Einfach gehen

Wenn man als Kind in der Schule seinen Berufswunsch nennen soll, waren es einst Lokomotivführer oder Feuerwehrmann. Heute ist es Influencer oder Superstar. Aber Sterbebegleiter … selbst Evan hätte nie diesen Wunsch geäußert. Doch seit Kurzem ist er es, der den Schierlingsbecher reichen  darf. Eine private Organisation bietet diesen ungewöhnlichen Weg des Aus-Dem-Leben-Scheidens an. Keine Sterbehilfe! Sterbebegleitung – das ist ein riesiger Unterschied. Die Angehörigen und der Klient haben in dem entscheidenden Moment die gleichen Rechte. Wird der Wunsch negiert, muss die „Aktion“ abgebrochen werden.

Evan hatte sich vor einiger Zeit auf eine Annonce hin beworben. Unter ständiger Beobachtung seiner Chefin hat er sich bewährt. Eigenmächtiges Handeln ist während der Arbeitszeit nicht erlaubt. Es sei denn, Evan muss abbrechen. Der einmal geäußerte Wunsch zu sterben, kann bis kurz vor Ende wiederrufen werden. Evan hat dies zu akzeptieren.

Und Privates und Geschäftliches miteinander zu vermischen, ist ganz und gar unmöglich. Im Falle von Evan auch nicht gerade wünschenswert. Ohne es zu ahnen, befindet er sich am Scheideweg seines Lebens. Ein bisschen hier mal reinriechen, dann ein bisschen dort herum suchen, nur um kurze Zeit später wieder etwas völlig anderes auszuprobieren. Lon und Simon sind seine Freunde, eigentlich mehr. Das will auch Evan. Doch Evan gibt ihnen keinerlei Signale, dass er sich fest im Dreiecksgeflecht der Gefühle fesseln lassen will.

Rat kann er sich auch auf keinen Fall bei seiner Mutter holen. Die hält ihn ordentlich auf Trab … trotz ihrer schweren Krankheit. Und so sprintet Evan wie eine Flipperkugel von Marker zu Marker, ohne zu merken, dass schlussendlich kaum was Zählbares heraus kommt.

Zuhause wartet dann Viv, seine Mutter auf ihn. Oft aufgekratzt und voller Tatendrang vergisst, dass auch sie einer schweren Krankheit anheimgefallen ist. Selbst Evan vergisst die Tücken der Natur. Meist jedoch ist er nur genervt vom den Energiebündel, das ihn zur Welt brachte und nun auf seine Hilfe angewiesen ist. Immer wieder treibt sie in zur Weißglut, aber es ist halt seine Mutter. Der man alles verzeiht. Man weiß ja nie …

Dem Krankenpfleger Steven Amsterdam gelingt das, womit gestandene Autoren zu kämpfen haben: Dem Tod, dem Ringen um ihn, dem Kampf mit dem und ums Leben ein Gesicht zu geben. Wortwitz und ein im besten Sinne des Wortes lockerer Umgang mit dem Unausweichlichen lassen die Seiten und die Geschichte um Evan, seine Mutter und seine zu wenig beachtete Berufswahl wie im Fluge vergehen. Sterbehilfe heißt es salopp, wenn darüber berichtet wird. Sterbebegleitung ist es im wahren Leben. Jemanden an seiner Seite zu haben, der in keiner Sekunde auch nur den Zweifel am Tun heraufbeschwört, ist für Betroffene der Anker, der so manchen Schmerz – seelisch wie körperlich – und sei es auch nur für Sekundenbruchteile, vergessen lässt. Dass auch dieser Anker ein Leben hat, das Qualen ausgesetzt werden kann, muss in den Hintergrund rücken. Selbstaufgabe jedoch ist der falsche Weg. Die Lockerheit, mit der Steven Amsterdam seine Berufung annimmt, ist nicht oberflächlich. Sein jahrelang gesammeltes Wissen und seine Erlebnisse verarbeitet er mit brillanter Distanz und Nähe zugleich in „Einfach gehen“. Im Gegensatz zum Leben kann man dieses Buch immer wieder lesen. Und wird es.