Staatsräson

Was darf der Bürger (wissen)? Was darf Literatur (schreiben)? Was darf der Staat? Keine Fragen, die man mit seinem Nachbarn in der Warteschlange beim Discounter bespricht. Daniel de Roulet stellt sie, nicht in der Warteschlange, sondern in diesem Buch. Dass er anecken wird, ist ihm klar. Genauso wie seinem Ermittler, dem Journalisten Niklaus Meienberg. Gefeierter Reporter, der es in der Vergangenheit einigen zu weit getrieben hat. Beim Tages-Anzeiger in Zürich darf er nicht mehr schreiben. Nun lebt er mehr schlecht als recht in Paris. Zusammen mit Flavia. Sie fotografiert neben ihrem Studium, das ihr ihre Eltern finanzieren. Sie können das. Denn als Bundespräsident hat der Vater durchaus die finanziellen Mittel. Und diesen, Kurt Furgler, will Meienburg, der Ermittler, unbedingt interviewen.

Es ist das Jahr 1977. In Deutschland erreichen die Aktivitäten der RAF ihren Höhepunkt. Seit einigen Wochen ist Arbeitgeber Präsident Schleyer Geisel der RAF. Im Jura wird der seit Wochen verschwundene Offiziersaspirant Flükiger gefunden. Tot. Ebenso wie schon bald darauf der Polizist Heusler, der im Tod Flükigers ermittelte. Flavia findet eine Krawattenspange in der Nähe des Fundortes. Die sieht so aus wie die von Schleyer. Dort werden dann auch zwei RAF-Terroristen verhaftet.

Es bleiben nicht die einzige Leichen in Daniel de Roulets kurzen Romans „Staatsräson“. Denn hier kommt so ziemlich alles zusammen, was einen aufwühlenden, sich an der Realität orientierenden Krimi zusammenzukommen hat. Zu dieser Zeit gewann die Bewegung zur Gründung des Kantons Jura immer mehr Aufwind. Auch durch den bereits erwähnten Kurt Furgler. Mit militanten Aktionen machten die Separatisten Furore. Und Vater Staat? Er muss zusammenhalten, die Form wahren, die Ordnung aufrechterhalten. Alles zusammenkneifen, was zusammenzukneifen ist. Stramm stehen vor dem Erreichten, und einen Weg finden, wie ohne Gesichtsverlust die unabänderlichen Veränderungen durchzusetzen sind. Opfer auf beiden Seiten sind vorprogrammiert.

Auf den ersten Blick scheint es unmöglich zu sein ein derart umfassendes Thema auf so wenigen Seiten, nur knapp über einhundert, abschließend abbilden zu können. Doch wie sein Ermittler Niklaus Meienberg schafft er es komplexe Sachverhalte mit wenigen Worten nicht nur zu umreißen, sondern sie genau so darzustellen wie sie waren. Das ist wahre Schreibkunst! Und so ganz nebenbei: Alle in diesem Buch vorkommenden Personen sind real. Ihre Handlungen legte ihnen Daniel de Roulets Phantasie zu Füßen. Wer nach dem Lesen immer noch der Meinung ist, dass Staatsräson das Nonplusultra sei, liest es noch einmal. Widerstand ja, aber nicht um jeden Preis.