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Sie spielte wie im Rausch

Kai Pflaume soll am Beginn seiner Fernsehkarriere einmal gesagt haben, dass man mit so einem Namen nur ins Fernsehen kann. Naja, wenn das das Argument für Erfolg ist, dann wohl lieber nicht. Rahel Blindermann wurde 1893 in der Nähe von Odessa geboren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie die gefeierte Schauspielerin auf Deutschlands Bühnen. Da hieß sie aber schon Maria Orska. Klingt auch knackiger. Obwohl man mit dem Namen Blindermann sicher viel besser in den Schlagzeilen spielen könnte. Aber damals waren Theaterkritiken noch echte Hingucker in den Gazetten. Die Konkurrenz durch Streamingdienste und soziale Medien war völlig unbekannt.

Frank Wedekind legte mit seiner Lulu einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg der Schauspielerin Orska. Lulu verführt die Männer. Lulu benutzt die Männer. Lulu ruiniert die Männer. Mit einem rollenden Rrrrr! Und einer unvergleichlichen Ausstrahlung. Lulu und Orska sind nicht voneinander zu trennen. Ebenso die Salome von Oscar Wilde. Beide Rollen sind wie für sie gemacht. Eine andere Schauspielerin in einer dieser Rollen? Undenkbar.

Doch der Ruhm hat auch seine Schattenseiten. Was wie ein schlechtes Klischee klingt, wird bei Maria Orska zum Markenzeichen. Hinter vorgehaltener Hand, dennoch weithin vernehmbar, ist ihre Drogensucht Stadtgespräch. Neben den himmelhochjauchzenden Schlagzeilen, fällt ein ebenso schrilles Schlaglicht auf ihr Privatleben. Ja, die Orska war eine Marke! Nicht nur wegen des geänderten Namens.

Ursula Overhage zieht ab der ersten Seite den Leser in eine Zeit, die längst vergangen, dessen Akteure zum größten Teil vergessen sind. Wie im Rausch, wie Maria Orskas Leben liest man sich durch Skandale, wird aber im gleichen Atemzug vom Talent der Mimin in den Bann gezogen.

Skandale verkaufen sich besser als die Arbeit gut zu verrichten. Daran hat sich in den vergangenen hundert Jahren nichts geändert. Dass sie es schafft das Gleichgewicht beizubehalten, ist das große Verdienst der Autorin. Den Wenigen, die Maria Orska noch kennen, klingen ihre Skandale immer noch nach. Nur einer kleinen Zahl von Lesern ist die schauspielerische Leistung noch ein Begriff. Mit diesem Buch betritt eine Große der Schauspielkunst ein weiteres Mal auf die Bühne. Ein nicht enden wollender Applaus ist Autorin und Heldin garantiert. Anders als Frank Wedekind. Der war bei den unzähligen Vorhängen nur selten mit auf der Bühne…

Maria Orska lebte sich in einen Rausch, spielte wie im Rausch, und starb früh in Wien. Ihre Wiederauferstehung in Buchform kommt keinen Moment zu spät!

Robert Kochs Affe

Da. Steht. Ein. … Affe in der Tür und bittet Dr. Hesse herein. Klingt jetzt nicht nach einer Geschichte über den derzeit wohl berühmtesten Arzt Deutschlands. Es ist aber so! Dr. Hesse hat ein Vorstellungsgespräch bei Robert Koch. Dessen Institut ist seit Monaten jedem ein Begriff. Seine Forschungen zu Krankheitserregern sind maßgebend für die heutige Forschung. Er machte die Medizin zur Naturwissenschaft. Und dort will auch Dr. Hesse arbeiten. Kochs Frau passt es nicht, dass ihr Gatte andauernd mögliche Kollegen zu sich nach Hause einlädt. Dafür hat er doch sein Institut.

Dieser Affe, Storm wird er gerufen, hat eine Vergangenheit. Schon früh reiste Koch nach Afrika, in die damaligen deutschen Kolonien. Hier forschte er zur Schlafkrankheit. Die hatte unerklärlicherweise die Einheimischen befallen. Dass Koch auch auf britischem Gebiet forschte, passte vielen nicht in den Kram. Hinter vorgehaltener Hand bezichtigte man ihn der Spionage. Aber Koch hatte einen Ruf. An dem konnte man nicht einfach mal so kratzen. Nur einmal unterbrach er seinen Aufenthalt in Südost-Afrika. Als er nach Stockholm eingeladen wurde. Dort nahm er persönlich den Nobelpreis in Empfang. Dass in seinem Labor in Afrika derweil fast ein fataler Fehler gemacht wird, entgeht ihm. Denn sein Lösungsansatz ist mehr als fragwürdig. Wie konnte er nur annehmen, dass Rattengift die Lösung herbeiführen könnte?

Ein weiterer Ortswechsel und ein Zeitsprung führen den Leser nach New York. Kochs Familie ist auf der ganzen Welt verstreut. Ihm selbst geht es immer schlechter. Schon bald wird die Heimreise antreten und die eigenen vier Wände nicht mehr verlassen (können). Doch auch hier, in der neuen – zivilisierten – Welt, wird er von Seuchen nicht in Ruhe gelassen. Die Typhoid-Mary, eine Patientin, die dank der Hearst-Presse einen jahrelangen Spießrutenlauf durchleben muss, schafft es unfreiwillig im wieder in die Gazetten. Koch würde gern helfen, kann es aber nicht. Doch er verfolgt ihr Schicksal mit wachem Verstand.

Michael Lichtwarck-Aschoff wagt es am Denkmal Robert Koch ein wenig zu kratzen. Ihm geht es nicht darum, den Lack von dem Bakteriologen zu entfernen. Vielmehr zeigt er einen Mann, der getrieben war vom Erfolg der Wissenschaft. Dass dabei, bei aller Vorsicht (auch wenn Koch selbst nicht als der reinlichste Mensch galt – Händewaschen war bei ihm Glückssache) immer wieder Fehlprognosen und Fehlinterpretationen auftraten, ist nur allzu menschlich. Die Fehler, sprich die Konsequenzen, jedoch können verheerender sein, als wenn man den falschen Treibstoff tankt. „Robert Kochs Affe“ liest sich leicht wie ein Roman, gibt Einblicke in  wissenschaftliche Arbeit und zeigt einen Mann, dessen Wirken bis heute nachvollziehbar ist.

Im Wald der Metropolen

Es gibt nicht viele Menschen, die man überall auf der Welt absetzen kann, und die überall auf der Welt zuhause sind. Sie stellen im Handumdrehen Assoziationen her. Ihnen kommen in Windeseile Geschichten in den Sinn, die nur sie und genauso erlebt haben. Karl-Markus Gauß ist einer dieser Auserwählten.

In dem einen Moment rauscht das Koffein von zu vielen Espressi durch seine Adern. Mit dem nächsten Atemzug schwärmt er von einer slowakischen Kleinstadt. Und wenn wir schon mal da sind: In Wien, in der Ungargasse, da war doch was! Hier wurde der Grundstein für den jugoslawischen Staat gelegt.

Puh, was ein Tempo! Und die Geschwindigkeit reißt nicht ab. Immer weiter treibt es den Autor, treibt er den Leser durch die Geschichte Europas. Wie schon in seiner „Abenteuerlichen Reise durch mein Wohnzimmer“ macht er vor keinem Ereignis unseres Kontinents halt. Es sind die kleinen Anekdoten, die den großen Ereignissen vorauseilen, damit diese sich entfalten können. Das steht so in keinem Geschichtsbuch der Welt! Und das ist auch gut so! Denn Karl-Markus Gauß auf seinen Expeditionen begleiten zu dürfen, ist nicht nur ein Privileg, es ist ein Erlebnis. Nur allzu oft übersieht man die wirklich historischen Stätten beim Durchstreifen von Märkten, Boulevards und Gassen. Man ergötzt sich an der Schönheit der Architektur, besucht manchmal die Heimstätte eines großen Namens, oder lässt sich einfach nur treiben. Gedenktafeln nimmt man als Appetithäppchen wahr. Doch die Geschichte hinter der Geschichte bleibt im Dunkeln wie ein Ölfleck in der nächtlichen Wüste.

Der Mann, der Licht ins Dunkel bringt heißt Karl-Markus Gauß. Bukarest, Opole, Arnstadt haben für ihn den gleichen Stellenwert wie Siena, Belgrad und Brüssel. Die Geschichten scheinen ihm förmlich zuzufliegen, er muss kaum suchen. Das ist nur eine Vermutung, die einen überkommt, wenn die Selbstverständlichkeit seiner Zeilen oberflächlich betrachtet. Sie sind jedoch das Ergebnis intensiver Recherchen, die man nur durchführen kann, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Im Wald der Metropolen“ ist kein Lehrbuch, in dem es darum geht noch einmal Jahreszahlen abzufragen oder sich wieder in Erinnerung zu holen. Hier trifft ein Wortkünstler auf Geschichte, die wirklich passiert ist. Und jedes Wort sticht jeden Zweifel darüber aus!

Giganten der Gelehrsamkeit

Da ist man schnell dabei, wenn es darum geht Leonardo da Vinci als Universalgenie zu bezeichnen. Er war Maler, Bildhauer, Brückenbauer im herkömmlichen Sinn (ein beliebtes Spielchen bei Assessment-Centern) und und und. Dass er Zeit seines Lebens Schwierigkeiten hatte Latein zu schreiben, übersieht man dabei gern einmal. Doch es geht hier und in diesem Buch nicht darum die Götter des Wissenschaftsolymps vom Sockel zu stürzen, sondern darum einmal genau aufzuzeigen, dass eben nicht nur der Gelehrte aus dem toskanischen Vinci ein solcher Universalgelehrter war.

Peter Burke geht mit dem ganz feinen Kamm durch die Archive der Welt und durchkämmt sie mit Akribie und Hingabe. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass er seine Kapitel nicht nach Namen, sondern nach der Zeit aufbaut. So umgeht er den Stallgeruch des neuerlichen Versuches einmal „alle Universalgenies noch einmal aufzuzählen“, so dass jeder mit Zahlen und Daten um sich schmeißen kann, der eigentlich gar nichts von der Materie versteht. Wer also meint nach dieser Lektüre ALLE Genies aufzählen zu können, muss sich schon die Mühe machen auch zwischen den Zeilen zu lesen. Vielmehr bedarf es einer gewissen Vorbildung. Denn Burke verkneift es sich noch einmal kurze Abrisse der Biographien zum Besten zu geben. Er ordnet die Arbeit der Giganten der Gelehrsamkeit ein. Auch wenn man im Physikunterricht zum Beispiel mehr mit der Stirn auf dem Pult lag als den Blick gen Tafel zu richten, liest man sich schnell in einen Rausch. Denn wer sein Handwerk versteht, kann als Experte bezeichnet werden. Wer darüber hinaus sein Wissen auch noch einem breiten Publikum zugängig machen kann, rückt zweifelsfrei in die Nähe eines Genies. Somit haben wir es hier mit einem Genie zu tun, das über Genies schreibt!

Peter Burke versteht es scheinbar mühelos seine in jahrzehntelangen Forschungen erbrachten Kenntnisse dem Leser näherzubringen. Seine Ausführungen gehen dabei über die pure Aufzählung und Einordnung der Genies und ihres Werkes hinaus. Peter Burke zieht Bilanz und wagt im Nachgang einen Ausblick auf das, was wir noch zu erwarten haben. Denn mit dem Ende der Renaissance, der Hochzeit der Universalgelehrten – das kann man unumwunden schon so behaupten – ist diese außergewöhnliche Spezies nicht ausgestorben.

Es ist sicherlich nicht einfach heutzutage Universalgelehrte von Blendern zu unterscheiden. Die immense Flut von Informationen kann gar nicht so schnell verarbeitet werden. Wer in vergangenen Zeiten lesen konnte, hatte schon mal die unumstrittene Grundlage sich viel Wissen aneignen zu können. Dass wir heute noch von Pythagoras und da Vinci reden, ist kein Zufall. Sie waren oft die Ersten, die ihre Erfindungen anpriesen. Man kann an ihrem Ruf kratzen, aber der Lack wird deswegen noch lange nicht abfallen. Peter Burke legt der Schickt Glanz noch eine mehr als dicke Unterschicht Wissen bei. So scheint alles in einem noch helleren Licht.

 

Du wirst heillos Geduld haben müssen mit mir

Lieber Glauser,

 

ich darf Sie doch so nennen? Ich kenne Ihren Studer, bin fasziniert von dem unnachgiebigen Jäger. Sie Friedrich zu nennen, käme mir nicht in den Sinn. Schon seit sehr langer Zeit habe ich keine Briefe mehr bekommen. Keine richtigen. Keine privaten Zeilen. Immer nur Werbepost mit mehr oder minder moralischen Angeboten. Ihre Briefe, zusammengefasst in diesem kleinen Büchlein sind die ersten in diesem Jahrtausend. Klingt hochtrabend, oder? Aber die nüchternen Zahlen sprechen eine nüchterne Sprache. Und die ist weder Ihrer noch mein Fall.

Sie sind ein echter Schlawiner, lieber Glauser! Die Feder ist schärfer als das Schwert, stimmt’s?! Wie Sie Elisabeth von Ruckteschell umgarnen, Ihre Liso, lässt erahnen was in Ascona passierte. Der Blitz hat mehrmals eingeschlagen. Biswangen und der Enge der Psychiatrie entkommen, war sie der Wind im Segel im Aufbruch zu neuen Ufern. Lange Briefe hatten sie ihr versprochen, hielten es und verwarfen den Gedanken gleichermaßen. Die Masse an Briefen … mochte sie das? Ich glaube schon. Sie wussten, was Sie wollten. Wohlklingende Worte, frei im Geiste und strikt ihren Weg verfolgend. Würden doch mehr Menschen so schreiben (können) wie Sie!

Heute – mehr als achtzig Jahre nach ihrem Tod – zeigt man seine Zuneigung mit kleinen Bildchen, Emojis nennt man das. Doch deren Bedeutung muss man auch erstmal entziffern. Sie hingegen halten nicht hinterm Berg. Sie lieben – als schreiben sie es. Sie darben, also betteln oder flehen Sie. Sie leiden – warum allein leiden? Auch andere sollen daran teilhaben, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Ich frage mich, was Sie wohl denken würden, wenn Sie Ihre „gesammelten Werke“ en bloc – wie in diesem Buch – lesen könnten. Oh my god! Oder doch „ach so war das?“, ich glaube die Erkenntnis liegt irgendwo in der Mitte. Und das obwohl Ihnen Mittelmäßigkeit niemals leid war. Wie kann man etwas leid sein, dass man nicht kennt! Ob man Ihre Liebebriefe wohl als Grundlage für eigene Schwüre benutzen dürfte? Irgendwie fühlt man sich verpflichtet dieses wunderbar gestaltete Büchlein – die Prägung mit den zwei Äpfeln auf der Frontseite haben Sie, wo immer Sie jetzt sind, sicher bemerkt – für sich selbst in die Tat umzusetzen. Es wäre doch schade, sie ungenutzt zu lassen. Nichts ist grausamer als unnütz verschossenes Pulver.

Liebe Glauser, es ist kein langer Brief geworden. Ich wollte nur Danke sagen, für den Studer und die Briefe, die ich lesen durfte. Genießen Sie den Ruhestand, und lassen Sie die Finger vom Morphium. Das ging schon einmal nicht gut! Bis gly.

Ich und der Andere

Immer wenn ein Jubiläum eines Künstlers ansteht, überschlagen sich alle mit neuen Enthüllungen aus seinem ach so lebhaften Leben. Meist geht es dabei um runde Geburtstage. Bei Jim Morrison, Leadsänger der Doors, beschränkt sich die Erkenntniswelle immer auf den runden Todestag. Am 3. Juli 2021 ist es vierzig Jahre her, dass er leblos in der Badewanne seiner Pariser Wohnung gefunden wurde. Die Umstände seines Todes sind unbekannt, ein Grund mehr Spekulationen immer wieder freien Lauf zu lassen.

In diesem Jahre – dem Jahr des 40. Todestages – wird die Fangemeinde, werden die Bücherregale allerdings um ein Buch bereichert, dass sich nicht dem skandalumwitterten Exzentriker widmet, sondern mit der Kraft der Phantasie dem Lizard King neues Leben einhaucht.

Späte Sechziger Jahre. Der Summer of love ist Schnee von gestern. Überall revoltiert man, es fliegen Pflastersteine, Konventionen werden immer stärker hinterfragt. Die Doors spielen noch nicht vor Massen in riesigen Hallen, die Charts sind noch weit entfernt. Wie immer ist James Douglas Morrison ein Nervenbündel bevor es on stage geht. Das Publikum giert nach der neuen Band, ist euphorisch und unsagbar laut. Und manche Dame im Saal macht dem ikonenhaften Adonis auf der Bühne mehr als nur schöne Augen, eine macht eindeutige Angebote. Und dann ist da dieser Typ. Der passt gar nicht ins Bild der mitgerissenen Zuschauer. Ein stiller Mann. Regungslos lauscht er den Klängen von John, Robby, Ray und Jim. Er macht sich sogar Notizen. Auf einem Rockkonzert! Sehr ungewöhnlich.

Aber was will man erwarten, wenn eine ungewöhnliche Band spielt. Und wenn dann auch noch so eine herausragende Persönlichkeit wie Jim Morrison sich endlich traut mit dem Gesicht zum Publikum zu singen, kann man davon ausgehen, dass ihm, dem fremde Gedanken näher sind als jedweder Mainstream, genau dieser eine Typ auffällt, der so gar nicht ins Bild passen will. Er nennt ihn Hölderlin. Nach dem deutschen Dichter.

Als Jim ein kleiner Junge war, konnte er seinen Vater, einen hochgedienten und dekorierten Offizier nur mit dem Lesen von Büchern beeindrucken. Eines davon war von Hölderlin. Ein Mann, der hundert Jahre vor der Geburt Morrisons starb und dessen Leben vom Tod beeinflusst war wie vom Leben selbst. Die Assoziationen, die Jim Morrison für sich selbst erstellte, sind nur ein Puzzlestück im Leben des brillanten Poeten.

Jim lässt sich auf den Sonderling aus dem Publikum ein. Er spricht mit ihm, lässt sich Ratschläge erteilen, verdankt ihm Songtexte. Zugegeben, nichts davon ist jemals so passiert. Es könnte aber so passiert sein. Jürgen Kaizik taucht tief in die Psyche des wilden Musikers ein. Ihn interessiert nicht (mehr) wann er wo welche Körperpartien bei Konzerten freigelegt hatte. Auch nicht die Exzesse, die Jim Morrison (zusammen mit seinem frühen Ableben im Alter von 27 Jahren – wie zuvor Brian Jones (wird gern in der Aufzählung übersehen), Jimi Hendrix und Janis Joplin) vermeintlich zu einer Legende machten. Jürgen Kaizik gibt Morrison eine Stimme, die der Musiker sicher gern angenommen hätte. „Ich und der Andere“ ist nicht die Kirsche auf dem Kuchen des Jubilars, es ist ein komplett neues Gebäck, das auf einem ganz anderen Tisch serviert wird.

Die kranken Habsburger

Welch wohlklingender Name: Habsburg. Europas Geschichte ohne einen Habsburger zu erzählen, wäre wie über das Jahr 2020 zu berichten, ohne dabei das Wort Corona in den Mund zu nehmen. Einfach unmöglich. Mit einem Trick, genauer gesagt mit einer Fälschung haben sich die Habsburger in den europäischen Hochadel gemogelt. Sie stellten quer über den Kontinent (und sogar darüber hinaus) Fürsten, Prinzen, Könige, Königinnen(!) und Kaiser. Durch geschickte Heiratspolitik hatte man in fast jedem Königshaus Europas seine Nachkommen untergebracht. Das erhielt den Frieden, meistens. So viel zur Geschichte, die jeder nachvollziehen kann.

Hans Bankl reichte das nicht. Der promovierte Pathologe hat – ganz im Sinne seines Fachgebietes – die Habsburger unter die Lupe genommen. Von der offensichtlichen herabhängenden Unterlippe, die berühmte Habsburger-Lippe, nach der oft in Quizshows gefragt wird, bis hin zu Krankheiten, die der Familienlinie nicht immer zu Gute kam, widmet er sich den kleinen Familiengeheimnissen dieser Dynastie.

Siebenhundert Jahre gab es kein Entrinnen vor den Habsburgern. Die waren einfach überall. Am spanischen Königshof, in Frankreich, Ungarn, Österreich (natürlich), Bayern, Lothringen, sogar in Mexiko. Das war aber eher ein Zwischenspiel, denn Kaiser Maximilian wurde nach wenigen Jahren der Regentschaft, die auch nur auf den „Wunsch“ Frankreichs zustande kam, erschossen.

Der unbändige Drang die Geschicke Europas zu steuern hatte aber auch einen gravierenden Nachteil. Irgendwann stirbt jede Linie einmal aus. Denn als Prinz wurde man automatisch Erbfolger. Als Mädchen war man Handelsgut, um an die Höfe Europas verschachert zu werden. Und genauso irgendwann hat man den Überblick verloren, wer wann wen heiratete. Ein heilloses Durcheinander war die Folge, so dass es nicht selten vorkam, dass gleiches Blut mit gleichem Blut die Ehe einging. Inzucht war die logische Folge, und mit ihr die bekannten Folgen.

Hat man sich erst einmal mit den oftmals gleichen Namen und den Jahreszahlen bekanntgemacht – als Nichtösterreicher und Nichthistoriker kann man bei den vielen Doppelungen der Namen schon mal durcheinander kommen – liest sich diese außergewöhnliche Familienchronik wie ein süffisanter Abriss der europäischen Adelsgeschichte. Man merkt Autor Hans Bankl des Öfteren das Schmunzeln an, das er beim Schreiben gehabt haben muss. Die Habsburger jedoch nur als inzestgeplagte Brut mit dem Hang zur Machtgier und oft ungeschickter Handlungsweise zu sehen, wäre fatal. Die Habsburger haben sicher mehr für die Einigung Europas getan, als man ihnen zugestehen möchte. Die Wahl der Mittel ist ohne Zweifel fraglich. Ihre Hinterlassenschaften sind es nicht. Man stelle sich beispielsweise Wien ohne Naturhistorisches und Kunsthistorisches Museum vor. Ganz zu schweigen von der Sissi-Industrie, die seit über einem Jahrhundert vom Glanz der schillerndsten Habsburgerin unzählige Familien ernährt und noch viel mehr Familien in Verzückung versetzt.

Der amüsante Schreibstil, das Detailwissen und das rasante Tempo des Buches begeistern bei jedem Lesen.

Ein Irokese am Genfersee

Schaut sich das Gebiet zwischen Huron-, Erie- und Ontariosee an, und zoomt in der Karte, findet man den Hinweis auf das Six Nations Indians reserve, no. 40. Nicht viel zu sehen, doch die Geschichte dieses Reservates hat viel zu bieten. Sie ist verbunden mit Deskaheh, Chief der Cayugas, einem Stamm der Irokesen, ein echter Indianerhäuptling, der 1923 in die Schweiz reiste und für Furore sorgte. Während heute jeder, der nichts zu sagen hat, jedoch auffallen will, sich „‘nen Iro“ stehen lässt, hatte Levi General – Deskaheh – ein ehrliches und zutiefst menschliches Ansinnen. Er wollte sein Volk vor der endgültigen Vertreibung und Des Raubes seiner Kultur bewahren. Dafür sprach er vor fast einhundert Jahren beim Völkerbund, dem Vorläufer der UNO vor.

Im ersten Weltkrieg soll sein Volk an der Seite der Kanadier gegen die Deutschen kämpfen. Deskaheh lehnt es ab. Wer nicht wählen darf, muss auch nicht an der Seite seiner Peiniger kämpfen. Eine logische Schlussfolgerung. Die Repressalien nehmen nicht ab. So beschließt er sich an den Völkerbund zu wenden. Wozu soll der denn sonst gut sein? Als die Regierung davon Wind bekommt, schlottern denen die Knie. Wie wird sich Dekahehs Ansinnen auf die Reputation des zweitgrößten Landes der Erde auswirken? Doch Deskaheh ist fest entschlossen. Wenn schon der englische König – formal der „Chief“ seines Volkes – wenn auch nur auf dem Papier – ihn nicht empfangen will, dann eben gleich zur höchsten Instanz, wenn es um Völkerrechte geht.

Doch niemand will mit ihm reden, geschweige denn ihn empfangen. Er ist kein Vertreter eines Landes, sondern nur einer Volksgruppe. Das reicht nicht, um gehört zu werden. Er wird jedoch gehört. Er darf reden. Nicht mit Politikern. Es sind die Zeitungen, die über den „roten Mann“ schreiben. Er hat Gönner, doch auch die sind in ihrer Macht eingeschränkt. Er hält Vorträge, die Beachtung finden.

Eine Rückkehr zu den Seinen ist ausgeschlossen. Der Pass ist abgelaufen, einen neuen Pass zu bekommen, ist fast aussichtslos. Und dann tritt das Unerwartete ein. Plötzlich stirbt Levi General, Deskaheh…

Ein Krimi? Eine Biographie? Auf alle Fälle eine mehr als spannende Periode im Leben eines vergessenen Kämpfers, das Willi Wottreng so detailreich der unwissenden Mehrheit preisgibt.

Künstlerinnen und ihre Häuser

Hereinspaziert, hier werden Sie was erleben! Hier gibt es viel zu entdecken. Mal einer echten Designer-Ikone über die Schulter schauen? Oder einer Bühnenlegende beim Hüten einer Kinderschar zuschauen? Oder auf einmal so viele Kunstwerke betrachten wie in keinem anderen Museum der Welt? Einhundertvierzig Seiten geballtes Künstlerleben.

Die erste Wohnungsbesichtigung steht bei Gabriele Münter in Murnau an. Im so genannten Russenhaus. Ein nettes Häuschen, das man schon auf dem ersten Blick als gemütlich bezeichnen kann. Russenhaus, weil hier Wassily Kandinsky lebte, zusammen mit Gabriele Münter. Sie richtete alles ein, versteckte nach der Flucht Kandinskys seine Werke – erfolgreich. Selbst die braunen Spürnasen fanden nichts. Glücklich war sie hier nur eine kurze Zeit. Denn der geliebte Kandinsky starb in Exil.

Auch Karen Blixen wurde in ihrem M’bogani bei Nairobi nicht vollends glücklich. Zu oft wurde sie betrogen. Und finanziell war sie ebenso wenig gut aufgestellt. Sie pendelte zwischen ihre Liebe Kenia und ihrer Heimat Kopenhagen.

Vanessa Bell und Virginia Woolf – Schwestern – erging es nicht anders. So schön die eigenen vier Wände waren, so groß die Schar der berühmten Besucher – das Glück klopfte allzu oft an die Türen der Anderen.

Josephine Baker war zu ihrer Zeit der ungekrönte Star der Varieté-Bühnen. Doch privat erlitt sie derart viele Rückschläge, dass es heute noch größte Bewunderung verlangt, wenn man ihr soziales Engagement betrachtet. Ein Schloss sollte es sein. Es wurde ein Schloss. In der Dordogne in grünen Herz Frankreichs. Und es war erfüllt von Kinderlachen, die eingangs erwähnte Kinderschar. Sie hat sie alle adoptiert bzw. bei sich aufgenommen. Doch die Kosten verschlangen Unsummen. Ihre Auftritte, u.a. mit Maurice Chevalier, brachten nicht genug ein. Immer wieder stand sie finanziell am Abgrund. Am Ende ihres Lebens griff sogar Fürstin Gracia Patricia unter die Arme.

Ob ein kleines Häuschen auf Hiddensee wie das von Asta Nielsen, in dem sich auch Joachim Ringelnatz und seine Muschelkalk (so nannte er liebevoll seine Frau) zu gern aufhielten, oder das E.1027, ein Buchstaben-Zahlen-Rätsel, das Eileen Gray mit ganzer Tatkraft einrichtete, oder eben das Schloss von Josephine Baker: Alle in diesem Buch versammelten Künstlerinnen schienen sich einen Traum erfüllt zu haben. Doch oft wurde es ein Gefängnis, das mit zwei Seiten einer Medaille geschmückt war.

Gabriele Katz nimmt den Leser mit auf Wohnungsbesichtigungen der besonderen Art. Diese Wände sprechen noch immer. Doch ihre Geheimnisse geben sie erst in diesem Buch preis.

The Five

Die Geschichte ist eigentlich klar: Jack the Ripper ermordet 1888 binnen weniger Wochen fünf Frauen. Niemand weiß wer er war. Mythen ranken sich seitdem um den Mann, der fünf Prostituierte mit dem Messer aufschlitze. Eigentlich alles klar. Nein, nichts ist klar! Weder die Identität des Täters, noch sein Motiv. Und von den Frauen nimmt auch kein Mensch Notiz – sind nur Prostituierte. Und hier setzt Hallie Rubenhold an. Und wie!

Denn die Frauen waren keineswegs ruchlose Frauen, die ihre körperlichen Reize einsetzten, um willenlosen, triebgesteuerten Männern Momente des Glücks zu bescheren. Sie waren – und so ehrlich muss man sein – Gelegenheitsprostituierte und dem Alkohol durchaus nicht abgeneigt.

Mary Ann Nichols, genannt Polly, erlangt eine gewisse Berühmtheit, weil sie Opfer Nummer Eins ist. Am 31. August 1888 wird ihr Leichnam in Whitechapel, einem der düstersten Stadtteile Londons gefunden. Identifiziert durch ihren Mann, der mittlerweile mit der Nachbarin zusammenlebt. Ihre Gesichtszüge lassen nur einen Hauch ihrer einstigen Erscheinung erahnen. Sie lebte eine Zeitlang in ganz ordentlichen Verhältnissen. Finanziell gesehen. Doch die Kinderschar wuchs, das Einkommen jedoch nicht. Fehlgeburten, Typhus, Tuberkulose waren die häufigsten Todesursachen. Auch Polly wurde vom Schicksal schwer gebeutelt. Eine Trennung, gar eine Scheidung war kaum vorstellbar. Dazu hätte ihr Mann sie grausam verprügeln müssen, mit seiner Schwester schlafen und / oder weitaus Schlimmeres tun müssen. Doch ohne Mann an der Seite, waren Frauen Freiwild. Ohne Einkommen konnten sie stehlen oder ihren Körper verkaufen. Die Ohnmacht wurde mit Alkohol betäubt. Polly war ein Opfer ihrer Zeit.

Nur ein paar Tage später fand man Annie Chapman. Die Presse stürzte sich wie weidwundes Vieh auf den neuerlichen Mord. Mitten in der Hatz aus Pollys Mörder traf rechtzeitig vor der einschlafenden Jagd ein neues Opfer ein. Wieder Alkohol, wieder verlassene Frau.

Ende September schlug Jack the Ripper in einer Nacht gleich zweimal zu. Elizabeth Stride, eingewanderte Schwedin, die nur wenige Jahre zuvor das große Los gezogen zu haben schien und Catherine Eddowes. Auch die war schon einmal auf der scheinbaren Zielgeraden zum Glück.

Ganz im Gegenteil zu Mary Jane Kelly. Die war lebensfroh, leidlich zufrieden mit ihrem Leben „auf der Straße“. Sie war attraktiv, was wohl auch erklärt, warum ihr Leben oft und ausführlich erforscht wurde.

Fünf Frauen innerhalb weniger Wochen hat Jack the Ripper zur Strecke gebracht. Alle waren Frauen, die in ihrer Verzweiflung nur einen Weg einschlugen (mussten) – die Prostitution. Ob nun als Vollzeit- oder Teilzeitjob – wie es gern in den Geschichtsbüchern steht – ist für ihr Schicksal erst einmal irrelevant. Sie wurden Opfer eines Mannes, der Frauen nicht so zugeneigt war, wie man es annehmen sollte. Er hasste Frauen. Seine Opfer waren zufällig ausgewählt. Die Tatsache, dass alle Fünf dem Alkohol zugesprochen haben, ist auch keine Entschuldigung für ihr abrupt endendes Schicksal. Hallie Rubenhold gibt ihnen erstmals eine Stimme, ein Gesicht. Die Taten treten in den Hintergrund. Die Autorin rückt die damaligen Verhältnisse in den Fokus ihrer Berichte. Als Frau war man Mensch zweiter Klasse. Frauen hielten Haus und Hof in Schuss, kümmerten sich um den reichlichen Nachwuchs. Je mehr Köpfe im Haushalt, desto geringer das „Pro-Kopf-Einkommen“. Auf- und Abstieg waren abhängig vom Einkommen und der Anzahl der Haushaltsangehörigen. Betrug diese Zahl weniger als Fünf, konnte man „ganz gut auskommen“. Stieg die Zahl der Kinder, musste man sich etwas einfallen lassen. Verstarb ein Kind, was sehr oft vorkam, wurde die Trauer hinweg gewischt. Das Leben musste weitergehen! Dieses Buch zeigt eindringlich wie gefährlich der soziale Stand sein konnte. Die Opfer sind heute vergessen. Der Täter ist unbekannt. Und dennoch ist er immer noch präsenter als die Frauen, die er meuchelte. Dieses Buch wird das ändern!