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Aminas Lächeln

Jeder hat mit seinem ganz persönlichen Druck zu kämpfen. Ein Gerüstbauer spürt sicher einen ganz anderen Druck, wenn er die Bauteile auf seinen Schultern trägt als eine junge Tunesierin – Amina – die jeden Tag, jede Stunde, jede Minute daran erinnert wird, dass sie rein äußerlich nicht „von hier ist“. Und irgendwann hält auch das stärkste Ventil nicht mehr stand. Dann platzt es aus einem heraus.

Im Falle von Amina ist dieses Es so, dass sie einen Mann in der U-Bahn zusammenschlägt. Sie ist Boxtrainerin, weiß also, wie sie zuschlagen muss. Weiß, wo es weh tut. Und wenn er, der sich nun am Boden vor Schmerzen krümmt, ihr zuvor ins Gesicht gespuckt hat, ist das alles zum Teil auch nachvollziehbar. Wenn es denn so war.

Wenn der Samenspender sich plötzlich von der Vaterfigur zum Vater entwickeln soll, ist das für eine der beiden weiteren beteiligten Personen ein ähnlicher Fall. Ada und Eva sind ein Paar. Ihre Kinder wurden von Ingo gezeugt. Der ist ständig präsent. Doch nicht als Vater, sondern als Freund. Als Eva vorschlägt, dass ihr Nachwuchs Ingo Papa nennen kann, bricht eine Welt zusammen. Nicht für die Kids. Nicht für Ingo. Ada wurde nicht gefragt. Nun läuft sie weg. Weg aus München. Weg ach Hamburg. Doch auch hier ist die Sache nicht aus der Welt. In ihrem Kopf spielen ihr die wüstesten und wütendsten Gedanken einen Streich.

Alles nur Einbildung? Oder alles wahr? Björn Bicker gibt den Personen in seinen Kurzgeschichten einen Raum, den sie nicht kennen. Sie treten ein und werden von sich selbst in eine Rolle gedrängt, die sie nie wahrnehmen wollten. Die sie nicht kannten. Und schon gar nicht wussten, dass sie diese Rolle mit Leben füllen können. Sie sind nicht von dieser Welt, diese Rollen. Aber die Menschen sind von dieser Welt. Nur aus verschiedenen Ecken, Ländern, Städten, aus verschiedenen Kulturen. In ihnen rattert der unaufhörliche Zug des Gewissens. Und manchmal stoppt er an Orten, die sie nicht kennen. Nun stehen sie im Nirgendwo und wissen nicht wie ihnen geschieht. Der Ausbruch aus dem einen Leben als Einbruch in ein Loch, das sie nicht ausfüllen können.

Manchmal muss man im Buch ein paar Seiten zurückblättern, um sich zu vergewissern, dass man tatsächlich hier gelandet ist. So eigenwillig sind die Gedanken des Autoren. Immer wieder findet man sich in einer Welt wieder, die man den Akteuren nie zugetraut hätte. Und das ist wahre Spannung!

Spaziergänge durch hundert Jahre Mode. Von der Gründerzeit bis in die Moderne

Es geht immer noch ein bisschen mehr. Oder weniger. Und alles kommt irgendwann wieder zurück – Weisheiten, die in keiner Modesendung fehlen dürfen. Ist es nur der fehlende Einfall zu ganz Neuem oder ist einfach schon alles erzählt worden?

Ob dieses Buch alle Antworten darauf hat, muss man selbst für sich entscheiden. Denn eines steht fest: Geschmack kann man zwar kaufen, aber ob es denn wirklich auch stilsicher ist… Die Frage, ob alles irgendwann mal wieder kommt, ist längst schon beantwortet – ja. Auch Schulterpolster und Neonfarben. Aber wo liegt der Ursprung? Vielleicht war das, was anscheinend wiederkommt zuvor schon einmal da?

Wer weiß (es)? Dieses Buch! Hier stehen die Ursprünge der modernen Mode Seite für Seite hübsch aufgereiht hintereinander.

Doch hier geht es nicht darum einfach nur aufzuzählen, wann welche Mode in Mode kam. Es geht um das, was uns alltäglich umgibt. Denn Mode ist nicht einfach nur ein paar Bahnen Stoff zusammenzuklöppeln, sich ein Image auszudenken und dann die Kasse klingeln zu lassen. Obwohl bei manch einer Shoppingtour dieser Gedanke nicht so abwegig erscheint. Nein, Mode ist harte Arbeit. Arbeit, die man nicht sieht. Wer weiß schon wieviel Vorbereitung nötig ist bis beispielsweise eine Bluse wirklich auf einem Kleiderbügel hängt? Die Geschichte dahinter, die eigentlich die Geschichte davor ist, ist nicht minder spannend.

Schon mal ein Schnittmuster in der Hand gehabt? Das lineare Stück Hochgefühl vermittelt auf den ersten Blick erst einmal keinen Eindruck von dem, was hinterher maschinell zum Leben erweckt wird. Es erinnert eher an Mixtur aus exakter Wissenschaft und einem Bild von Jackson Pollock. Willkür und Planeinhaltung in Einem.

Und so spaziert man stilvoll von den Zwanzigern, in denen eh alles erlaubt war (oder doch nicht), liftet höflich den Zylinder, wenn man an Moderfotografen wie Cecil Beaton und Horst P. Horst vorbeischlendert, taumelt im Irrgarten der Schnittmuster und schaut Modezeitschriftenmachern über die Schulter, wenn Sie Mode erschaffen.

Ein kurzweiliger, sehr lesenswerter Streifzug durch das, was uns anzieht.

Die Leipziger Passagen und Höfe

Wer Gäste hat, die zum ersten Mal Leipzig besuchen – so was soll’s ja tatsächlich noch geben – der zeigt als Erstes die Passagen der Innenstadt, der City, der Stadt wie der Leipziger sagt. Olle Goethe hat im Auerbachs Keller in der Mädlerpassage oft genug gezecht – bestimmt auch so manche zeche geprellt – das muss man zeigen, muss man gesehen haben. Stimmt! Aber, und dieses Aber kann man gar nicht groß genug schreiben, damit ist die Tour noch nicht einmal annähernd am Anfang einer großartigen Tour durch die Passagen und Höfe der Messestadt.

Jeder Stadtobere Leipzigs hält etwas auf die Messetradition in der Stadt. Hier wurden schon vor Jahrhunderten Salz, Gewürze, Felle … eigentlich alles, womit sich der Geldbeutel füllen lässt, Märkte und Messen abgehalten. Das erwirtschaftete Geld floss zu einem gewissen Prozentsatz auch ins Stadtsäckl. Und nach und nach wuchs die Stadt, zeigte, was man sich leisten konnte und ließ Marktplätze (überdacht) entstehen, die bis heute zum Bummeln einladen. Von der Luxusuhr bis zum handgebastelten Mitbringsel im Pop-Up-Store fand man schon immer alles innerhalb des Stadtkerns. Und nach der Wende erstrahlten die alten Handelsplätze, auch dank einiger (zu vieler) unseriöser Geschäftspraktiken im neuen Glanz. Die Geschädigten können dem sicher nur wenig abgewinnen. Besucher hingegen werden noch Wochen nach de Besuch von der Eleganz schwärmen.

Wolfgang Hocquél setzt dem unverwechselbaren Wahrzeichen der Stadt Leipzig ein neuerliches Denkmal. So schmal das Buch auf den ersten Blick aussehen mag, so prall gefüllt sind seine fotografischen Schätze. Das Füllhorn an Bling-Bling ist endlos. Als ob extra für das Fotoshooting jede einzelne Scheibe noch einmal auf Hochglanz poliert wurde. Kenner wissen, dass es hier immer so aussieht. Man zeigt, was man hat und schmückt sich gern damit.

Selbst Leipzig-Kenner werden hier und da in Staunen geraten. Die großen Passagen sind jedermann bekannt. Speck’s Hof, die bereits erwähnte Mädlerpassage und sicher auch Oelßner’s Hof lassen aufhorchen. Aber Jägerhof und Kretschmanns Hof – da muss man schon nachdenken. Obwohl man bei jedem Spaziergang durch die City daran vorbeiläuft. Ab sofort hält man kurz inne.

Auch Leipzig lässt den Fortschritt nicht spurlos an sich vorbeiziehen. Die neu geschaffenen Höfe am Brühl haben in diesem Buch ebenso ihre Daseinsberechtigung (der Mix aus neuerem Bestand und totalem Neubau war anfangs umstritten, mittlerweile nimmt man es in Leipzig als gegeben hin), wie die verschwundenen und versteckten architektonischen Perlen links und rechts von Brühl, Katharinenstraße und Marktplatz. Einfach nur Durchblättern ist bei diesem Buch nicht möglich. Lesen, Staunen, Stehenbleiben und nochmals Staunen – anders geht’s halt doch nicht.

Mord, Mystery & History

Da steigt man nichts ahnend in die Pariser Metro und … da liegt eine Frau. Nicht einfach so! Sondern tot. Geschehen am 16. Mai 1937. In ihrem Nacken steckt ein ziemlich langes Messer. Und der Täter! Fort. Hinweg. Verschwunden. Einfach so. Die Ermittlungen – ergebnislos. Zumindest offiziell. Denn die Akten darf niemand sehen. Sind unter Verschluss. Bis 2038, also einhunderteins Jahre nach dem Verbrechen. Denn die Dame – sehr gut aussehend, man wird nicht müde es zu betonen – spielte ein doppeltes Spielchen. Zum Einen das nimmermüde Partygirl, zum Anderen Spionin für die französischen Behörden im Kampf gegen die extreme (und einflussreiche) Rechte. Die Tatwaffe deutet jedoch auf Italiens Machthaber Mussolini bzw. seine willfährigen Helfer. War es vielleicht sogar ein doppeltes Doppelspiel. Ein paar Jahre müssen wir noch warten, dann werden die Akten geöffnet.

Wie wäre es damit? Man selbst ist ein gefürchteter Schlächter. Horden von Mannen stehen unter seinem Befehl. Gilt es jemanden, der der Mafia gefährlich werden könnte, aus dem Weg zu räumen, gibt es nur eine Adresse: Albert Anastasia. Circa tausend Opferkerben zieren seinen Opferstock. Heute steht wieder ein Barbierbesuch auf dem Plan. Es wird der Letzte sein. Gewehrsalven und der finale Kopfschuss bereiten dem Chef der „Murder inc.“ ein jähes Ende. Wer war’s? Mh, keiner weiß es. Vielleicht hätte Albert Anastasia sich mehr an die Gepflogenheiten und Regeln seiner Auftragsgeber halten sollen.

Mit diesen zwei Geschichten beginnt eines der spannendsten true-crime-Bücher. Alle Fälle sind echt. Genauso passiert, oder zumindest annähernd und allesamt tragen das Gütesiegel „Der perfekte Mord“. Einen Mord durchführen ist das Eine. Damit davonzukommen das Andere.

Journalist Ingo Gentner geht den Stories hinter aufsehenerregenden Schlagzeilen auf den Grund. Auch er vermag es nicht die wahren Mörder auf- und anzuzeigen. Doch das bisher Ermittelte ist allein schon Stoff genug für Schauergeschichten, oftmals sogar filmreif. Und so liest man sich durch die kurzen Kapitel und fragt sich selbst, wie es die Täter immer wieder schaffen ungeschoren davonzukommen.

Vielleicht sind sie es aber auch nicht, und ein weiterer Täter, der wiederum ungeschoren davongekommen zu sein scheint, hat Rache genommen … ein Teufelskreis. Doch das ist nur die eine Seite des Buches. Es kommen auch wahre Wunder ans Tageslicht. Wie der Überlebenskampf eines Polizisten aus Arizona. An einer Ampel crasht mit unvorstellbarer Wucht ein Auto ins seinen Streifenwagen. Der Unfallfahrer hatte einen Anfall und war nicht mehr Herr über seinen Körper. Zweieinhalb Monate liegt das Opfer im Koma. Dann kämpfte er sich zurück ins Leben. Sein Gesicht ist bis heute entstellt. Dennoch oder vielleicht deswegen bezeichnet er sich als glücklichen Menschen. Das sind die mysteriösen Seiten des Buches.

Wer sich in wahre Fälle eingraben kann, in ihnen aufgeht, wird dieses Buch lieben. Für alle anderen bleibt die unstillbare Neugier nach dem Unfassbaren, dem Grauenhaften, dem immer noch eine Faszination anhängt.

Kulinarisches Brandenburg

Früher an später denken, denn eines ist sicher: Der Hunger kommt garantiert. Und wenn man dann nicht vorgesorgt hat… muss man zwar nicht hungern, aber sicher zieht der eine oder andere Geheimtipp an einem vorbei, weil man ihn nicht (er-)kannte.

Julia Schoon ist die gute Fee für den kleinen, mittleren, großen Hunger, die Appetitmacherin für alle Sinne und Kochtopfgucker mit dem hang andere teilhaben zu lassen. Wie wäre es mit Eseln? Nicht auf dem Teller! Neben einem. Schritt für Schritt sind sie duldsame Wanderkollegen, die den Urlaub im Planwagen (und das ist kein Sprachbild) mehr als nur abrunden. In der Uckermark sind diese Langohren nicht leicht zu finden, aber wer wirklich was Besonderes erleben will, inkl. lukullischer Leckereien, der kommt voll auf seine Kosten. Und wird noch lange danach davon schwärmen.

Dieses kleine Büchlein hat es faustdick hinter den Umschlagseiten. Komplette Touren, Restauranttipps, Wegweiser zu abgelegenen Hofläden … Brandenburg putzt sich immer mehr heraus. Vorbei die Zeiten, in denen Rainald Grebe Lied „Brandenburg“ hämische Zustimmung fand. Und es biete mehr als nur die Spreewaldgurke. Auf dem Forellenhof Nassenheide nördlich von Oranienburg bekommt der Spruch „Frisch auf den Tisch“ eine ganz andere Dimension. Angel in Wasser halten, etwas Geduld und schon landet der Fang auf dem Teller.

Wer den Fläming nur von der Autobahnraststätte kennt, der sollte das Bilderbuchdorf Blankensee besuchen. Schloss, Café, zwei Seen, nur ein paar Straßen und nur 600 Einwohner. Oder kurz gesagt: Ruhe! So viel Ruhe, dass man das Knurren im Magen hören kann. Und es gibt auch die passende Medizin gegen dieses lärmende Bauchkonzert.

Immer tiefer taucht man in das Bundesland Brandenburg ein ohne dabei das Links und Rechts der Strecke außeracht zu lassen. Ein Reiseband, der in Herz, ins Hirn und durch den Magen geht.

Ellis

Wie soll man in der Fremde Halt finden, wenn der Boden aus einem Gemisch auf Ablehnung gebaut ist? Ellis kennt die Antwort auf diese Frage nicht. Sie ist mit ihrer Mutter aus Italien nach Deutschland gekommen. Alles um sie herum ist fremd. Die Menschen, die Sprache, die Kultur. Vor allem aber diejenigen, die jede Minute um sie herum sind.

Das ändert sich als Grace in ihr Leben tritt. Auf Anhieb sind sich beide so nah wie es sonst nur Schwestern sein können. Von nun an gibt es sie nur noch im Doppelpack. Selbst Ellis’ Mutter bekommt die Tochter nur noch selten zu sehen. Niemals würden sie getrennt sein. Ellis weiß das und klammert sich daran fest wie ein Koala an einem Eukalyptusbaum.

Doch Grace verändert sich. Und wechselt – wie Ellis es sieht – die Seiten.

Jahre später kommen sich beide – nun schon – Frauen wieder näher. Sie verbringen eine Zeit in Italien. Bei Ellis’ Familie. Bei der Nonna. Vorsichtig rücken Ellis und Grace näher aneinander. Gehen gemeinsam die Umgebung erkunden, die für beide fremd ist. Ellis hat ihre Heimat nun in Deutschland. Und Grace kennt in dieser Gegend nichts und niemanden. Außer Ellis. Dennoch schaffen es beide nicht das, was damals geschah aufzuarbeiten. Warum wechselte Grace die Seiten? Die Frage wird in den Raum gestellt. Dort bleibt sie allerdings auch. Oder sind es gar die Worte, die nicht ausgesprochen werden, die die Verständigung so einfach machen?

Selene Mariani ist in Verona und Dresden aufgewachsen. Ihr Romandebüt weißt Spuren dieses Weges auf. Wohlwollend gibt sie beiden Frauen den Raum, den sie benötigen, um sich frei entfalten zu können. Dass das nicht immer schmerzfrei über die Bühne gehen kann, wird ihnen erst im Laufe der Zeit klar.

Mit behutsamen Worten, im rasanten Wechsel der Zeitebenen und unverwüstlichem Glauben daran, dass die beiden wieder zueinander finden werden, berauscht man sich am Festival der Gedanken zweier Frauen, die sich nur eines wünschen: Endlich wieder beisammen zu sein und die Geister der Vergangenheit in den azurblauen Himmel aufsteigen zu sehen.

Europa erlesen – Leipzig

„Mein Leipzig lob’ ich mir, es ist mein klein Paris“ – ach, immer nur Paris, Paris, Paris, wenn es um Europa geht. Schon olle Goethe wusste die Metropole im Herzen Deutschlands zu schätzen. Wobei viele der Meinung sind, dass er dabei vor allem die lukullischen Spezialitäten im Allgemeinen, und die alkoholischen im Speziellen meinte. Dennoch ist es so, dass wer Leipzig nur einmal besucht, schon vor der Abreise den nächsten Aufenthalt im Kopf hat.

Das ist keine Erfindung der Moderne. Vielmehr ist es so, dass schon vor Jahrhunderten die Stadt von den modernsten Köpfen in den allerhöchsten Tönen gepriesen wurde. Nachzulesen in diesem Büchlein. Das hellblaue Exemplar der „Europa-erlesen-Reihe“ prahlt mit der bekannten Namensliste der Autoren, die sich im Laufe ihres Lebens mit Leipzig auseinandergesetzt haben. Und das beginnt nicht nur bei Goethe, und hört ebenso noch lange nicht bei ihm auf.

Wer die Inschrift des Leipziger Gewandhauses liest, die übersetzt „Reine Freude ist eine ernste Sache“ (Seneca, 5 v. Chr – 65 n. Chr.) kommt dem Kulturverständnis der Stadt schneller auf die Spur als er einatmen kann. Ja, das Masurleum, wie der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, gebürtiger Ostsachse und leidenschaftlicher Leebz’scher, das berühmteste Wahrzeichen der Stadt nennt, ist der Stolz der meisten der über sechshunderttausend Einwohner. Auch nach vierzig Jahren nach dem Neubau – viele Beiträge im Buch erzählen von den Hindernissen des fast unmöglichen Vorhabens – ist es immer noch ein Synonym für Moderne. Und so geben sich hier in diesem Buch namhafte Größen die Klinke in die Hand. Brecht forderte in einem Brief an Therese Giehse einen Generalintendanten für die Stadt – die Giehse könne das doch machen?!. Lotte Lenya berichtet von Tumulten während und nach einer Aufführung („Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“). Uwe Johnson staunt über den gewaltigen Bahnhof, der ja eigentlich aus zwei miteinander verbundenen Bahnhöfen besteht. Erich Kästner bezeichnet Leipzig als Märchenhauptstadt, und das als gebürtiger Dresdner (die Rivalität zwischen den Städten ist nicht so ausgeprägt wie beim Fußballduell zwischen Dortmund und Schalke, dennoch vorhanden).

Man blättert und blättert und kommt nicht umhin zu sagen, dass, wenn es so viele Leute so gut mit der Stadt meinen, dass da irgendwas dran sein muss an dieser Stadt. Also nichts wie hin … aber Vorsicht: Nicht vergessen dieses kleine Büchlein ins Handgepäck zu nehmen.

Leipzig außergewöhnlich – Impressionen

Da machen selbst gebürtige Leipziger – Leebzscher – große Augen! So schön ist die Stadt. Klar. Lokalpatriotismus ist die ehrlichste Form des Stolzes. Aber, dass es doch tatsächlich Ecken gibt, die man selbst noch nicht kennt … so muss es doch sein. Denn nur die Veränderung bringt Erstaunen hervor.

Wer Leipzig noch nicht so gut kennt, der wird in diesem Buch eine Offenbarung erleben. Abwechslungsreich ist es hier an der Pleiße. Der viel bemühte Vergleich, dass Tradition und Moderne Hand in Hand gehen, trifft hier wirklich zu.

Da blättert man sich durch Stadtansichten, bei denen man sich als Eingeborener den Kopf zerbricht, wo sich denn nun der Fotograf postiert hatte, um im richtigen Moment (mindestens genauso wichtig wie die Position) den Auslöser zu drücken.

Der bildstarke Band nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch die eindrucksvollen Stadtteile der Metropole, die sich allzu gern als heimliche Hauptstadt Sachsens sieht. Goethe und Mendelssohn-Bartholdy wirkten hier wie Wagner und Schiller. Schwerindustrie und Kultur schlossen sich hier niemals von vornherein aus. Und so verwundert es nicht, dass auf idyllische Parklandschaften im Winterschneepuderweiß nur wenige Seiten später sachliche Industrieeindrücke aus Werkhallen schlussendlich ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

Das für einen derartigen Prachtband handliche Format eignet sich nicht nur zum wiederholten Blättern, sondern ist genau deswegen das ideale Geschenk für alle, die einmal die Messestadt besuchten und sie im Handumdrehen ins Herz schlossen. Und sei es „nur“, um die nächste Reise nach Leipzig zu planen. Jede Abbildung ist es wert, dass man sie vor Ort persönlich besucht.

Tag und Nacht, Sommer wie Winter, morgens und abends – hier sind Eindrücke für die Ewigkeit festgehalten. Wenn die Blaue Stunde am idyllischen Karl-Heine-Kanal ehemalige Fabrikgebäude, die heute exquisite Wohngegenden prägen, in satte Farben taucht, kann sich des Eindrucke nicht erwehren, dass diese Stadt ein Juwel ist, das viel schon entdeckt haben, jedoch noch nicht alles entdeckt wurde.

Valdarno, Casentino, Florenz

Da muss man schon mal kurz nachdenken … Valdarno, Casentino – wo liegt das denn? Die Lösung folgt prompt: Florenz. Dort in der Gegend muss es sein. Wer bei Valdarno schon das Smartphone gezückt hat, um zu schauen, wo es liegt, kann es gleich eingeschaltet lassen. Denn seit einiger Zeit ist es beim Michael-Müller-Verlag üblich zeitgleich zum Buch auch die passende App zu veröffentlichen. Das Buch im Smartphone, mit allen Tipps und Wegbeschreibungen für alle, denen der digitale Wanderweg näher liegt als die gedruckte Faktenvielfalt der besuchten Region.

Wenn man nun also herausgefunden hat, dass, wenn man Valdarno und Casentino zwei Regionen östlich von Florenz sind, kann die Reise voll durchstarten. Mit diesem Reisebuch beginnt das Abenteuer schon beim ersten Durchblättern. Egal, ob Buch oder App!

Und bei diesem ersten Durchblättern fällt dem geneigten Michael-Müller-Reisebuch-Benutzer auf: Irgendwas ist neu. Jeder Absatz wird durch blau abgesetzte Hinweisgeber wie „unbedingt…“, „… und außerdem“ oder „Was läuft“ unweigerlich in den Sog der Buches gezogen. Wenn man in einer Region ist, die man noch nie besucht hat, ertrinkt man nicht selten im Informationsüberfluss. Diese klare Gliederung vereinfacht das Erforschen der Orte, die man erkunden möchte. Nur ein scheinbar kleiner Fort-Schritt, der jedoch seine Wirkung nicht verfehlt.

Und so erblüht Casentino auf wundersame Weise. Der Arno schneidet die Region in Ost und West bei seinem Nord-Süd-Lauf. Rustikal, ursprünglich und erstaunlich ruhig ist es hier. Pralle Landschaften, die zum Schritt-Für-Schritt-Erkunden einladen. Unnötig zu erwähnen, dass die lukullischen Bedürfnisse hier vortrefflich befriedigt werden. Dass man auch ja nichts übersieht, dafür sorgt die Autorin Barbara de Mars. Kein Zweifel – sie war wirklich vor Ort und hat alle Sinne geschärft nicht nur so manchen Kochtopfdeckel gelüftet, sondern jeden ihrer Schritte dokumentiert.

Valdarno ist allein schon durch die geographische Nähe zum opulenten Florenz etwas geschäftiger. Nichts desto trotz jedoch immer noch beruhigter als die Renaissance-Metropole. In Bucine und dem Val d’Ambra muss man „unbedingt…“ die zauberhaften Reste des Castello di Cennina besuchen. Tausend Jahre alt, und nur noch in vereinzelten Überbleibseln zu besichtigen. Doch die haben es in sich. Wer sich vorher kundig macht, kann diesen zauberhaften Ort bei klassischer Musik erleben. Genau dann, wenn das Musikfestival stattfindet. „…und außerdem“ lohnt sich ein Besuch der schlichten Pfarrkirche Pieve di Petrolo“. Im Inneren zeigt sich ein Terrakotta-Schatz, der seit fünfhundert Jahren die Zier des Ortes ist. Wer auf seinem Weg das vermeintlich lapidare „was läuft“ entgegengeschleudert bekommt, kann ganz unprätentiös antworten: „das Froschfest“. Was das ist? Einfach unter im Absatz „was läuft“ nachschauen. Reisen und Infos sammeln kann manchmal ganz einfach sein. In diesem Buch ist es Standard.

Europa im Blick der Kartographen der Neuzeit

Wer schon als Kind mit dem Finger über die Landkarten in Atlanten gestrichen ist, kennt die Wirkung die Grenzen, Flüsse, Erhebungen auf die Reiselust haben. Wenn dann noch ein gehörige Portion Geschichtsinteresse hinzugefügt wird, sind Bücher wie „Europa im Blick der Kartographen der Neuzeit“ ein gefundener Augenschmaus.

Wie sah man die Welt vor beispielsweise rund vierhundert Jahren? Damals war bei Weitem noch lange nicht die ganze Welt erkundet. Geschweige denn kartographiert. Und die Urlaubsorte der Gegenwart existierten im besten Fall schon. Aber sie waren halt einfache Orte, in denen Menschen lebten und ihr Überleben mit Arbeit sicherten. Tourismus war ein Fremdwort. Und so manche Hinterlassenschaft war ein modernes Zeichen des Fortschritts der (damaligen) Gegenwart.

Simeon Hüttel nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Die kann man so nur in diesem Bildband buchen. Die Zusatzleistungen beschränken sich auf beeindruckende Abbildungen, phantasieanregende Reisen mit dem Finger über die Karten und anregende Texte, die Lust machen eventuelle einmal Jahrhunderte nach Entstehen dieser Karten auf dem einen oder anderen gezeichneten Pfad auf Erkundungstour zu gehen.

Doch Vorsicht, so mancher Ortsname hat im Laufe der Jahre seinen Namen geändert. Und wer beispielsweise den Ort Cimbri sucht, wird schnell an seine Grenzen stoßen. Es handelt sich bei Cimbri nämlich um das Volk, nicht einen Ort Cimbri.

Immer wieder werden Details aus den Karten herausgezoomt und erzeugen einen tiefen Einblick in die feine Kunst der Kartenherstellung. Oft waren es Kupferstiche, ein enorm aufwendiges Verfahren, die bis heute den Betrachter verblüffen. Betrachtet man sich diese Details kann man kleinste Linien erkennen, die aus der Ferne erst ihre Wirkung entfalten.

Besonders gravierend sind die Unterschiede zur Gegenwart bei Karten von Ländern, die im Laufe der Jahrhunderte ihre Grenzen verschoben haben, deren Grenzen verschoben wurden. Wie am Beispiel Polens und Litauens. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als die abgebildete Karte entstand, wurden beide Länder von einem gemeinsamen Königreich verwaltet. Dennoch sind Polen und Litauen unterschiedlich dargestellt. Während Polen in die einzelnen Landesteile farbig untergliedert ist, wird das fast gleichgroße Großfürstentum Litauen im einheitlichen Grün präsentiert. Propaganda oder künstlerische Freiheit? Die Kirche, die Christianisierung ist – wie zu oft in der Geschichte – der Schlüssel zur Antwort.

Dieses Buch, im eleganten Pappschuber, zeigt eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Ihre Wurzeln der heutigen Welt zu kennen, ist wichtiger denn je. So farbenfroh und nachvollziehbar wurde Geographie selten dargestellt.