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Der Schlafwagendiener

Was war er froh als er den Job als Schlafwagendiener ergattert hat. Nun konnte Baxter endlich anfangen zu sparen. Auf das ersehnte Zahnmedizinstudium. Ein liegengelassenes Buch brachte ihn auf die Idee diesem Ziel so einiges über sich ergehen zu lassen. Doch das Studium kostet Geld. Viel Geld. Ihm fehlen noch einhundertundein Dollar. Doch ihm fehlen mittlerweile auch nur noch zehn Strafpunkte – dann ist er den lukrativen Job auch wieder los. Und Strafpunkte werden verteilt wie der Sandmann den Schlafsand verteilt. Vor allem aber werden sie willkürlich verteilt.

Baxter wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren. Kaum dreißig Jahre später hat er nicht mehr als ein Ziel vor Augen. Das Zahnmedizinstudium. Doch als junger, schwuler Schwarzer ist das Ziel – momentan – nicht mehr als eben dieses. Er ist den Launen der Passagiere auf den langen Zugstrecken durch die Wildnis Kanadas komplett ausgeliefert. Und wenn einmal jemand mit einem Scheinchen wedelt, ist es meist eben nur ein Wedeln. Die Verheißung ist der ständige Begleiter.

So wie die ewigen Nörgeleien der Fahrgäste. Es ist zu kalt, obwohl allen anderen schon die Schweißperlen über die erhabene Stirn läuft. Trunkenbolde müssen in ihre Kojen verfrachtet werden. Unzufriedenheit allenthalben. Und Baxter bleibt ruhig. Lässt alles über sich ergehen. Nur noch einhundertundein Dollar – und zehn Strafpunkte. Die beiden Zahlen gehen eine unheilige Allianz ein, die Baxter rund um die Uhr durch den Kopf geht.

Doch was soll schon groß passieren? Der Zug ist voll auf dem Weg gen Westen, einmal quer durchs und übers Land. Das bedeutet gutes Trinkgeld. Nicht so viel, dass er am Ende der Reise das Studium beginnen kann. Wohl aber lang genug, um genug Strafpunkte zu sammeln … Jemand könnte ihn dabei ertappen, dass er sein größtes Geheimnis – seine Homosexualität – offenbart. Der Zug könnte stehenbleiben. Es könnte zu Tumulten kommen. Die Ungewissheit der Weiterreise könnte dazu führen, dass Baxter sein Strafpunktekonto bis zum Bersten auffüllt. Turbulenzen in jedweder Hinsicht könnten ihm alles verbauen, was er sich erträumt und schon aufgebaut hat. Andererseits ist er es gewöhnt stillschweigend alles über wich ergehen zu lassen. Zu schwiegen. Zu lächeln. Nicht zu viel zu verraten. Doch dann passiert es: Der Zug bleibt stehen…

Suzette Mayr macht aus einer ganz normalen Zugfahrt des Jahrs 1929 einen Roadtrip ins Ungewisse. Ein junger Mann, der gegenüber Anderen ein komplett anderer Mensch sein muss, gerät rund um die Uhr in Situationen, die ihm Kopf und Kragen kosten können. Er könnte sogar wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis kommen. Soweit denkt er aber nicht. Er denkt nur an sein Studium und daran diesem Ziel alles unterzuordnen. Kurz vor dem Ziel muss er jedoch feststellen, dass Glück und persönliche Ziele oft auf unterschiedlichen Gleisen unterwegs sind.

Tot oder lebendig

Wenn der Dreißigste ansteht, kann man ihn ganz normal feiern, so wie die neunundzwanzig vorangegangenen Geburtstage. Oder man verzieht sich in eine Pension in den Bergen und hofft, dass das Netz ausfällt und man sich in grüblerischem Selbstmitleid ergießen kann. Oder man stopft sich am Tag zuvor Pommes in die Kauleiste und beschließt sich umzubringen.

Anna Thurow entschließt sich Tor Drei zu wählen. Doch dann kommt der Zweifel. Wie soll sie es denn nun anstellen?  Mit ’nem Strick? Wo bekommt man den? Wo soll ES stattfinden? Viel zu viele Entscheidungen für die finale Entscheidung. Springen! Von ganz oben. Erfolgschancen unberechenbar. Gift! Gift ist immer gut.

Am nächsten Morgen steht nun also die große Dreinull an. Die Gedanken den Vortags sind nicht ganz weggeblasen, aber die Party, der Absturz und deren Folgen sind einfach präsenter. Sonntag – the day after – ist Ruhetag für Körper und Geist. Montag – och nee – Arbeit, Frust und die Gewissheit, dass sie morgen zu dieser Hypnotiseurin gehen wird … okay, es wird doch erst der Mittwoch sein, der sie dorthin führen wird, wohin sie nie wollte.

So schlimm wird es schon nicht werden. Die Hausärztin hat Anna erstmal krankgeschrieben. Drei Monate! Depression mit ausgeprägtem Hang zum Suizid. Klingt erstmal nicht wie der Stoff aus dem Leseträume sind. Doch die Autorin Ariana Zustra spricht … ihr Mut zu. Denn Anna wird bewusst – die Hypnotiseurin hat es ihr eingetrichtert – dass in ihr der Geist eines kroatischen Juden namens Andri aus Dubrovnik schlummert. Immer noch nicht überzeugt „Tot oder lebendig“ lesen zu müssen?

Anna reist nach Dubrovnik. Eine uralte Stadt an der Adria. Im Sommer ein Hort für Kreuzfahrer mit eingebildetem Bildungsdrang, außerhalb der Anlegezeiten ein wahrhaftiger Ort zum Träumen. Und die Heimat von Andri. Dem Juden, dessen Geist in Annas Körper herumgeistert. Was so lapidar dahingeschrieben scheint, ist ein Seelenstriptease der wortwitzigen Art. Denn Anna ist nun dreißig. Also erwachsen, ohne Ausreden für kindisches Verhalten. Sie findet sogar eine Person, die Andri gekannt hat. Der hatte aufgrund seiner Religion kein erfülltes Leben. Genauso wie die vorletzte Generation in Dubrovnik. Die Narben des Balkankrieges eitern immer noch. Die Nachfolgegeneration kennt das Bombengeheul nur noch aus verschwommenen Erinnerungen und Erzählungen der Väter und Mütter. Andri hingegen – Anans Geist – ist ein Füllhorn an Schauergeschichten. Leider sind die alle wahr. Und Anna trägt sie mit sich herum.

„Tot oder lebendig“ führt den Leser mal beschwingt heiter, mal rotzig frech, doch immer liebevoll durch eine bittere Zeit. Eine Zeit des Krieges, der einst vor der Haustür stattfand, und von dem immer noch zu wenig bekannt ist. Die Leidfigur ist selbst eine Frau, die nicht recht weiß, wer sie ist, wer sie sein will. Unzufriedenheit in sicheren Zeiten ist mehr als nur eine Modeerscheinung. Das alles ist real. Es passiert tausendfach um uns herum. Anna bekommt einen ordentlichen Tritt in ihr Hinterteil. Von nun an muss sie allein voranschreiten. Und mit einem Mal sind die Depressionen, der Unwille und die Antriebslosigkeit einer Neugier gewichen, die man als Dreißigjährige nur noch schemenhaft als Kindererinnerung wahrnehmen sollte.

Balkon mit Aussicht

Muss man noch von Paris schwärmen? JA!!! Immer wieder und wieder. Es gibt unzählige Bücher, in denen die Liebe zur Stadt der Liebe eindrucksvoll zu Papier gebracht wurde. Und jetzt kommt noch eines hinzu. Jedoch keine gewöhnliche Lobhudelei mit den „besten Tipps“ für dies und das. Sondern eine Liebeserklärung an eine Stadt, in der die Autorin nicht nur viele Jahre lebte, sondern eine Stadt, die sie aufgesogen hat und die sie aufgezogen hat.

Für Brigitte Schubert-Oustry war Paris ein halbes Jahrhundert nicht nur Obdach, es war ihr Leben. Sie ist deswegen und wegen ihrer unnachahmlich berührenden Sprache die ideale Reisebegleiterin durch die Stadt an der Seine. Als Neuling sollte man dieses Buch als Zweit-, Parallel- oder Zusatzlektüre im Gepäck haben. Denn Brigitte Schubert-Oustry ist keine typische Zeigetante, die nach Links und Rechts verweist, um der hinterher trabenden Masse so viel wie möglich zu zeigen, sie steigt mit dem Leser ins Herz der Stadt.

So nachdrücklich die meisten Urlaubserinnerungen sind, so austauschbar sind sie in den meisten Fällen. Da die Autorin hier in Paris jedoch nicht ihren Urlaub verbrachte, sondern hier wirklich lebte, hinkt der Vergleich mit den meisten Reiseimpressionen. Eine echte Madame Concierge erlebt man nicht als Touri, der mit der Kamera um den Hals baumelnd dem nächsten einzigartigen Motiv hinterherjagt, und dabei die wahre Schönheit der Stadt übersieht. Das sind die wahren Originale. Und sie sind eine aussterbende Spezies. Concierge sein bedeutet alles (!) zu wissen, jeden zu kennen… und zwar bis ins kleinste Detail. Ohne dabei natürlich mit dem Wissen hausieren zu gehen oder die entsprechende Person damit zu behelligen. An ihr, an ihm kommt niemand vorbei. Sie sind die gute Seele, aber auch der schärfste Wachhund der Stadt. Und Brigitte Schubert-Oustry erzählt ausgiebig von ihren Begegnungen mit diesem Menschenschlag.

Genau wie vom immer seltener werdenden Hausfest. Das ist eigentlich keine Pariser Erfindung oder gar ein wiederkehrendes Fest. Findet es allerdings einmal statt, und man ist eingeladen (als Touri fast unmöglich) dann erlebt man Paris wie es wirklich ist. Man kann natürlich auch dieses Buch lesen… Das ist fast so echt wie das Hausfest selbst.

Mit und in diesem Buch schaut man nicht verstohlen durchs Schlüsselloch – die Autorin öffnet bereitwillig jede noch so verschlossen scheinende Tür mit einem Handstreich. Man fächert sich den Duft der Stadt zu, atmet tief ein und ist im Handumdrehen mitten in einer der aufregendsten Städte der Welt. Es gibt sie noch, die Geheimnisse von Paris. Man muss sie ab sofort nicht einmal mehr suchen. Sie liegen ordentlich sortiert vor einem.

Salzruh

Das FDGB-Ferienheim Rudolf Breitscheid in der Altmark hat auch schon besser Tage erlebt. Und genauso wie der von den Nazis im KZ Buchenwald umgekommene pazifistische Sozialdemokrat Breitscheid ist auch die Pension Bertholdi, wie das Ferienheim heute heißt, in Vergessenheit geraten. Jedoch nicht ganz in Vergessenheit geraten, in verschieden Städten gibt es noch die Rudolf-Breitscheid-Straße oder den nach ihm benannten Platz. Und so ist es auch hier in der Trostlose: Alles hat noch den mittlerweile schmierigen DDR-Charme.

Und die He(e)rbergsmutter ist eine echte Matrone. Oda Prager sieht man exakt vor sich: Streng nach hinten gekämmtes Haar, Kittelschürze, Nylon Strümpe, die kurz unter der Schürze das fleischige Knie freigeben. Sie trägt ganz sicher eine Warze im Gesicht, das auf einer Kinoleinwand, in der Nahaufnahme jedes sprießende Drahthaar in den Fokus rücken. Alle bleiben drinnen. Wegen Schutzmaßnahmen. Das ist mal ’ne Ansage. Und Oda Prager lässt keinen Zweifel daran, dass jedes dieser präzise gewählten Worte ernst gemeint ist. Zuwiderhandlungen werden erst gar nicht erwähnt. Und somit liegen mögliche Bestrafungen allein in der Phantasie der Herbergsinsassen.

Nun ist es so, dass die Pension mitten im Wald liegt. Salzruh wird das Ganze hier genannt. Die dicht an dicht stehenden Bäume schlucken wahrscheinlich jedes Geräusch. Geräusche der Freude, des Entdeckens, aber auch der Angst und des Schreckens. So viel steht schon mal fest.

Die Alterstruktur des Gäste sowie deren scheinbare Charaktere spielen der diktatorischen Oda Prager unzweifelhaft in die Hände. Mittleres bis gehobenes Alter, oft Rentenbezieher, sesselpupsende Tabellenausfüller, auf sich selbst was einbildende Quasi-Intellektuelle – kurzum: Die versammelte schweigende Mehrheit, die lieber permanent die Lippen zusammenbeißt als einmal die Luft zwischen ihren Zähne entweichen lässt. Ein Glücksfall für Oda Prager? Wohl eher nicht! Sie ist die geboren Schlüsselverwalterin. Wortkarg, menschenscheu und misanthropisch. Ihr sind die Meinungen anderer so was von egal, dass niemand ihr zutraut überhaupt eine Meinung bilden zu können. Mitläufer, die Verschwiegenheit in Person. Und diese Person hat nun die Macht über die neun Tische im Haus.

Wagt es jemand sich ihr zu widersetzen? Wenn ja, wer und mit welcher Konsequenz. Man belauert sich und lauert auf das Startsignal zur Flucht. Flucht wohin? Und was ist, wenn die Schutzregeln doch erst gemeint sind? Ohne jedwede Information sind die „Gäste“ gefangen in der Ungewissheit, hin und her schaukelnd zwischen „Ich will doch einfach nur Urlaub machen“, „Der wird’ ich’s zeigen“ und Schwanzeinziehen.

Susan Kreller erfindet das Genre Grusel neu. Hier fliegen keine Phantasiegestalten durch die staubigen Gänge. Auch Zauberkräfte sucht man – Gott sei Dank – vergebens. Es ist das perfide Spiel mit der Angst und der Ungewissheit als willfährigen Handlanger. „Salzruh“ lässt den Leser auch nach dem Zuklappen noch lange nicht in Ruh!

Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Stille Jahre

Für die kleine Bohdana sind es dieses sechs Buchstaben, die eine entscheidende Wende in ihrem leben markieren. B-L-A-N-K-A. Eigentlich sind es acht Buchstaben. B-L-A-N-I-Č-K-A, die Verniedlichungsform von Blanka. Da liegt ihre Großmutter im Krankenhaus. Und für Bohdana, die soeben mit Blanka angesprochen wurde, beginnt mit einem Schlag das Leben einer Suchenden und endet das unbeschwerte Leben eines unschuldigen Kindes. Denn der Vater weicht dem fragenden Blick des Kindes aus. Wieso Blanka, Blanička? Eine Phantasie? Der Name ihrer Schwester, sagt Vater, doch Bohdana weiß, dass er lügt. Sie weiß schon in diesem Moment, dass sie diesem Geheimnis auf die Spur kommen muss. So klein, so jung, und schon mit einer so großen – selbst auferlegten – Bürde behaftet.

Ihre Mutter ist ihr so nah wie der Vater ihr fern ist. Blanka ist dreizehn. Und seit dem Krankenhausbesuch geht ihr die seltsame Reaktion ihre Vaters nicht aus dem Sinn. Mürrisch und gefühlskalt – so kennt sie ihn. Manchmal auch wütend. Immer jedoch verschlossen und niemals das, was er sein soll: Papa. Sie ist für ihn eine Belastung, für Mama ein Wunder. Und sie selbst ist gewitzt, pfiffig. Einen Stammbaum will sie erstellen. Für die Schule. Und schreibt deswegen ihre Verwandten an. Vater ist beunruhigt. Erst als er erfährt, dass es für die Schule sei, legt sich bei ihm die Anspannung. Ein wenig zumindest. Bohdana registriert diesen Sinneswandel sehr wohl. Und das stachelt sie noch mehr an herauszufinden, was hinter der Verwechslung der Namen steckt.

Die ersten Briefe der Verwandten, Antworten auf Bohdanas Wunsch nach Informationen über ihre Familie kommen zurück in das unscheinbare Haus am Ende der Sackgasse. Ein Brief jedoch erregt das Herz des Teenagers. Ihr Vater sei ein Schwein!, steht darin. Wie soll ein Mädchen in Bohdanas Alter damit umgehen?

Auch das Leben des Vaters war nicht durch Liebe gekennzeichnet. Auch er war ehr unerwünscht als ersehnt. Der Aufbruch nach dem Krieg, die Hoffnung einer neuen Gesellschaftsordnung, einer neuen Ideologie bestimmte das Dorfleben. Und immer mehr drang das Parteihörigkeitsdiktat in die Familie ein. Was der Sohn – Bohdanas Vater – bei seinem Vater (als verkappter Abkapselungsversuch) verabscheute, lebt er nun seiner eigenen Familie vor. Erschwerend hinzu kommt bei ihm aber die Verschlossenheit. Eine Tatsache, die Bohdana noch mehr anstachelt dem stillen Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen…

Alena Mornštajnová ist die Expertin für Familiengeheimnisse. Bei ihr prasseln die versteckten Fehltritte jedoch nicht wie Starkregen auf die Protagonisten hernieder. Nein, sie sind ein feiner Nieselregen, der sich festsetzt in jede noch so kleine Ritze eindringt und sich festsetzt. Für immer! Immer tiefer durchsetzt er Schicht für Schicht bis er endgültig im Herzen angelangt ist.

Schlösser der Loire

Es ist schon ein besonderes Erlebnis in der Nacht an der Loire entlang zu fahren. Ringsum nur die ungetrübte Dunkelheit. In der Ferne sind kleine Lichtpunkte zu sehen. Das sind sie – die Schlösser der Loire. Funkelnd wie Edelsteine in der Nacht.

Des Tags sind sie nicht minder beeindruckend. Doch wo anfangen zwischen Tours und Angers? Wie kommt man da hin? Was darf man unter gar keinen Umständen verpassen? Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen sie alle. Darüber wird nicht diskutiert! Heike Bentheimer hat den einen, ultimativen Reiseband zu diesem einzigartigen Ensemble royaler Pracht geschrieben. Über 450 Seiten lang. Und jede Seite ein Märchen, das Wirklichkeit werden kann. Eine Tour der Impressionen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen werden. Und wer auf die motorisierten vier Räder gern verzichten möchte … kein Problem: Die Loire ist Radwanderland. Berge sucht man hier vergebens, was die Alterspanne der Pedalisten sehr breit fassen lässt. Und wer will, kann sich sogar das Gepäck von A nach B, von B nach C etc. transportieren lassen. Hier ist wirklich alles möglich.

Ob nun zu Fuß, auf zwei schmalen oder vier fetten Rädern oder gar in der Luft – die Reise an den Ufern der Loire wird zum Sinnesrausch erster Klasse. An dieser Stelle wird nicht auf ein einzelnes Schloss eingegangen. Die Auswahl erschlägt den Leser schlichtweg. Denn nicht nur die großen Hallen einstiger Macht, sondern auch die kleineren, teils Lustschlösser genannten, „Behausungen“ sind mehr als nur eine Einkehr wert.

Architektonisch ist jedes ein Juwel. Mal muss man näher herantreten, mal erschließt sich die Pracht erst bei der Beschau der Details. Wer will kann ja mal die Türme und Türmchen oder die Anzahl der Fenster zählen – ein dicker Block ist ratsam.

Dieser Reiseband steht den Schlössern in nichts nach. Eine Schatztruhe voller Reichtümer, die man vielleicht so erwartet hat. Aber wenn man sie vor sich sieht, ist man trotzdem bafferstaunt. So soll es ja auch sein. Beeindruckend ist im Buch die nicht minder aufsehenerregende Fülle an Tipps rundherum und zwischen den Perlen der Loire. Fakt ist, dass eine Reise entlang der Loire mit zahlreichen Abstechern zu den Schlössern, den Gartenanlagen, den Parks, inklusive Abbiegen nach Links und Rechts, den lukullischen Ereignissen, den phänomenalen Eindrücken mehr als nur ein Fotoalbum füllen kann. Es wird eine Reise sein, die man nie mehr vergisst. Auch dank dieses Reisebandes.

Denk an mich, auch in guten Zeiten

Welke Blicke, ausstillen, zwiebulieren, eine Falle, die eigentlich ein Knäuel sein soll – man kommt sich ein bisschen wie bei Hercule Poirot vor, wenn er den neugiereigen Fragen der Anwesenden aus dem Weg gehen will, in dem er ihnen Faktenbrocken zum Fraß vorwirft. Doch die kraftvollen Wortschöpfungen sind Grundlage und Salz ein- und derselben Suppe. Die Beziehung einer Frau zu ihrem Vater. Den sie kaum kannte. Und als sie sich darauf einlassen konnte, sich ihm zu nähern, sich ihm zu stellen, machte er sich ein für allemal davon. Trauern? Ja, aber wie?

Nebensächlichkeiten halten sie nicht ab dem Fortgang der Geschichte, ihrer Geschichte, zu folgen. Als Leser sind das die Momente, in denen er hoffnungslos in darin versinkt. Die Stimmung, die Umgebung werden so nahbar, dass man sich nicht mehr entziehen kann.

Maja Gal Štromars Buch „Denk an mich, auch in guten Zeiten“ lässt viel Raum für Interpretationen. Und gleichermaßen ist dafür kein Raum mehr. Denn die Sprachgewalt der Autorin bedarf keines Eingriffs von Außen. Immer wieder versinkt sie in Melancholie, bricht entschlossen auf zu neuen Ufern, verzweifelt, richtet sich auf. Und mittendrin der Leser, der sich nach und nach bewusst wird, dass hier nicht mit einem schnellen Ende zu rechnen ist. Geduldig muss man die Seiten an sich vorbeiziehen lassen, um schlussendlich festzustellen, dass klassischer Aufbau und Leseerlebnis nicht das einzige Paar sind, das zum Ziel führt.

Der Wow-Effekt von „Denk an mich, auch in guten Zeiten“ liegt nicht in der Geschichte selbst. Wie Maja Gal Štromar zugibt ist die Geschichte gar keine Geschichte, im klassischen Sinne, mit Anfang und Ende etc. Es sind die Bruchstücke, Versatzstücke, Puzzleteile, die sich wie selbstverständlich ineinanderfügen und einen Raum schaffen, den man so noch nie betreten hat. Gänzlich uneitel entblößt sich hier eine Frau, ohne Scheu vor den Konsequenzen. Poetisch kraftvoll wie es nur selten vorkommt.

Rot, sagte er

Bei einem Museumsbesuch kann es einem schon mal passieren, dass man sich in ein Bild hineinziehen lässt. Irgendeine Faszination geht vom Farbenspiel aus, die Komposition erregt einen, das Motiv fesselt den Betrachter, die Ausmaße, die Ausleuchtung haben etwas an sich, das einen nicht loslässt. Jetzt möchte man noch tiefer in dieses Bild eintauchen. Will wissen, woher es kommt, was den Maler dazu bewegte. Wie sind die Verbindungen zwischen Maler und Objekt? Wer sich diese Fragen schon einmal gestellt hat, findet in diesem Buch einen wahren Freund.

Volterra, die alte etruskische Stadt, die in ihrer Geschichte so manche herbe Niederlage einstecken musste, ist der geographische Mittelpunkt dieser Geschichte. Hier lebt Angel Mariani. Künstlerin und Katermutter. In der Zeitung liest sie vom tragischen Ende von Eremo. Kein besonders geselliger Einwohner der Stadt. Eigentlich gar kein Mensch, der die Gesellschaft anderer suchte. Aber immer freundlich. Ein guter Zuhörer. So richtig kannte ihn niemand. Woher er kam, was ihn hierher verschlug, was er machte – keiner kann eine rundum zufrieden stellende Antwort geben. Und doch wer er immer da. Einem Glas Wein war er nicht abgeneigt. Immer nur eines. Und immer vom Feinsten. Das erfährt Angel aber erst nach einer Erfahrung, die ihr noch lange im Kopf herumschwirren wird.

Sie hat also vom Tod Eremos gelesen. In der Zeitung waren dank der eines Filmteams (sie drehen eine Serie über die Medici, der Familie, die Volterra den Garaus machen wollte) exzellente Fotos zu sehen. Da liegt er in der Schlucht. Der Mann, den jeder erkannte, den aber niemand wirklich kannte. Angel geht dieses Bild nahe.

In der Pinakothek sucht sie Ablenkung. Rosso Fiorentinos Deposizione, die Kreuzabnahme lässt sie tief in die Szenerie einsteigen. Der Meister hat sich selbst darin verewigt. Ein Fingerzeig. Tragische Szenen. Die flammenden Farben. Angel ist tiefer bewegt als sie es sich anfangs eingestehen kann. Tränen kullern über ihre Wangen. Das ist neu für sie. Ja, sie ist Künstlerin. Sie ist besonders sensibilisiert für derartige Empfindungen. Aber so stark hat sie sich noch nie wahrgenommen. Kann es sein, dass Eremo in diesem Bild ihr erschienen ist? Gar nicht mal mystisch oder gar esoterisch, nein echt, wahr, real. Angel beginnt zu erst in ihrem Kopf zu kramen, um herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Nach und nach sieht sie einen Zusammenhang in dem Dreieck Volterra – Fiorentino – Eremo…

Klaudia Ruschkowski könnte den Leser durch ein Museum führen und ihm die Geschichte einiger Bilder erklären. Sie könnte auch aus dem Seelenleben einer Künstlerin erzählen. Oder die Geschichte eines rätselhaften Mannes. Oder eine kleine Kulturgeschichte der Toskana. Sie entscheidet sich für alles! Alles in einem Roman. Ganz sanft lässt sie ihrer Heldin Platz, um sich zu schütteln und der Situation Frau zu werden. Was dann geschieht, haut nicht nur sie, sondern die gesamte Leserschaft um. Ein Feuerwerk, das dem geforderten Rot des Künstlers in Nichts nachsteht!

Der Schrecken

Während auf dem Kontinent sich die gegenüberSTEHENDEN Armeen gegenseitig die Köpfe einschlagen, geschehen in Wales seltsame Dinge. Im Moor versinken Menschen, sie stürzen Klippen hinab, hinter Hecken leuchtet es unerklärlich und ein Schiff versinkt. Einfach so. Neben all den Schreckensnachrichten über den Krieg – eine Bezifferung ist zu dieser Zeit noch nicht nötig – beschäftigen diese unerklärlichen Fälle menschlicher Tragödien die Menschen um ein Vielfaches. Und sie regen die Phantasie an.

Denn wie sonst als mit dem unguten Trieben einer höheren Macht, eines perfiden Planes fremder Mächte, seltsamer Gestalten oder doch handfester Fieslinge sind diese Ereignisse zu erklären. Mit Z-Strahlen vielleicht, wie es der Doktor meint? Ist zumindest eine Theorie. Doch das hochgestochener Gebrabbel, seine nicht jedermann verständlichen und nicht enden wollenden Ausführungen lassen das alles schnell als Spinnerei abtun. Dennoch bleiben die Theorien haften. Vielleicht ist ja doch was dran?! Und außerdem wartet der Geschichtenonkel immer wieder mit neuen „Fakten“ auf.

Als Leser wird man von einem Sog erfasst, der einfach kein Entkommen zulässt. Ohne auch nur einen Gedanken an stumpfsinnige Spinnerei zu verschwenden, befindet man sich im Nu in einer wahrlich phantastischen Geschichte. Und zwar eine Geschichte aus einer Zeit, in der das viel geschundene und missbrauchte Genre Fantasy nun wirklich noch nicht einmal in der Wiege lag.

Arthur Machen (ausgesprochen Mecken, er war Waliser) lässt seinen Theorienaufsteller nicht verzweifeln an der Missachtung seine Theorien. Vielmehr treibt sie ihn an. Immer wieder ergeht er sich in historischen Ausflügen, die seine Gedanken stützen. Auch wenn es ab und an groteske Züge annimmt, wenn also beispielsweise deutsche Soldaten im Untergrund (im wahrsten Sinne des Wortes) agieren.

Dieses Buch und die dazugehörige Werksausgabe als Grundstein für Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen, würde weit über das Ziel hinausschießen, es nicht einmal ins Visier nehmen können. Arthur Machen verbreite mit „Der Schrecken“ keinen Schrecken. Dieses Buch ist ein anregendes Stück Literatur, das einen sofort gefangen nimmt. Ein ziviler Arrest, den man mit Freuden annimmt, wenn man sich der Wortgewalt einmal bewusst ist.