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Gute Nacht, Tokio

Wenn man nachts durch die Straße kurvt, kann man einiges erleben. Doch meist bleibt es bei ein paar aufgemotzten Luxuskarossen, deren übermütige Fahrer übermotiviert Reifen durchdrehen lassen und einen nervösen Hupdaumen haben. Das Nachtleben der Einfallslosen!

Tokio, nachts um ein Uhr. Shinjuku ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Neonröhren erhellen die Gassen und Gassen, die auch schon mal voller waren. Einzelne Taxis befördern Menschen von A nach B. Manche sind auf dem Weg in die Federn. Andere sind auf der Suche nach dem Glück. Ganz andere arbeiten. Nicht nur die Taxifahrer. Mitsuki zum Beispiel sucht eine Biwa, das Obst. Braucht man unbedingt, jetzt um diese Uhrzeit, ein Uhr nachts. Ja, braucht man. Wenn man beim Film arbeitet und der Fundus einfach keine Biwa parat hat. Sie kennt den Fundus in- und auswendig. Doch ein Biwa, das Obst, hat sie da noch nie gesehen. Wie sehen die überhaupt aus?, fragt sie sich. Pflichtbesessen, setzt sie sich ins Taxi. Ihr Freund gibt ihr einen Tipp, wo sie welche finden kann. Eigentlich wollte sie ihn schon längst in die Wüste schicken. Sie braucht keinen Freund, der ihr am Rockzipfel hängt. Doch nun ist er ihr Retter in der Not. Kaum an der Allee mit den ersehnten Früchten angekommen, steht da schon jemand. Sie klaut Biwas wie selbstverständlich. So was passiert nur in Tokio, nachts um ein Uhr.

Blackbird. Hier trifft sich die Nacht. Hier sammeln sich die, die um ein Uhr nachts in Tokio dem Schlaf die kalte Schulter zeigen. Hier fahren sie Taxis, um den Träume(r)n Zeit zu verschaffen. Eine Telefonseelsorgerin kann immer noch verblüfft werden, wenn des Nachts die Telefonbox entsorgt werden sollt. Schauspieler, die ihre Karriere noch vor sich haben hängen Träumen hinterher, die sie besser leben sollten. Und mittendrin Matsui, Taxifahrer, Seelsorger, neugieriger Chauffeur, ortskundiger Navibenutzer – kur: Der Knotenpunkt all derjenigen, die nachts um ein Uhr in Tokio das Bett nicht finden.

Atsuhiro Yoshida entwirft Schicksale, die sich perfekt in die Kulisse der Millionenmetropole Tokio einfügen. Sie sind anonyme Gestalten, die unerkannt an einem vorbeihuschen, wenn die Spots der Scheinwerfer schon wieder das nächste Opfer jagen. Doch sind sie es, die Tokio zur pulsierenden Stadt machen. Ohne sie würde etwas fehlen. Der erwartete Perfektionismus weicht um ein Uhr nachts der Verzweiflung im Dunkeln. Der Autor hat auch das Cover gestaltet. Des Nachts vielleicht als er nicht schlafen konnte???

Meier

Tief einatmen, und wieder ausatmen. Ein paar Schritte gehen, dann noch ein paar, und immer weiter. Meier kann ab diesem Zeitpunkt so weit laufen wie er will. Bis vor wenigen Augenblicken war das nicht so, zehn Jahre lang. Da saß er im Knast. Mord. Frauenmord. Es war’s nich. Sagt er, und das ist die Wahrheit. Trotzdem: Knast. Zwölf Jahre sollten es sein, zehn sind’s schlussendlich geworden. Drinnen hat er aufgepasst. Auf sich, die Anderen. Nun ist er draußen. Ein neuer Mensch. Mit Erfahrungen wie sie wenige machen. Gregory hat ihm gesagt, er könne zu Wassily fahren. Er könne ihm helfen, wenn er ihm einen mehr als zwanzigstelligen Code nennt. Was der öffnet oder nicht, interessiert Meier nicht die Spur. Doch es öffnet ihm Türen. Zuerst die zu Wassily. Wenn er was brauche, könne er jederzeit zu Wassily kommen…

Ja. Meier saß im Knast für etwas, das er nicht getan hat. Er hat sich arrangiert. Fast schon seinen Frieden mit der Ungerechtigkeit gemacht. Und momentan kann ihn eh nichts mehr schocken. Er ist draußen, kann mehr als sechs Schritte gehen ohne an Mauern zu stoßen. Beinahe könnte man mit Meier Mitleid haben. Nur etwas mehr als dreihundert Euro in der Tasche, die mittlerweile auf nicht mal dreißig zusammengeschrumpft sind. unschuldig im Knast. Doch dann lässt Tommie Goerz Meier einen Plan haben. Und die Geldknappheit in einen zeitlich begrenzten monetären Höhenflug verwandeln. Kurz gesagt: Meier klaut ein Auto, samt Geldkarte, hebt ein paar Tausender ab, mietet sich in einer Pension ein. Ein Kind von Traurigkeit sieht anders aus.

Mit allerlei Tricks und noch mehr Gaunereien muss sich Meier um seine finanzielle Basis nicht sorgen. Er hat immer Geld. Es gibt immer einen, der unvorsichtig ist. Dass das auch anderen auffällt, ist nur eine Begleiterscheinung. Man versucht ihn, Meier, zu bestehlen, die Polizei versucht ihn mit sehr durchschaubaren einmal mehr zu überführen – Meier besitzt genug Chuzpe, um allen möglichen Fallstricken zu entziehen. Doch dann fällt der Name Fürsattl. Es wird Zeit für Meier sich seiner Vergangenheit zu stellen…

Glauser-Preis 2021 für Meier! Zurecht! Tommie Goerz wirft einen Helden in die Krimi-Arena, der eigentlich gar nicht dazu taugt. Ein unreuiger Sünder, der für etwas büßen muss, was andere zu verantworten haben. Rache ist nicht sein Ding, bis ihm doch noch rechtzeitig klar wird, dass er durchaus dieser Berufung folgen kann. Was als stilles Gedankenspiel im hinteren Oberstübchen begann, betritt spät, doch nicht zu spät den Salon der Perfiditäten. Was Meier einst genommen wurde, kann ihm niemals jemand zurückgeben. Aber wer sagt denn, dass Geben seliger als nehmen ist?

Geiseln

Irgendwann einmal hat man genug. Irgendwann einmal ist es einfach zu viel. Irgendwann einmal fügt man sich nicht mehr. Begehrt auf. Ergreift Partei. Wehrt sich. Übt Rache. Nimmt das Heft des Handelns in die Hand.

Bisher war Sylvie Meyer immer diejenige, die sich brav fügte. Alle Arbeiten wurden erledigt. Sie stieg in ihrer Firma auf. Sich beschweren oder gar aufbegehren entsprach nicht ihrem Naturell. Auch als sie ihr Chef bat die Kollegen zu bewerten, sie zu katalogisieren und in ein Rankingmuster zu zwänge, war es für Sylvie nur eine Arbeit, die sie machte. Das war einmal, Vergangenheit, Präteritum. Die Fünfzig hinter sich gelassen, vom Mann verlassen – die neue Sylvie ist eine gefährliche Frau. Nicht für jedermann, doch für die, die sie ausnutzen wollen, sich ihrer habhaft machen wollen, sieht’s nicht rosig aus, wenn sie eine rosige Zukunft haben wollen. Ein geschlagener Hund, beißt irgendwann einmal zurück. Und der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht. Nein, Sylvie lässt sich nicht mehr brechen. Ihr wird klar, dass all die Mühen, die Arbeit, die Eigeninitiative ihr niemals zu einem Dank verhelfen wird.

Sylvie wird lernen, dass lang anhaltender Schmerz selten Konsequenzen hat. Aber ein kurzer Impuls der Gewalt – da ist das Wort, das sie scheinbar nicht kennt, oder hat sie es nur verdrängt? – hat eine lang anhaltende Wirkung. Sie kann sich wieder einmal fügen. Sie kann auch in die Offensive gehen. Sie weiß, dass Frauen den Schmerz besser aushalten als Männer. Sylvie ist eine Frau. Eine starke Frau. Sie erträgt vieles, aber nicht alles.

Nina Bouraoui spielt gekonnt mit dem Begriff Gewalt. Mit den ersten Zeilen lässt sie Sylvie mit dem Begriff Gewalt fremdeln. Sie ist präsent, doch niemals nah. Sylvie will nicht verletzen, sie will ja schließlich auch nicht verletzt werden. Dennoch ist die Gewalt immer da. Auch wenn Sylvie es (bisher) immer verdrängt hat. Deswegen ist sie noch lange nicht schwach. Als sie ihren Chef in ihrer Gewalt hat, spürt sie die ihr verliehene Macht. Verliehen, das ist es! Die Macht, die mit der Gewalt einhergeht, ist nur geliehen. Irgendwann ist sie passé.

Es sind nicht die Gewaltfantasien, die „Geiseln“ zu einem außerordentlichen Buch machen. Es sind vielmehr die Lücken, die der Leser selbst füllen darf, die dem Buch die Größe angedeihen lassen. Ihre Hauptfigur ist größer als sie es sich vorstellen kann. Sylvie sonnt sich nicht im Gefühl des Triumphes über den Mann, der sie jahrelang unterdrückt hat, indem er ihr anscheinend Macht verlieh. Ihre Selbsterkenntnis ist ihr Lohn genug.

Frenzel

Je länger man sich mit Frenzel beschäftigt, je mehr man über ihn liest, könnte man das Gefühl bekommen, dass er das geborene Opfer ist. Schon als Kind wurde ihm von Polizisten übel mitgespielt. Später wurde es schlimmer, bis hin zu Terrorverdacht. Alles, was Uniform trägt, wird von ihm bis in alle Ewigkeit mit Nichtachtung und Schweigen bestraft.

Arbeit kennt Frenzel, aber nicht dauerhaft. Dauerhaft dagegen schon, zumindest für neun Jahre. Hat einmal, nur einmal, zu kräftig zugeschlagen. Den Anderen gibt’s nicht mehr. Da war Frenzel schon Millionär. Geerbte Lottomillionen. Das einzige, was vom Vater übrig blieb. Frenzel ist es recht so.

Er zieht von Stadt zu Stadt. Kohle hat er ja genug. Er nimmt seine Umgebung verdammt schnell, verdammt genau wahr. Macht sich Notizen. Könnte ja sein, dass man sich mal verteidigen muss. Da ist es ratsam etwas in der Hand zu haben, um potentielle Stänkerer in ihre Schranken weisen zu können. Klappt ganz gut. Dennoch ist Frenzel immer unterwegs. Nun wohnt er auf einem alten Fabrikgelände und hat die lästigen Untermieter im Griff. Frenzel scheint angekommen zu sein. Wird auch Zeit, so kurz vor der Fünfzig.

Auch findet er die örtliche Lokalität zum Durstlöschen genau nach seinem Gusto. Samt Inventar. Walli, die gerade den Verlust eines Angehörigen verkraftet, hilft er aus der Patsche, als sie von einem schmierigen Typen übers Ohr gehauen werden wollte. Charly und Hanno. Allesamt Menschen, mit denen Frenzel was anfangen kann. Dann stirbt Charlys Sohn als er in einen Kleidercontainer klettern wollte. Und bald darauf sind Walli und Hanno verschwunden. Die Beerdigung der beiden schweißt die Tresengemeinschaft enger zusammen.

Hier stimmt was nicht. Frenzel hat da so eine Ahnung. Auch dass die Bullerei ihn wieder drangsaliert passt ihm gar nicht. Als Mann der Tat nimmt Frenzel die Sache selbst in die Hand. Vier Tote in seinem Umfeld, die Uniformierten tun nichts. Zum Glück hat Frenzel sich noch nie an Recht und Ordnung gehalten. Dieses Mal ist es sogar von Vorteil für ihn. Denn er kann ganz anders ermitteln…

Tommie Goerz schafft mit Frenzel einen Typen, den die Krimilandschaft braucht. Ein Rauhbein mit dem Herz am richtigen Fleck. Ein Einzelgänger, der es geschickt versteht die Menschen um sich herum für sich einzunehmen. Mit locker sitzender Geldbörse, kompromisslosem Vorgehen und klarem Blick macht er sich auf die Suche nach einem gewissenlosen Verbrecher. Ehre? Das kennen weder Frenzel noch der Mörder. Und der Begriff Gerechtigkeit ist sehr dehnbar … wenn man Frenzel heißt.

Inselabenteuer Mallorca

Malle und Abenteuer – ja, das geht auch am Ballermann. Dreiunddreißig Möglichkeiten sich auf abenteuerliche Weise zu blamieren, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und dem Körper übel mitzuspielen. Aber dafür braucht man kein Buch, nicht einmal nachdenken muss man dabei.

Bleiben wir noch ein bisschen beim frivolen Klischee der Baleareninsel. Wie wär’s denn mit Entenhintern und rotem Blitz? Kurz nachdenken. Nee, kommt man nie drauf! Die Rede ist zunächst einmal von Entenhintern-Orangen. Auf einer kleine Plantage im Nordwesten der Insel reifen sie prächtig und in überschaubarer Menge. Die Eigentümer führen Interessierte gern herum und lassen die aus den Früchten entstandenen Produkte gern probieren. Den Rucksack kann man sich anschließend mit allerlei einzigartigen Mitbringseln füllen. Hier gibt es sogar Bäume, die mehrere Sorten Orangen tragen. Und mit dem roten Blitz, einer betagten Bahn geht es dann bis in die Inselhauptstadt Palma.

Eine lukullische Besonderheit gibt es auch beim Schneckenkönig. Ja, Schnecken, kann man essen, auch wenn der Kopf sagt, dass man davon lieber die Finger lassen soll. Dann nimmt man eben den Mund! Auf einer Farm werden sie gezüchtet und gegrillt oder in einer leckeren mallorquinischen Sauce serviert. Wer sich immer noch nicht traut, der nimmt halt den Nachtisch. Der wird mit einer Puderzucker-Schnecke serviert. Wie das aussieht, muss man allerdings selbst herausfinden.

Ein echtes Abenteuer (wie im Film, wie in den Abenteuerbüchern der Kindheit und Jugend) ist der Weg zu wahrhaft gigantischer Kunst. Riesige Skulpturen, die mehr an die Osterinseln erinnern als ans westliche Mittelmeer, wollen erobert werden. Doch zuvor hat der Reisegott die nicht ganz offensichtliche Anreise, sprich den Weg dorthin, gesetzt. Da muss man schon mal den einen oder anderen Zweig beiseite biegen und so manche Pflanze sich Untertan machen. Aber das Ziel entschädigt für die Strapazen. Stein auf Stein, wie im Maya-Reich oder doch Angkor Wat oder eben die Osterinseln? Wie so vieles auf Mallorca, so haben auch diese Kunstwerke deutsche Wurzeln. Rolf Schaffner schuf diese überdimensionalen Gestalten, die man in kleinen geführten Erkundungen besichtigen kann.

Raus aus der Stadt, rauf auf die Insel. Für Autor Frank Feldmeier ist Mallorca seit fast zwanzig Jahren Heimat und Arbeitsstätte. Auf jeder Seite spürt man das Meer rauschen und die unbezwingbare Liebe zur Insel. Hier ist kein einziger Tipp von der Stange. Alles selbst erkundet, getestet und der Leserschaft zum Nacherleben auf dem Silbertablett präsentiert. Hier muss keiner kapitulieren, wenn es mal nicht sofort weitergeht. Schritt für Schritt erobert man eine Insel, die längst als weißfleckfrei gilt. Frank Feldmeier beweist, dass es hier tatsächlich noch Flecke gibt, die den Massen verborgen geblieben sind.

Drei daneben

Fangen wir ganz vor an. Beim Titel. Nein, auf dem Bild ist nicht Terry Jones abgebildet, der als marodierende alte Lady eine englische Kleinstadt terrorisiert und Babies aus Kinderwagen klaut.

Es folgt eine ungewöhnlich lange Einführung in das, was auf den folgenden Seiten Herz und Hirn des Lesers aufs Vortrefflichste animieren wird. Nicholas Hytner, Theaterbetreiber und Regisseur wurde wenige Tage nach Beginn des Lockdowns in Großbritannien gebeten die „Talking Heads“ von Alan Bennett für die BBC neu zu inszenieren. Unter den gegebenen Umständen eine willkommene Abwechslung. Unter den gegebenen Umständen auf alle Fälle umsetzbar. Unter den gegebenen Umständen ein probates Mittel, um drohenden Wiederholungsexzessen vorzubeugen. Er gibt darin ein sehr direktes Bild von Produktionsbedingungen der Gegenwart wieder. Als Freund von Alan Bennett könne er ihn auch davon überzeugen selbst wieder tätig zu werden und die Erfolge der „Talking Heads“ (nicht der Band, sondern der BBC-Serie) noch einmal aufleben zu lassen.

Die Texte von Alan Bennett erschüttern nicht von Anfang an den Leser. Es sind Alltagssituationen, die vielleicht nicht jeder selbst durchlebt, aber auf alle Fälle kennt jeder jemanden, der so agiert. Die Fassade muss auffallen. Was dahinter passiert, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Da sitzt eine trauernde Witwe vor dem digitalen Publikum, um ihre Trauerrede auf den verblichenen Gatten zu üben. Nun haben wir in der Covid-Zeit gelernt, dass virtuelle Treffen sich durchaus für peinliche Momente eignen können. Doch in diesem Falle ist peinlich noch ein sehr mildes Urteil…

Alan Bennett versteht es vorzüglich dem Volk aufs Maul zu schauen und seinem Treiben durchaus ein Schmunzeln abzuringen. Das Scheitern als Chance doch noch halbwegs unbeschadet aus der Situation herauszukommen, gibt ihm die Möglichkeit Unzulänglichkeiten aufzudecken und der Peinlichkeit einen Riegel vorzuschieben. Zwischen den Zeilen offenbaren sich die Männer und Frauen, die Alten und die Jungen, die Gebrechlichen und die Starken als Abziehbild einer Gesellschaft, die denen die geblendet werden wollen, das Paradies verspricht. Ein Spielverderber ist Alan Bennett dennoch nicht. Denn diejenigen, die sich selbst treu bleiben, zaubert ein Lächeln ins Gesicht, das jeden Antagonismus der Zeit ad absurdum führt.

Eine Nebensache

Eine der unzähligen widerwärtigen Seiten des Krieges ist die Namenlosigkeit der Täter. Die Opfer und deren Angehörige wissen nicht, wem sie die Schuld geben können. Die wenigen namentlich bekannten Täter bekommen so eine Bedeutung, die ihrer Gewissenlosigkeit eine Bedeutung angedeihen lässt, die sie niemals verdienen.

Und passt es ins Bild, dass eine namenlose junge Frau, Palästinenserin, von einem Vorfall liest, der exakt ein Vierteljahrhundert vor ihrer eigenen Geburt stattgefunden hat. Israels Soldaten patrouillieren an der frischen Grenze, um potentielle Angreifern, Gegnern, Saboteuren, Feinden Einhalt gebieten zu können. Dabei greifen sie auch eine junge Frau auf. Tage später ist sie tot. Gefangen genommen, gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, ermordet. Im Namen … ja, im Namen von wem, von was? Die Frau hatte einen Namen, die Täter auch. Dennoch liegen ihre Gesichter im Schatten der Geschichte.

Die junge Palästinenserin, der das Datum des Todes dieser jungen Frau (und dabei spielt es überhaupt keine Rolle woher sie kam, welche Nationalität sie gehabt hat) so nahe geht, macht sich auf die Suche nach den Begebenheiten, die damals geschahen. Sie will nicht anklagen, Opfersteine errichten oder Gerechtigkeit erwirken. Sie ist persönlich an dieser Geschichte interessiert. Und das nur wegen dieses Datums: 13. August 1974.

Sie bricht auf, um eine Reise zu tun, die sich verändern wird. Checkpoints in und um Ramallah erschweren ihr ein ungehindertes Weiterkommen. Immer im Gepäck: Die Angst bei ihrer vermeintlich illegalen, zumindest sich unerwünschten, Recherche aufzufliegen. Und im Kopf rattern die Gedanken in Lichtgeschwindigkeit. Immer sind es die kleinen Dinge, die ihr auffallen. Schon oft ist ihr ein Detail eher ins Auge gestochen als das große Ganze. Warum nur? Warum passiert ihr das immer?

Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren. Die Parallelen zu der namenlosen Frau in ihrem Buch treten offen zutage. Vielleicht ist sie selbst diese Frau, in Grundzügen sicherlich. Beim Lesen wird einem immer wieder bewusst, dass ein Krieg niemals mit der Unterschrift unter einem Vertrag beendet ist. Er ist niemals zu Ende. Auch wenn die Hoffnung stiftende Spruch, dass Menschen und nicht Kanonen töten, sie sind es ja schließlich auch, die ihn beginnen.

Es kann Gras über eine Sache wachsen. Doch was folgt ist immer wieder Gras. Es wird immer wachsen. Im Anbetracht der aktuellen Lage in Osteuropa erlangt dieses Buch eine Bedeutung, die über die Grenzen Israels, Palästinas und der Region hinausgeht. Es bleibt allein die Hoffnung, dass auch durch dieses Buch so manches Auge weiter geöffnet wird.

Stadtabenteuer Paris

Ja, Paris ist eine Reise wert! Ja, Paris ist eine Weltmetropole! Ja, Paris muss man gesehen haben! ABER: Jede Wette, dass achtzig Prozent der Besucher dasselbe gesehen haben. Was auf den ersten Blick auch nicht verwerflich ist. ABER: Schöner wär’s doch Paris, die Weltmetropole so zu erleben wie nur ganz Wenige. Es so sehen zu können wie es vielleicht sogar die Pariser nicht einmal erleben. ABER: Wie?

Augen auf beim Reisebuchkauf! Denn es gibt nur ein Buch mit wirklichen Abenteuern. Dieses hier! Birgit Holzer ist mit offenen Augen durch die Stadt der Liebe und der Lichter gewandert und hat das gefunden, was einen unvergessenen Paris-Trip auch wirklich unvergessen macht.

Ein Croissant auf den Stufen vor Sacré Cœur genießen, ein Genuss. Aber zur Mittagszeit oder kurz vor dem bzw. rechtzeitig zum Sonnenuntergang die Stadt aus exklusiver Höhe bestaunen und sich dabei den Gaumen kitzeln lassen – da muss man schon lange suchen, um fündig zu werden. Oder man schaut in die Stadtabenteuer Paris, Seite Quarante.

Auch ein Besuch auf dem Prominentenfriedhof Pere Lachaise mit Abstecher zu Edith Piaf und Jim Morrison lohnt sich. Man bekommt einen Plan zu den Promi-Gräbern und dackelt besonders in der Ferienzeit den Massen hinterher. Zweifelsohne ein besonderes Erlebnis. Dennoch ist es doch um einiges Nachhaltiger einmal in einem echten Klassiker herumzustromern. Hier liegt kein Schreibfehler vor. Ja, in einem echten Klassiker herumstromern. Und man darf sich sogar unterhalten, ohne dass der Maestro einem ein „Silence!“ entgegenschmettert. Man wandelt soeben durch ein Kino der besonderen Art. Eine ehemalige Fabrik wurde in ein lebendiges Museum verwandelt. Um einen herum schweben (besser man wandelt durch) Gemälde von Claude Monet, Auguste Renoir oder Henri Matisse. Man ist Teil der impressionistischen Revolution und Werke. Alles so lebendig… und das in Paris, der Stadt der Lieb und Lichter.

Es ist ein Privileg mit diesem Stadtabenteuer-Reisebuch durch Paris zu staunen. Dass es hier immer wieder was zu entdecken gibt, steht außer Frage. Doch wo suchen, wo beginnen, wo aufhören? Die Antworten lauten in umgekehrter Reihenfolge: Niemals, und zweimal in diesem Buch.

Wer das Wort Abenteuer allzu wörtlich nimmt und ein wenig zögert, dem sei versprochen, dass Abenteuer nicht automatisch mit Säbelrasseln gleichzusetzen ist. Es ist vielmehr das exotische Kribbeln auf der Haut, das man empfindet, wenn man etwas erlebt, was viele andere eben nicht erleben, weil sie schon an der Frage nach dem Wo scheitern. In der Reihe Stadtabenteuer sticht dieser Band besonders heraus. Denn sowohl Paris-Neulinge wie auch Experten werden große Augen machen.

Layla aus dem Zauberwald

Layla, ein kleines Mädchen, rennt aufgeregt durch die Stadt. Sie rempelt Leute an, wird von Autofahrern angehupt, weil sie auf der Straße läuft. Voller Begeisterung schaut sie die Schaufenster an, voller Bestürzung erblickt sie einen Pelzmantel. Was ist geschehen?

Layla wohnt im Wald. Die Blätter bieten ihr Schutz vor regen und Kälte. Die Tiere im Wald sind ihre Freunde. Sie – und nur sie – kann mit ihnen reden. Die Eule Windflug überbringt den Tieren des Waldes und Layla die bedrückende Nachricht, dass die Menschen in der Außenwelt dabei sind die Natur zu zerstören. Es gibt nur eine Möglichkeit den Irrsinn zu stoppen: Layla muss den Menschen die Augen öffnen. Die Sache hat allerdings einen Haken. Layla bleibt nicht viel Zeit. Sobald die Sanduhr, die Windflug ihr gegeben hat, das letzte Sandkörnchen durchrieseln lässt, kann Layla nicht mehr zurück in den Wald, nicht mehr zurück zu ihren Freunden. Ihr Leben wäre dann ein anderes…

Gänzlich ohne Pathos, mit allgegenwärtiger Empathie bringt Nicole Nickler in ihrem ersten Buch die Probleme der Zeit auf den Punkt. Ein kleines Mädchen wird zur Retterin der Welt. Okay, ein bisschen Pathos darf es dann doch sein. Aber den erhobenen Zeigefinger sucht man vergebens.

Auffallend sind die Tuschezeichnungen von Muntaha Al-Robaiy. Sie untermalen die ernsthafte Geschichte. Schwarz und Weiß wie die Zeichnungen ist die Geschichte nicht. Denn das draußen in der Außenwelt gibt es Spezies, die sich mit dem Untergang eine Existenz aufgebaut haben. Die Ratte Rocco ist so ein Opportunist. Ohne Müll und Gestank wäre sie verloren. Rocco weiß nur nicht, dass es auch ohne den Verfall ein gutes Leben geben kann. Layla weiß Rat.

Kinderbüchern mit aktuellem Bezug liegt oft ein Hauch von blindwütigem Aktionismus bei. „Layla aus dem Zauberwald“ bildet die rühmliche Ausnahme. Mit einfachen Worten und entwaffnend einfacher Argumentation tut Kindermund die Wahrheit kund.

Der Nachbar

Es gibt viel Arten zu nerven. Und es gibt Arten genervt zu sein. Wenn der liebe Nachbar von oben drüber des Nachts permanent die eigenen Nerven durch akustische Attacken überstrapaziert, gehen einem schon mal die nerven durch. Weil es nervt!

Mal mit ihm reden, denkt sich der Biologierlehrer, dessen nächtliche Ruhe durch das Getrappel, den Fernseher, Gespräche, Streit, kurzum: Durch Lärm, beeinträchtigt wird, ist nicht drin. Das hilft nichts. Der Typ da Oben, Ygor, mit Ypsilon, was ein Quatsch, ist einfach unbelehrbar. Dem müsste man mal so richtig … die Leviten lesen. Ihm den Hals umdrehen. Sogar noch Schlimmeres geht dem Pädagogen durch den Kopf.

Ein Schüler könnte diesen heiklen Job ausführen. Der Grobschlächtigste unter ihnen wäre prädestiniert dafür. Nach der Schule bessert er sein spärliches Nebenjobgehalt mit Überfällen auf. Doch was, wenn der Grobschlächtige mal auf die Idee kommt den Auftraggeber, ihn, den Lehrer später einmal zu erpressen? Keine gute Idee. Da muss man selbst Hand anlegen. Selbst ist der Mann. Wenn seine Frau das wüsste. Was für ein ganzer Kerl er ist. Dann würde sie ihn wohl nicht verlassen wollen. Aber vielleicht ist es dafür eh schon zu spät?!

Die Tat im unruhigen Schlafe zu ersinnen, das ist einfach. Doch den letzten, entscheidenden Schritt auch wirklich zu gehen, dafür braucht man Mut. Die letzten spärlichen Überreste dieser Courage im Herzen, setzt der Biologielehrer einen Schritt vor den Anderen. Die Tür öffnet sich. Pause. Im Bad liegt die Leiche des lärmenden Übeltäters mit Ypsilon. Wie ein Held fühlt er sich nicht. Auch wenn er weiß, dass die nächtlichen Stunden nun in Morpheus Armen vergehen werden. Wäre da nicht das schlechte Gewissen.

Bei der Gerichtsverhandlung versucht der Anwalt des Angeklagten einen Kniff. Lärmbelästigung als mildernder Umstand. Doch Milde schützt vor Strafe nicht. Das Böse hat schlussendlich gesiegt.

Patrícia Melo lässt dem Bösen ungeheure Freiheiten. Das Gute ist gefangen im Korsett der Regularien und der eingefahrenen Pfade dessen, was tun darf und was man zu unterlassen hat. Bevor es still wird um den Lehrer, der doch nur Ruhe suchte, muss er durch das Fegefeuer der Faszination gehen. Fans säumen den Weg ins Gerichtsgebäude und später ins Gefängnis. Sie sehen in ihm einen Helden, der das recht selbst in die Hand genommen hat. Dass er dabei nur verlieren konnte, wird vom Neuartigen, vom Mut überstrahlt. Des Teufels Helfer ist spannender als der willfährige Gefolgsmann des Gesetzes.