Archiv der Kategorie: Tangofieber

Richtig hohe Absätze

Sich verbiegen, um den geraden Weg einschlagen zu können. Su Nuam ist fünfzehn Jahre alt. Und sie arbeitet schon. Als Übersetzerin. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Buenos Aires. Ihr Vater, ein Chinese, wird eines Tages von einem wütenden Mob ermordet. Sie und der Rest der Familie flieht. Nach China, zu den Großeltern.

Auf einmal ist nichts mehr wie es war. Keine nörgelnde Spanischlehrerin, die ihr Vorhaltungen macht, weil sie die Zeitformen nicht einhält – hier ist wichtig zu wissen, dass es im Chinesischen keine Verbformen dafür gibt. Die Freunde sind von einem Tag auf den anderen nicht mehr greifbar. Der Platz, der so trostlos ihr Refugium war, weicht dem hektischen Treiben in der Fremde.

Da kommt das Jobangebot als Übersetzerin für ein Unternehmen zu arbeiten gerade richtig. Und sie ist gut in dem, was sie tut. So gut, dass sie auch auf Reisen mitgenommen wird. Und eine führt sie geradewegs in ihre jüngere Vergangenheit zurück. Der Großvater als Begleiter ist ihr dabei die Stütze, die sie braucht, um nicht von ihrem geraden Weg abzukommen.

Federico Jeanmaire gelingt mit „Richtig hohe Absätze“ das Kunststück Gerechtigkeit in seiner reinsten Form in glaubwürdige politische Unkorrektheit überfließen zu lassen. Natürlich ist das junge Mädchen traumatisiert. Sie musste mit ansehen, wie teilweise sogar Freunde, ihrem Vater das Lebenslicht auslöschen. In Argentinien war sie sich nicht sicher, ob sie Chinesin oder Argentinierin ist. Zurück in China fühlt sie sich als Argentinierin mit chinesischen Wurzeln. Je näher sie dem Flughafen Buenos Aires kommt, desto mehr treten ihre chinesischen Wurzeln wieder hervor. In ihrem Kopf summt es, es klirrt, es scheppert.

Die Reise wird für die Unternehmensdelegation zum Erfolg. Der Deal zum Bau einer Gasleitung kann abgeschlossen werden. Auch dank Su Nuams Mithilfe, die gnadenlos jede Äußerung übersetzt. Ein Handgeld soll ihre Extrabelohnung sein. Und was wird sie sich wohl davon kaufen? Richtig: Schuhe. Aber welche mit richtig hohen Absätzen…

Eine Kurzgeschichte, die den Leser einfach nur amüsiert und von der ersten Seite an in ihren Bann zieht? Ja, und vor allem ein ganz großes Nein. Denn der Reiz der Geschichte liegt zwischen den Zeilen. Su Nuam reist nicht einfach nur zurück nach Argentinien. Sie reist zurück mit ihrem Spanischheft. Das birgt für alle außer ihr ein Geheimnis in sich, das den Leser erst nach und nach auffällt…

Die 92 Büsten der Eva Perón

Hose runter. Die Unterhosen auch. Das erste Kennenlernen von Ernesto Marroné und seinem zukünftigen Chef Fausto Tamerlán verläuft schon etwas seltsam. Besonders als dann noch der Chef seinen neuen Einkaufsleiter mit seinem Finger da näherkommt, wo andere gern mal Luft ablassen.

Und nun hält Ernesto Marroné vielleicht sogar diesen Finger in den Händen. Verpackt in einer Blechschachtel.

Was ist passiert? Zunächst einmal muss man wissen, dass das Vorstellunggespräch erfolgreich verlief – für beide Seiten. Ernesto hat in der aufstrebenden Firma einen Posten, der es ihm eines Tages erlaubt noch weiter aufzusteigen. Marketing, das ist sein Traum. Seit einigen Monaten ist jedoch der monströse Schreibtisch des Chefs allerdings nicht besetzt.

Denn Fausto Tamerlán ist entführt worden. Und zwar von der linksperónistischen Montonero-Bewegung, einer Bewegung, die im Argentinien der 70er Jahre, hier spielt der Roman, die Junta gehörig unter Druck setzte.

Ernesto ist der misslichen Lage die Forderungen der Entführer entgegenzunehmen und die Neueste in die Tat umzusetzen. Denn Tamerláns Entführer wollen neben den üblichen Geldforderungen auch noch, dass in jedem Raum der Firma eine Büste von Eva Perón aufgestellt wird. Schnelles Kopfrechnen: Zweiundneunzig Stück müssen so schnell wie möglich rangeschafft werden. Denn sonst … zimperlich sind die Entführer ja nicht gerade, wie der Finger beweist.

Ernesto gelingt es auch postwendend eine Firma zu finden, die die zweiundneunzig Büsten herzustellen in der Lage ist. Nur haben die Gewerkschaft und die Angestellten gerade beschlossen ein bisschen Revolution zu spielen und den Betrieb zu bestreiken und selbigen einzustellen. Die neue Fabrik mit dem Namen der Patronin Eva Perón kann also erstmal keine Büsten von Eva Perón liefern. Ernesto muss zur nächsten List greifen. Er wird selbst Perónist. Die neuen Genossen müssen ihm einfach helfen… Ob’s was hilft?

Carlos Gamerro lässt Ernesto Marroné wie ein aufgescheuchtes Huhn á la Louis de Funès durch Buenos Aires zweiundneunzig Büsten suchen, auftreiben, nach einem Produzenten suchen. Schwarz-humorig wie ein verkohltes Steak zappeln er und die Leser an der langen Leine des Autors. Bitter-böse Sprüche fliegen wie Lichtblitze umher. Nüchtern wie ein Historiker lässt er Fakten im Strudel der Wandel der Geschichte einfließen. Beide Seiten – die, die die Forderungen stellen und diejenigen, die mit Schweißflecken wie Pizzateller unter den Armen versuchen diese zu erfüllen – haben gehörig einen an der Klatsche. Doch sind sie in ihrem amateurhaften Kampf gegen die Windmühlen nur wie Pusteblumen im Wind. Bei Stille sind sie nicht besonders ansehnlich. Doch wenn Sturm aufzieht, zaubern sie mit ihrem Tanz ein Lächeln ins Gesicht der Unschuldigen.

Ein wenig Glück

Ein wenig Glück

Ein gefährlicher Titel, ein gefährlicher Plot! Nur allzu leicht gerät dieses Buch in den Geruch einer Schnulze. Frau macht folgenschweren Fehler  – flieht – kommt zurück – hat die Chance dem Sohn alles zu erklären. Als deutsche Fernsehproduktion mit Veronika Ferres in der Hauptrolle. In der Fernsehzeitschrift als solides Drama mit vorhersehbaren Wendungen beschrieben.

Aber das ist alles Spekulation, die mit zwei Worten vom Tisch sind: Claudia Piñeiro! Denn sie ist die Autorin, und ihr Name steht für Qualität. Wer das Buch zum ersten Mal liest, wundert sich. Denn die Geschichte ist nicht gerade neu. Auch benutzt Claudia Piñeiro keine ausgefallen Worte (außer vielleicht Evaluierungsgespräch, aber das ist nur der Aufhänger für eine grandios erzählte Geschichte) oder gewagte Satzkonstruktionen. Nein, alles ganz normal. Das ist das Geheimnis der Autorin. Keine Auffälligkeiten, aber die richtige Dosis an der richtigen Stelle. Dieses Buch lässt keinen kalt!

Mary, wie sie sich mittlerweile nennt, wohnt in Boston. Ihre große Liebe Robert ist verstorben. Auch als Reminiszenz an Robert führt sie im Namen einer Eliteschule Gespräche über eine Partnerschaft in ihrer argentinischen Heimat.

Schon lange vor ihrem Abflug kommen die Geister der Vergangenheit zu ihr zurück. Damals, als sie am Bahnübergang stand, Schranke geschlossen, kein Zug weit und breit. Und sie einfach los fuhr. Mit verheerenden Folgen. Flucht war für sie damals der einzige Ausweg. Die Anfeindungen und die Scham trieben sie davon, weit weg. Sie ließ auch ihren Sohn zurück…

Der lebt noch. Weiß kaum noch was von damals. Damals – das klingt so weit weg und ist doch so nah. So nah, dass es Mary an den Schreibtisch treibt. Doch das Blatt bleibt weiß. Anfangs. Was nun folgt, ist eine literarische Meisterleistung. Statt eine verzweifelte Frau zu skizzieren, die tränenaufgelöst nach Entschuldigungen sucht, lässt Claudia Piñeiro Mary kämpfen.

Wer schon mal in einer ähnlichen Situation war, nimmt „Ein wenig Glück“ als Bibel zur Selbstheilung zur Hand. Garantiert! Die Einfachheit der Mittel und die daraus resultierende Intensität der Worte erschlagen den Leser immer wieder. Stück für Stück legt die Autorin die Ereignisse von damals aufs Tapet. Natürlich hat Mary damals einen Fehler gemacht. Das weiß sie. Das weiß auch der Leser. Anschuldigungen? Keine Spur. Gut so. Denn Mary hat gelitten. Wohl auch genug gelitten. Übermut? Fehlanzeige. Mary ist erwachsen, hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt. Robert war ihr immer eine Stütze, brachte ihr mit schlafwandlerischer Sicherheit die richtigen Bücher.

„Ein Wenig Glück“ ist eine Hommage an die Kraft der Bücher. Sie können vielleicht nicht heilen, jedoch Schmerzen lindern. Mary hat das in den vergangenen Jahren immer wieder erfahren dürfen. Und so gibt es nur eine einzige Lösung: Ihre Erinnerungen niederschreiben. Und da kommt der Kunstgriff der Autorin: Hier ist das Buch zu Ende. Was soll man sich nun wünschen? Eine Fortsetzung oder eine Ende á la Michael Haneke, bei dem der Leser selbst aktiv wird? Wie auch immer sich Claudia Piñeiro entscheidet, es wird (oder bleibt) großartig!

Der Schüttler von Isfahan

Der Schüttler von Isfahan

Prozentrechnen für Weltreisende: Wie viele Menschen in Ihrer Umgebung kennen Sie, die schon mal in der Schweiz waren? Garantiert mehr als 90 %. Und in Thailand? 70%? Namibia, Niger, Kirgistan? Weniger als ein Viertel? Und jetzt alles zusammen, also von Armenien und Chile über Iran und Usbekistan bis nach Burkina Faso und Grenada. Es tendiert wohl gegen Null. Darf ich vorstellen: Georges Hausemer. Seines Zeichens Weltreisender und eloquenter Geschichtenerzähler. Und Mister Einhundert Prozent!

Heruntergekommene Hotelzimmer, euphorisch begrüßter Kaffeegenuss, enervierende (russische) Flugzeugpassagiere, die ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, unglaubliche Naturphänomene am Ende der Welt, der ganz „normale Wahnsinn“ in ehemaligen Sowjetrepubliken, missverständlicher Smalltalk im Taxi … die Liste der Geschichten ließe sich unendlich fortsetzen.

Die titelgebende und so viele Assoziationen hervorrufende Story ist derart überraschend, dass man selbst sofort die eigenen Urlaubserlebnisse niederschreiben möchte. Denn das, was Georges Hausemer in den vergangenen Jahren passiert ist, kann jedem passieren. Nur halt nicht so oft und schon gar nicht in so vielen Ländern. Und schon gar nicht kann jeder diese Erlebnisse so pointiert niederschreiben.

Reisen bildet – und es schafft Platz im Hirn für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Der Alltag als Besonderheit ist der Boden auf dem die Reisegeschichten des Autors wachsen. Man muss nur hinschauen. Wachen Auges schreitet Georges Hausemer durch die entlegensten Flecke der Erde. Fast scheint es so, als ob er der Typ ist, den man am Abend an der Bar, auf der Terrasse, im Restaurant irgendwo auf der Welt gesehen hat, wie er mit Stift und Papier bewaffnet seine Eindrücke festhielt. Nicht immer streng nach den Regeln wie er selbst in einer Geschichte einräumt. Denn das A und O der Aufzeichnungen sind Daten und Fakten. Manchmal ist das Erlebte so spannend, so neu, so faszinierend, dass man darüber hinaus diese vergisst. Den Ausführungen tut das keinen Abbruch. Die verlorenen Fakten machen die Texte mystischer und den Autor nahbarer.

Die mehrere Dutzend Geschichten vermitteln einen beeindruckenden Überblick über die Verschiedenheit der Lebensentwürfe der Welt. Geht in Deutschland ein Taxi kaputt, geht gleich die Welt unter. In Armenien oder Georgien nimmt man es hin. Man weiß, dass es etwas länger dauern kann. Die Definition von „etwas länger“ ist im Kaukasus auch eine gaaaaanz andere als bei uns. Aus dem kleinen Luxemburg in die Welt hinausgeschleudert, auf einem Blatt Papier um die Welt reisend, mit spitzer Feder vom Erdball die letzten Geheimnisse kratzend. Georges Hausemer ist der Reiseleiter, den sich jeder wünscht. Und sei es nur in Buchform.

Chamäleon Cacho

Chamäleon Chaco

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieses Buch ist kein Leichtgewicht! Obwohl kurz an Seiten, birgt es eine Fülle an Verwirrung wie kaum ein anderes Werk.

Manuel Carraspique liegt im Krankenhaus. Er hatte einen Unfall, zu tief ins Glas geguckt. Nun liegt er hier irgendwo in den Weiten Argentiniens im Spital. Er kann sich kaum bewegen, reden kann er. Auch denken. Und diese Fähigkeit wird er auch brauchen, um die Geschehnisse der nächsten Tage verarbeiten zu können.

Die Ärzte schauen nach ihm, die Schwestern, die er kaum voneinander unterscheiden kann, sind fürsorglich, die Polizisten zu neugierig, die Presse zu aufdringlich. Die Presse, seine Kollegen. Manuel ist auch Journalist. Zurzeit jedoch ist der Erfolg überschaubar. Ein Scoop, ein Knüller, könnte ihn aus der Misere befreien.

Im nachbarbett liegt auch schon einer, der ihm einen Ausweg zeigen könnte. Márquez, Prudencio Márquez, liegt neben ihm. Die beiden kommen ins Gespräch. Das heißt, Prudencio spricht, Manuel reagiert und … ist verwirrt. Dieser Typ da neben ihm, scheint allerhand erlebt zu haben. Und jedes Mal, wenn er zum Sprechen ansetzt, kommt eine neue Geschichte zum Vorschein. Sie handeln in der Endkonsequenz alles von einem Mann oder Wesen: Cacho. Einem echten Chamäleon. Cacho nimmt viele Gestalten an. Drogendealer, Bibelverkäufer, General. In Manuels Kopf hämmert es unaufhörlich.

Raúl Argemí taucht mit dem Leser ein in die Welten zwischen den Welten. Das Chamäleon ist sympathisch, oder doch nicht? Ist es ein gewissenloser Killer? Oder ein Opfer? Wer meint, dass die 160 Seiten mal schnell zwischendurch zu lesen seine, irrt gewaltig. Immer wieder blättert man zurück, um sich zu vergewissern, auch nichts verpasst zu haben. Keine leichte Kost, so unfassbar spannend, dass man am Ende sich wünscht es noch einmal so unvoreingenommen lesen zu können.

Und der Engel spielt dein Lied

Und der Engel spielt dein Lied

Ein paar Drogen von Chile nach Argentinien schaffen, lautet der Auftrag für El Negro. Polaco hat ihm diese leichte Aufgabe übertragen. Das Militär hat in dieser Gegend seine Aktivitäten fast eingestellt, die Polizei wird in eine andere Richtung schauen. Leicht verdientes Geld, denkt sich El Negro. Alles ganz einfach. Die die Wagen, vollgestopft mit der gewinnbringenden Ware, erreichen nicht wie geplant ihr Ziel.

El Negro muss eine Zwangspause einlegen. Die Zeit mit Irma wird ihm die Zeit versüßen. Das Prachtweib wickelt ihn um den kleinen Finger, anfangs wehrt er sich noch.

Raúl Argemí spielt mit seinen Helden eine perfekte Partitur des Ungewissen. Wer mit wem, wofür, gegen wen, warum – der Leser wird durch die Zeitebenen gejagt, dass er bald schon gar nicht mehr weiß, wem seine Sympathien gelten sollen. Argentinien ist zu dieser Zeit ein Land non grata. Die Fußball-WM, bei der der Gastgeber erstmals als Sieger hervorgehen wird, lässt erstmals ein wenig Hoffnung aufkeimen. Doch es lähmt auch das Land. Alle sind im Fußballfieber. Ganoven, Gangster, Kriminelle verbünden sich in diesem Buch mit den Machthabern. Wer auch nur einen Funken Hoffnung sieht, den Repressalien zu entkommen, und vielleicht den einen oder anderen Peso in die eigene Tasche zu wirtschaften, vergisst die Gräueltaten der Junta.

Polaco ist ein Schlitzohr und El Negro ist ihm ausgeliefert. Irma hingegen schwebt im rechtsfreien Raum über den beiden Kampfhähnen. Sie weiß um ihre Reize, die sie gewinnbringend einsetzt.

Polaco und El Negro stehen sich dann doch noch einmal gegenüber. El Negro hat ein paar im Gefängnis verbracht. Er wurde verraten. Polaco versichert ihm, dass er nicht die Ratte gewesen sei. Die haben vieles gemeinsam erlebt. Der Drogenschmuggel, der Münzschwindel mit den goldenen Münzen… Die Zeit der Rachegedanken und des Hasses ist vorbei. Showdown oder Vergebung? Der letzte Akt oder ein neuer Versuch? Beide sind älter geworden. Das Leben hat seine Spuren in und an ihnen hinterlassen.

Der Leser muss sich anstrengen, um hinter das Geheimnis von Polaco und El Negro zu geraten. Ein, wenn nicht der Schlüssel ist die Person, die beide miteinander verbindet. Irma!

Susana – Requiem für die Seele einer Frau

Susana

Pater Antonio muss sich in seiner kleinen Gemeinde irgendwo im Argentinien der Schreckensherrschaft des Militärs um seine Schäfchen kümmern. Es ist nicht das Argentinien ausgelassener Fußballfeste, auch nicht das Argentinien melancholischen Tangos. Es ist das Argentinien, indem jeder jedem misstraut, Menschen grund- und spurlos verschwinden. Sein Vorgesetzten und Kollegen raten ihm fortwährend, dass es sich nicht lohnt sich mit den Oberen anzulegen.

Eines Tages – wieder einer, an denen er die Predigt las, mehr nicht – fällt ihm eine junge Frau auf. Er kennt sie nicht, doch sie scheint ihn zu kennen. Nach langem Zögern – sie weiß nicht, ob er der Gesuchte ist, und er weiß nicht, ob er ihr vertrauen kann – übergibt sie ihm eine Schachtel. Dann ist sie fort. Verschwunden in der Staubwolke eines Fahrzeugs. Zögerlich öffnet er die Schachtel. In ihr liegen zusammengeknüllte Zettel, ohne jede Ordnung. Nach und nach setzt er die Puzzleteile zusammen. Die Wortfetzen lösen in ihm blankes Entsetzen aus. Er beginnt die Zettel zu ordnen. Es ist das Tagebuch von Susana. Sie wurde eines Morgens ohne Ankündigung aus dem elterlichen Haus gezerrt, verschleppt, vergewaltigt, bestialisch gefoltert und … da die Notizen eines Tages abrupt abbrechen, aller Wahrscheinlichkeit ermordet.

Der Pater sieht seine Arbeit unweigerlich nicht mehr nur als pure Seelsorge an. Die Aufzeichnungen, die er abschreibt und so für die Nachwelt erhalten will, politisieren ihn zusehends. Er muss erkennen, dass er die Autorin kennt und fragt sich, ob er ihr Schicksal positiv hätte beeinflussen können. Immer öfter plagen ihn die Gedanken an das, was er möglicherweise verhindern konnte. Schweißgebadet wacht er nachts auf.

Omar Rivabella schreibt über das düsterste Zeitalter argentinischer Geschichte. Unter General Videla und der Militärjunta wurden innerhalb von wenigen Jahren zehntausende Menschen verschleppt und auf Nimmerwiedersehen verscharrt. Bis heute demonstrieren die Madres de Plaza de Mayo, damit die Namen ihrer Kinder nicht vergessen werden. Die Zerrissenheit des Paters ist exemplarisch für Millionen von Argentiniern, die während der Diktatur Vermutungen hatten, aber keine Möglichkeit sahen ihr Wissen kund zu tun. Die Schergen der Junta konnten plötzlich in der Tür stehen und Tragödien unermesslichen Ausmaßes anrichten. Doch es gab auch Lichtblicke wie sie Susana erlebte. Einer der Wächter war mitverantwortlich, dass ihre Aufzeichnungen nach draußen gelangten.

„Susana – Requiem für die Seele einer Frau“ ist von solch beklemmender Nüchternheit, schonungslos und erbarmungswürdig, dass es einem schon ab den ersten Seiten die Kehle zuschnürt.

City Trip Buenos Aires

Vorspann Buenos Aires 2014

Ohne viel Federlesen macht sich Maike Christen auf eine echte Metropole zu erobern. Buenos Aires – so erfährt der Leser gleich ohne Vorwarnung ist eine gigantische Stadt, die durch ihre Freizügigkeit in Bezug auf Größe punktet. Ein mehrspuriger Boulevard? Fehlanzeige! Es sind mehrere Boulevards, die auf fünf, sechs, acht Spuren ihre Schneisen durch die Hafenstadt ziehen. Portenos nennen sich die Einwohner von Buenos Aires. Über ein Dutzend Millionen Einwohner zählt die Stadt, die Traditionen pflegt, und sich immer wieder neu erfindet.

Im Szene-Viertel Palermo siedeln sich seit Jahren innovative Unternehmen an, die der Gegend ein modernes Flair verleihen. Auf der Plaza de Mayo demonstrieren immer noch regelmäßig die Madres de Plaza de Mayo Mütter, die auf ihr Schicksal während der verheerenden Militärdiktatur aufmerksam machen. Damals verschwanden tausende Frauen, Männer, Söhne und Töchter. Auch nach über dreißig Jahren lassen sich nicht locker und fordern Aufklärung – ganz ohne Folklore-Ansinnen.

Ein Rundgang durch Buenos Aires ist unmöglich – die Stadt ist einfach zu groß. Der beiliegende Stadtplan im Maßstab 1:25.000 (das Stadtzentrum befindet sich auf der Rückseite und wird im Maßstab 1:12.500 abgebildet) zeigt die praktische Rasterung der Stadt: Wie ein Schachbrett breitet sich die Metropole vor den Augen des Betrachters aus. Verlaufen fast unmöglich. Doch bei der Fülle an Sehenswürdigkeiten fällt es dem Besucher schwer sich an Vorgaben zu halten. Einfach drauf los laufen! Wenn man doch vom rechten Pfad abgekommen ist (bitte wortwörtlich nehmen!, nichts hineininterpretieren), einfach ein paar links oder rechts abbiegen – je nachdem. Dann findet man wieder zurück auf den geplanten Weg.

Was es links und rechts zu sehen gibt, weiß Maike Christen richtig einzuordnen. Prächtige Kolonialbauten, farbenprächtige Fassaden, die jedes Viertel zum Fotomodell machen, ausgedehnte Parkanlagen, Tango in erstklassig erhaltenen Jugendstilcafés – ach man könnte die Reihe endlos fortsetzen und würde dennoch nie ein Ende der Aufzählung sehen. Einfach mal hinfahren! Und dieses Buch als ständigen Begleiter mitnehmen. Einen besseren Reisebegleiter findet man nicht!

Kulturschock Argentinien

Kulturschock Argentinien

Argentiniens Name scheint es vorweg zu nehmen: Silber, Land des Silbers. Zweiter Platz. Nach der Fußball-WM bittere Wahrheit. Was nach Klischee klingt, birgt jedoch mehr als nur einen Funken Wahrheit in sich.

Carl D. Goerdeler sieht in seinem Buch „Kulturschock Argentinien“ aber ein kleines Flammenmeer. Wer als argentinischer Autor Erfolg haben will, muss es in der Alten Welt, also Europa, zu Ruhm und Ehre gebracht haben. Die Einwanderer aus Spanien, Italien und England haben in Argentinien, speziell aber in der Hauptstadt Buenos Aires ihre Ansichten in die Stadtplanung einfließen lassen. So wird Argentinien zum europäischsten Land auf dem amerikanischen Kontinent. Buenos Aires‘ In-Viertel heißt Palermo. Argentinien ohne Europa? Nur schwer vorstellbar.

Und doch ist Argentinien ganz anders als Europa. Wer hier Fußballfans ist – bleiben wir beim immer noch aktuellen Zeitbezug – der lebt Fußball. Während in Deutschland Jugendzimmer, ganze Häuserfassaden, teils sogar ganze Straßenzüge in ein Farbenmeer der bevorzugten Vereine getaucht werden, ergießt sich im zweitgrößten Land Südamerikas eine Chorwelle von Spottgesängen und Fanhymnen über das Land. Allein Buenos Aires zählt Dutzende Stadien. Ein Besuch des Duelle zwischen dem „reichen“ Verein River Plate und dem „armen“ Boca Juniors“ (dort, wo Diego Armando Maradona zum Gott wurde, was wörtlich zu nehmen ist) gerät schnell zu einer lautstarken und aggressiven Trip in eine andere Welt.

Doch Argentinien ist mehr als nur ein fußballverrücktes Land.

Melancholie und überbordende Lebensfreude sind hier keine sich ausschließenden Gegensätze, sie sind der Kit, der Land und Leute zusammenhält.

Argentinien ist ein Land, das sich schwer regieren lässt. Zu viele Diktaturen haben das Land in den Ruin getrieben. Aktuell ist eine Klage des argentinischen Staates gegen die USA anhängig. Ob Peron, Videla, Menem oder Kirchner: Jede Regierung hat sich schlussendlich immer die eigenen Taschen vollgestopft und das Volk am langen Arm verhungern lassen.

Als Korrespondent für deutsche Zeitungen kennt der Autor die Probleme des Landes. Er sieht aber auch seine Schönheit, seine Besonderheiten, die auch lange nach dem Urlaub nachwirken. Unendliche Viehweiden, gigantische Herden von Rindern, die Traditionen im Familienleben, die Eigenheiten des Mate-Teetrinkens – wer Argentinien besucht, wird überrascht. Wer dieses Buch im Vorfeld liest, begegnet einem Land, das einem trotz der Fülle an Informationen immer noch überraschen wird. Ohne dieses Buch wird man von der einen oder anderen Begebenheit abgestoßen.

Ein Kommunist in Unterhosen

Ein Kommunist in Unterhosen

Das halbe Dutzend ist voll: Zeit um Bilanz zu ziehen. Die Themenauswahl Claudia Pineiros ist breit gefächert. Vom Schicksal einer gebeugten Frau schrieb sie, über Verlustangst schrieb sie, über die durch einen Mord getrübte Vorstadtidylle schrieb sie, über eine Kehrtwendung im geradlinig verlaufenden Leben schrieb sie. Und über eine listige Privatdetektivin. Und jetzt? Über den eigenen Vater.

In ihrer ganz eigenen, liebreizenden, hingebungsvollen Sprache setzt sie ihm ein Denkmal. „Ein Kommunist in Unterhosen“ ist die Liebeserklärung einer Tochter an die erste wichtigste Bezugsperson. Verliebt, respektvoll, analysierend. Der Vater war ein stattlicher Kerl, dem die Frauen im Schwimmbad hinterher schauten. War er wütend, war er leise, in sich gekehrt. War er glücklich, ließ er die ganze Welt daran teilhaben. Die Erzählerin, die Tochter, Claudia Pineiro ist auch auf dem Titelbild zu sehen. Ein fröhliches Mädchen an der Hand ihres Vaters badend im Meer. Es ist dieses Bild, das die ganze Geschichte vorwegnimmt. Ein Mann fröhlich die Sommerbrise sich um die Nase wehen lassend zusammen mit seiner Tochter am Meer. Eine innige Verbindung, die erzählt gehört.

Nicht alles in diesem Buch ist so geschehen, nicht alles in diesem Buch ist erfunden. Die Mischung macht’s.

Argentinien in den 70er Jahren. Peron hinter sich, die Diktatur Videlas vor Augen. Eine Jugend, die ausgelassen die Welt entdeckt und gleichzeitig aufpassen muss nicht entdeckt zu werden. Wer ist Freund, wer nicht? Was darf man sagen, was nicht? Die Erzählerin weiß, dass ihr Vater Kommunist ist. Was auch immer das bedeutet – er hat es selbst gesagt. Doch die anderen dürfen das nicht wissen. Als Vertreter für Turboventilatoren schlägt er sich den Sommer über durch, um die Familie ernähren zu können. Der Vater ist Vorbild und Respektperson, aber auch der Anker in unsicheren Zeiten, der unwissentlich seine Ansichten auf die Kinder überträgt.

Eine Jahr mussten die Leser auf den neuen Roman von Claudia Pineiro warten. Ein Jahr voller Spannung, was sie als nächstes aufs Papier bringt. Das Warten hat sich gelohnt. Sachlich und trotzdem spannend gibt sie ihrer Jugend eine Stimme. Von Verbitterung ob vorenthaltener Chancen keine Spur. Mal mit einem Augenzwinkern, mal verliebt wie ein Teenager, mal nüchtern betrachtend, spiegelt „Ein Kommunist in Unterhosen“ Argentinien Mitte der 70er Jahre wider. Eine Geschichtsreise, die lange nachhallt und Lust auf mehr Geschichtsunterricht mit Senora Pineiro macht.