Der Spaziergänger von Aleppo

Es muss sich zynisch für Niroz Malek anhören, wenn ihm der Ratschlag gegeben wird, mal wieder einen Spaziergang zu unternehmen. Tief einzuatmen, die Lungen zu füllen, Kraft tanken. Niroz Malek wohnt in Aleppo. Niroz Malek LEBT in Aleppo, dem Sinnbild der blinden Zerstörungswut einen perfiden Regimes und seiner oft nicht minder perfiden Gegner. Und zwischendrin die, die einfach nur einen ganz normalen Alltag haben wollen. Und ungestört spazieren gehen wollen.

In Aleppo und in ganz Syrien gibt es mittlerweile eine halbe Generation Menschen, die das Wort Frieden nur vom Hörensagen kennt. Kaum ein Tag, an dem nicht eine Granate einschlägt, das Zischen einer Rakete die Luft durchschneidet oder ein herrischer Gewehrträger mit Nachdruck seine vermeintliche Macht zur Schau stellt. Die Balkons hängen wie Trauerweiden von den durchsiebten Wänden herab. Immer in Sichtweite: Checkpoints. Wer weiter will, ist auf die Launen der bewaffnete Hüter der Kontrollstellen angewiesen. Auf gut Deutsch: Man kann gar nicht so viel kotzen wie man es bei der Lektüre von „Der Spaziergänger von Aleppo“ möchte. Nicht, weil Niroz Malek schlecht schreibt. Nicht, weil er Teil der groß angelegten Lügenoffensive der gleichnamigen Presse ist. Nicht, weil er auf die Tränendrüse drückt. Nein, nein, nein. Sondern, weil Niroz Malek eindrucksvoll und ehrlich beschreibt, wie er trotz der täglichen, stündlichen, minütlichen Repressionen den Mut aufbringt durch sein Aleppo zu spazieren. Mit mehr als einer Träne im Knopfloch! Und einem mehr als flauen Gefühl in der Magengrube.

Und dennoch gibt es hier so etwas wie Alltag. Einen Alltag, den man sich in friedlichen Regionen nicht vorstellen kann, sich ihn nicht vorstellen möchte. Vor dem man aber die Augen nicht verschließen darf! Niroz Malek geht „wie wir auch“ zum Bankautomaten, um Geld abzuheben. Er bleibt stehen, wenn er etwas sieht, das ihn interessiert. Wir ernten vielleicht einen irritierten Blick, wenn wir unvermittelt stehenbleiben. Er wird sofort weggezogen, weil man an dieser Stelle nicht stehenbleiben darf. Es ist Krieg! Er sieht Frauen und Männer, die trotz all dem, was um sie herum passiert, nicht den Kopf in die Trümmer stecken, sondern sich eine Zukunft aufbauen. Wo auch immer diese stattfinden wird.

Jede dieser über fünfzig Geschichten, die weder in Aleppo noch in Syrien bisher veröffentlicht wurden, sondern bisher nur in Frankreich und Schweden – und nun endlich auch in Deutschland, birgt in sich einen Schatz, den es zu entdecken und zu bewahren gilt. Auch wenn es weltweit immer mehr Wirrköpfe gibt, die meinen, dass das Vergessen nun auch endlich mal zur Geltung kommen muss…

„Der Spaziergänger von Aleppo“ ist im Literaturfrühling 2017 das gedruckte Gewissen eines vergessenden Europas für den vergessenen Syrienkonflikt. Schon wieder so ein zynischer Begriff: Konflikt. Nein, für den Syrienkrieg! Niroz Malek LEBT immer noch in Aleppo, seiner Stadt. Einer Stadt, die auf ihren neu gewonnen Namen in der Weltpolitik gern zugunsten einer Friedensphase verzichtet hätte.