnerungen in einer der eindrucksvollsten Städte der Welt.

Love letters

Was wäre eigentlich, wenn Virginia Wolf und Vita Sackville-West heute leben würden? Sie würden sich heutzutage auf einem Charity-Event kennenlernen, wo sich die C-Promi-Garde mit der D-Kategorie ablichten lässt, weil sie so mehr Follower generieren würden. Hinter vorgehaltener Hand würde eine Viertelfinalteilnehmerin einer Casting-Show oder ein Teilnehmer bei einem menschenverachtenden Reality-Format mit einem leichten Grinsen das Gerücht verbreiten, dass sie und sie, Virginia und Vita

– die Namen würden schon mal zu den TV-Formaten passen … – etwas miteinander hätten. Eine hektisch sprechende Moderatorin würde aus ihrem „Was ist denn da passiert?“-Monolog eine Sensation ankündigen. Und die beiden selbst? Sie würden elegant, aristokratisch, gelangweilt den bunten Mikrofonen und den kreischenden Zurufen der Fotografen die kalte Schulter zeigen.

Denn sie haben sich, haben einander, haben ihre Gatten, Freunde, Geschäftspartner (oft in Personalunion) und würden trotzdem schwitzen wegen der vermeintlichen Hetzjagd. Doch im Vergleich zu damals – Virginia Wolf und Vita Sackville-West lernten sich 1922 bei einem Dinner kennen – wäre die Hetzjagd nach ein, zwei Wochen vorüber. Bis, ja bis sie sich wieder öffentlich zeigen (vielleicht sogar gemeinsam?!) und das Getuschel von Neuem beginnt.

Was hätten sie dann noch? Ihre Social-Media-Kanäle, in denen sie in wohlgewählten Worten auf die Missstände in der Gesellschaft hinweisen. Vielleicht würden sie die Regenbogenfahne schwenken, was ihre Partner ungewollt in die Regenbogenpresse ziehen würde. Würden die beiden gendern?

Oder würden Virginia Wolf und Vita Sackville-West den abgemagerten Promiklatschreporterinnen und den leicht zu Übergewicht neigenden Promireportern (das ist eine ganz subjektive Einschätzung, aber passt irgendwie ins Bild, oder?!) frontal entgegentreten und Gegenfragen stellen, die jeden Unterton entlarven?

Ach es wäre ein Fest für alle, die die beiden Autorinnen für ihr Tun verehren! Zum Glück waren die Zeiten als die beiden sich ihre Liebe in unzähligen Briefen und Tagebucheinträgen gegenseitig versicherten anders. Geschliffene Worte, erhabene Sehnsucht, feuriges Verlangen und schnippige Bemerkungen ohne dabei bewusst verletzen zu wollen. Dieses Buch ist ein meisterhaftes Beispiel dafür, das Liebe und Zuneigung laut und leise, offen und verborgen, zart und roh zugleich ist – die Außenwelt darf zusehen, aber nicht eingreifen. Zwei unabhängige, starke Frauen, die nicht müde werden in ewiger Verbundenheit getrennt und zusammen jeglichen Konventionen zu trotzen!

Mord auf der Kreuzfahrt

Eine Kreuzfahrt soll es sein, die Clare aus ihrer Schaffenskrise holt. Griechenland und die Insel des Dodekanes. So hat Nigel es sich ausgedacht, so wollen sie es versuchen. Und damals wie heute ist es ein köstliches Vergnügen an der Reling zu stehen und die Ankommenden vorab zu analysieren. Witwen, Witwentröster, seltsame Geschwisterpaare, ein Geistlicher nebst Gemahlin, dessen Bart sich beim Essen bewegt als sein Talar im heftigsten Küstensturm. Und ein Naseweis mit dem Drang alles in ein Notizheft zu schreiben. Nigel und Clare haben sichtlich Spaß bei der Tradition des Leute-Anschauens. Auch wenn ihnen so mancher Gast nicht willkommen erscheint. Man kennt sich aus der englischen Heimat und hegt so manches Vorurteil gegenüber den Anderen. Aber was soll’s: Es ist Urlaub, und die Reise dient einem guten Zweck (dem Clare wieder kreativ werden zu lassen).

Die Ausflüge zu den Tempeln, den Ruinen griechischer Tempel und das dazugehörige Geplänkel mit den Mitreisenden lassen schon dunkle Wolken am Horizont erahnen. Nigel und Clare fasziniert von allem was um sie herum vor sich geht.

Bis … ja, bis sich endlich der Titel dieses Krimis in seiner vollsten Pracht zu erkennen gibt. Frau über Bord, Mord – Nigel Strangeways ist nun gefragt. Denn er ist nicht nur Clares bester Freund, der diese Kreuzfahrt organisiert, um ihr zu helfen. Er ist außerdem Detektiv. Einer von der unermüdlichen Sorte. Einer mit Pfiff!

Es ist die Zeit, in der die steife Etikette an Bord von Dampfern langsam einem legereren Umgang weicht. Noch nicht ganz die Ära der Flipp-Flopp-Träger, die sich wundern, dass der Ouzo in Athen wie der Raki in Istanbul schmeckt. Doch der Umgangston ist ähnlich explizit.

Nicholas Blake nimmt den Leser mit auf eine mörderische Reise, die im Literaturbetrieb längst schon ein eigenes Genre kreiert hat: Kreuzfahrtmorde. Von Dr. Crippen bis Colombo kommt man nicht mehr umhin diese besondere Location für die menschlichen Abgründe zu verwenden. Nigel Strangeways – der Name ist Programm – geht seine eigenen Wege, um den oder die Täter dingfest zu machen. Fast könnte man meinen, dass das eine Familiensache ist. Denn Nicholas Blake ist ein Pseudonym. Er war Hofdichter der Queen und begann aus wirtschaftlichen Gründen Krimis zu schreiben. Sein richtiger Name lautete Cecil Day-Lewis. Und bei dem Familiennamen wird man hellhörig: Er ist der Vater von Daniel Day-Lewis, dem Schauspieler. Der hat seine Karriere – und hier ist die Parallele zum eigensinnigen Meisterdetektiv Strangeways – (vorübergehend) an den Nagel gehängt. Ein außergewöhnlicher Autor mit einer außergewöhnlichen Familiengeschichte und ein außergewöhnlicher Krimi – was will man mehr?!