Der 9. November ist besonders für Deutsche ein besonderer Tag des Gedenkens. Zum Einen ist es der Tag des Mauerfalls, zum Anderen aber auch der Tag, an dem offener und für jedermann legitimierter Judenhass straffrei war, zum Glück für eine begrenzte Zeit. Im Jahr 1819 beginnt eine Frau ihr Tagebuch zu schreiben. Das tut man in heutiger Zeit, um sich selbst auszudrücken – so wie es ursprünglich mal angedacht war. Oder man tut es, weil es hip ist oder weil man einer Tradition folgen will, selbst eine Tradition ins Leben rufen will. Wie auch immer: Dieses Tagebuch ist in tiefes Schwarz getaucht. Denn es ist das Tagebuch von Mathilda. Nicht die, die schon als Kind lernen muss ihre übermenschlichen Fähigkeiten zu kanalisieren – wie im gleichnamigen Film. Auch nicht die junge Mathilda, die den Tod an ihren Eltern rächen will und dafür die Dienste des Profikillers Leon in Anspruch nimmt – ebenfalls wie im Film.
Nein, sie ist die Frucht einer unzerstörbaren Liebe. Einst waren ihre bildschöne, gebildete, empathische Mutter und ihr Vater füreinander bestimmt. Sandkastenliebe mit der Aussicht auf ewiges Glück. So war das damals im England des ausgehenden 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Doch schon kurz nach der Geburt der Tochter verstarb die Mutter. Und der Vater war ein gebrochener Mann. Er konnte die Anwesenheit von Mathilda nicht ertragen. Und verschwand. Einfach so. Nach Deutschland, nahm einen anderen Namen an. Mathilda wuchs derweil bei der Tante auf. Liebe und Zuneigung waren fromme Wünsche, nicht mehr und nicht weniger. Als dann auch die Tante im Sterben liegt, schient Licht ins dunkle Leben des Teenagers zu kommen. Der Vater will sie wieder sehen, will sie kennenlernen. Er erklärt sogar, dass es für nichts Sehnlicheres auf der Welt gibt als sich voll umfänglich um sie zu kümmern. Ein Wendepunkt? So wie der Mauerfall am 9. November 1989? Zuerst schon, doch dann wird es doch eher ein Wendepunkt wie der in der Nacht des 9. November 1938.
Mathilda ist voller Hoffnung, nicht aufgekratzt, doch innerlich lodert die Euphorie wie niemals etwas zuvor in ihr. Der Funke erlischt relativ schnell. Vater ist depressiv, zerstörerisch in fast jeder Hinsicht. Sich selbst zu vernichten scheint sein Elixier zu sein. Andere mit zu reißen geht für ihn damit Hand in Hand.
Das bisherige dunkle Leben, das gerade erst mit Licht gefüllt wurde, scheint im ewigen Dunkel der geistigen Nacht zu verenden…
Mary Shelley ist für die meisten die Autorin des wohl bekanntesten One-Hit-Wonders der Literatur, „Frankenstein“ – das geht soweit, dass einige denken, dass der Vorname des Monster „Mary Shelleys“ ist. „Mathilda“ ist das Folgewerk. Und hier beweist sie allen Kritikern, dass „Frankenstein“ keineswegs ein One-Hit-Wonder war. So düster die Geschichte auch sein mag. So klar und präzise zeichnet sie den Niedergang eines Menschen, dem alles genommen wurde, das man mit Geld nicht kaufen kann. Grandios, faszinierend, um immer wieder, immer noch mehr als lesenswert.