Archiv der Kategorie: Tangofieber

Die sieben Irren

Wer am Abgrund steht, überlegt sich jeden Schritt zweimal. Remo Erdosain steht am Abgrund, zusammen mit vielen anderen. Doch so richtig übelregen kann er nicht. Er hat Geld unterschlagen, sechshundert Pesos … und sieben Centavos. Einen Tag hat er Zeit das Geld zurückzugeben. Noch lebt er in seiner Dreifaltigkeit des Glücks: Haus, Job, Frau. Doch die Säulen dieses Glücks bröckeln. Den Job ist er ohnehin bald los. Wer klaut, ist nicht mehr tragbar. Auch wenn er die sechshundert Pesos … und sieben Centavos zurückzahlen kann (nur wie?).

Zuhause angekommen wartet seine Frau mit einer üblen Überraschung. Sie selbst sagt nicht viel. Ein Hauptmann, eine Hand am Säbel – übrigens hat Erdosain seine Hand an einem Revolver – erklärt ihm die Situation. Was soll Elsa mit einem Mann, der ihr nichts bieten kann? Bleibt noch ein Drittel des Glücks, sein Haus. Naja, es ist eben ein Haus. Vier Mauern, Dach, aber sonst nicht viel, was man lebenswert nennen kann.

Die sechshundert Pesos hat Erdosain inzwischen auftreiben können. Der melancholische Zuhälter – schon allein für die Erfindung dieses Namens müsste man Roberto Arlt mit Preisen überhäufen – hat ihm einen entsprechenden Scheck ausgestellt. Dieser Lude gehört mit Remo zu einer Ansammlung von Menschen, die Argentinien im Jahr 1929 mit einer Revolution überziehen wollen. Jeder hat da so seine eigenen Vorstellungen. Diese reichen von Gottesstaat oder zumindest einer greifbaren Religion bis zur Diktatur. Hauptsache Anarchie!, könnte man meinen.

Immer weiter zieht es Remo Erdosain in einen chaotischen Strudel aus Phantasie und Realität. Immer öfter wechselt er die Seiten, von vor dem Spiegel in den Spiegel. Und wieder zurück.

Die Revolution braucht Geld und ein Fanal. Barsut könnte der Schlüssel sein. Er hat Geld. Eine Entführung oder gar mehr würde den sieben Irren irre in die Hände spielen. Doch kann das gutgehen, wenn ein wilder Haufen, der sich in end- und haltlosen Agitationen ergeht, das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen will?

Roberto Arlt gehört zu einer kleinen Kaste exzellenter Autoren in Argentinien. Doch fristet er ein Mauerblümchendasein. Sein bekanntestes Werk, „Die sieben Irren“, wurde immer wieder überarbeitet, nicht immer von ihm, so dass es schwerfällt den Originaltext mit den Ideen des Autors in Einklang zu bringen. Band Sieben der Oktavheft-Reihe aus dem Wagenbach-Verlag zieht den Leser in eine besondere Welt. Zweifellos ein Klassiker. Zweifellos eines der unnachgiebigsten Bücher der Literatur. Man kommt nur schwer vom Schicksal des Desillusionierten Remo Erdosain los. So skurril die einzelnen Akteure auch sind, so traurig ist jeder in seiner Gestalt. Melancholisch und roh ist die Sprache Roberto Arlts. Verworren und doch einsichtig die Aktionen der Spieler im Reigen der Verzweiflung.

Bauhaus – Ein fotografische Weltreise

Wenn große Jubiläen anstehen, Jahrestage spricht man oft davon, dass diese ihre Schatten vorauswerfen. 2019 wird 100 Jahre Bauhaus gefeiert. Weimar, Dessau, Berlin – überall wird man dieses nur auf den ersten Blick schlichten und funktionalen Stils gedenken. Doch von Schatten ist da nichts zu sehen. Vielmehr erhellen die Strahlen der Vergangenheit das Jetzt und Morgen. Und so präsentier sich auch dieses Buch. Schon das Titelbild lässt eine Bauhaus-Schöpfung (Casablanca) im strahlenden Sonnenlicht des Maghreb den Leser und Betrachter erahnen, was auf den folgenden 240 Seiten auf ihn zukommt.

Und das ist eine ganze Menge! Bauhaus wird allgemeinhin als originär deutscher Baustil angesehen. Außerhalb Deutschlands war dieser Stil aber mindestens genauso anerkannt und vor allem beliebt. Was daran lag, dass viele Protagonisten ab einer bestimmten Zeit in Deutschland nicht mehr arbeiten konnten, die meisten nicht mehr durften.

Diese fotografische Weltreise führt den Interessierten an Orte, die er vielleicht schon mal besucht hat. Und dann ist im Rausch der Gefühle und Eindrücke so mancher Bauhaus-Edelstein untergegangen. Von Indien über Libanon, von Afghanistan (leider schwer beschädigt) bis Burundi – Bauhaus ist überall. Und damit ist nicht die Baumarktkette gemeint, die sind in weniger Ländern vertreten. Kambodscha, Kuba, Indonesien, Guatemala – Fotograf Jean Molitor ist ganz schön rumgekommen, um diesem Bildband den Stempel Weltkunst aufzudrücken. Die erklärenden Texte von Kaija Voss ordnen jedes noch so kleine Detail, jedes Element, das Bauhaus so unverkennbar macht, wird beschrieben.

Wer also demnächst durch Rostock oder Phnom Penh, Hamburg oder Chavigny, durch Weißensee oder Bukavu spaziert, wird garantiert seine Augen offenhalten, um bloß nicht wieder Erinnerungen an die Heimat zu verpassen. Oder man beschreitet den umgekehrten Weg. Alang, Udaipur, Quetzaltenango besuchen, um das Bauhaus im besonderen Licht der Ferne auf sich wirken zu lassen.

Endlich mal eine Prachtband, der einem nicht das Blut in den Oberschenkeln abschnürt. Die Motivauswahl ist exzellent, die Stimmung der Szene wird so eingefangen wie sie wirklich ist. Bauhaus wird hundert – jeder, der jetzt anfängt ein weiteres Buch über dieses außergewöhnliche Jubiläum zu schreiben, muss mit dem Scheitern seines Projektes rechnen. Es geht kaum besser!

Das offene Geheimnis

Pssst, nichts sagen. Feind hört mit! Argentinien während der Junta in den 70er Jahren. In Malihuel stört ein Mann ganz besonders den Frieden im Ort. Es ist die Zeit, in der Tausende von Menschen von einem Tag auf den anderen spurlos verschwinden. Dario Ezcurra wird einer von ihnen sein. Der Polizeichef hat Order den Unruhestifter entfernen zu lassen oder es selbst in die Hand zu nehmen. Und so geschieht es dann auch. Dario Ezcurra ist nicht länger Bewohner von Malihuel.

Der Journalist Fefe ist auch in Malihuel aufgewachsen. Schon lange war er nicht mehr hier. Nun, 20 Jahre später, kehrt er zurück in den Ort, wo er aufwuchs. Alle kennen ihn noch. Alte Geschichten werden wieder aufgewärmt. Bis, ja bis Fefe Fragen stellt. Unbequeme, peinliche Fragen. Fragen nach Dario Ezcurra. Wie war das damals? Wie verschwand Dario? Wer steckte dahinter? Und warum hat niemand nachgehakt? Auch nach der Diktatur?

Carlos Gamerro webt ein Spennennetz aus Lügen, falsch verstandenem Gehorsam und Angst. Denn wer damals die Stimme erhob, konnte sicher davon ausgehen, dass diese auch gehört wird. Auch und vor allem von den falschen Personen. Nach dem Schrecken von Videlas Junta war aber noch lange nicht Schluss mit den Denunziationen. Jeder musste sich nun in der neuen Gesellschaft zurechtfinden. Manche mussten sich rechtfertigen. Viele mussten sich winden.

Bei seinen Recherchen wird Fefe fündig. Jeder hat auf die eine oder andere Art Schuld auf sich geladen. Wegschauen aus Angst ist noch verständlich. Doch muss es auch den Zeitpunkt geben und gegeben haben, in dem man die Faust erheben musste. Wann war dieser Zeitpunkt gekommen? Hat ihn überhaupt jemand bemerkt? Und wenn ja, warum ballten sich die Fäuste dann weiterhin in den Hosentaschen und reckten nicht gen Himmel?

Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein System nur so mächtig wie sein schwächstes Mitglied. Es gab zu viele, die lieber wegschauten oder auch nur gering (bewusst oder unbewusst) Hilfestellung gaben. Jetzt müssen sie Farbe bekennen. Denn Fefe lässt nicht locker. Der gesamte Ort – wer genauer hinsieht, kennt den Ort bereits aus „Der Traum des Richters“ von Carlos Gamerro – steht unter neuerlicher Beobachtung.

Die man nicht sieht

Kaltes Hühnchen in hauchdünne Scheiben geschnitten, Käse, roher Schinken, Pasta – wenn Ismael, Enana und Ajo arbeiten, gibt’s eigentlich fast immer was Leckeres zu essen. Sie sind freischaffend. Arbeiten im Auftrag von Guida, einem Security-Angestellten in einem der vielen noblen Wohnanlagen von Buenos Aires. Sie sind gut, sie sind die Besten. Sie sind Diebe. Und sie sind Kinder. Ajo ist gerade mal sechs Jahre alt. Seine Schwester, Enana nur ein paar Jahre älter, genauso wie Ismael.

Nun wartet ein Großauftrag auf das gewiefte Trio. In Uruguay sollen sie lautlos und unbemerkt mehrere Besitzer von Villen auf die bekannte und bewährte Art um ein bisschen ihres Hab und Gutes bringen. Wie immer nur ein wenig, gerade so viel, dass man Kasse machen kann, aber nicht zu viel, das der Diebstahl und vor allem der Einbruch sofort auffallen. Ismael ist misstrauisch. So wie immer. Doch dieses Mal soll er sich nicht täuschen.

Die Überfahrt nach Uruguay auf dem Schiff ist organisiert. Guidas Cousin, der die Drei ein Stück weit schleust, schüttelt den Kopf. Die sind doch viel zu jung, besonders der Kleine, der permanent Knoblauchzehen lutscht. Und die richtige Kleidung für die Überfahrt auf rauer See haben sie auch nicht.

Was die Drei nicht wissen, ist, dass Guida solchen „Auslandseinsätze“ immerfort organisiert. Dreißigtausend Pesos für jeden von ihnen, für einen Monat Arbeit. Er selbst verwaltet das Geld bis das Trio wieder zurück ist. Insgeheim, rechnet Guida aber selbst mit der Kohle. Die kann er dann im Stundenhotel verprassen oder für einen Urlaub. Und versetzen lassen wird er sich auch wieder. Alles wie gehabt.

Ihr Unterschlupf ist die Frau, die sie „meine Tante“ nennen sollen. Hier verbringen mehrere Kinder die Wartezeit bis zu ihrem Einsatz. Kontakt untereinander ist streng verboten. Wie in einem Internierungslager herrschen strenge Regeln, die bei Verletzung hart bestraft werden. Für die Streifzüge ist alles bestens präpariert: Hackfleisch mit Schlafmittel für die Wachhunde, ein Abwehrspray für alle Eventualitäten, sogar ein Gegengift, falls eine Schlange einem Unvorsichtigen beißen sollte. Besonders Letztes ist für Ismael, Enana und vor allem für Ajo die Lebensversicherung. Denn die Streifzüge werden zu einem Höllenritt…

Lucía Puenzo liebt ihre Figuren, die sie in einem der Villenviertel an den Stränden Uruguays aussetzt. Es sind nicht einfach nur drei Kinder, die mit Diebstählen ihren Lebensunterhalt verdienen, und sich vor ihren Auftraggebern geschickt ducken, um sich nicht ans Messer zu liefern. Es sind ausgereifte Charaktere mit Stärken und – es sind doch immer noch Kinder! – Schwächen. So erwachsen sie in brenzligen Situationen handeln, so zerbrechlich sind ihre Herzen, wenn sich jemand zwischen sie drängt. Ihnen bleibt keine Zeit Kinder oder Jugendliche zu sein. Ihre Erfahrungen machen sie auf dem steinigsten Pflaster, was es gibt. Mit traumwandlerischer Sicherheit erlaubt ihnen Puenzo sich zu entwickeln, um eines Tages doch das lang ersehnte Glück finden zu können.

Der Traum des Richters

Das kann ja wohl nicht wahr sein! Da pinkelt dieser ungehobelte Bauerntrampel einfach gegen die Wand des Gerichtsgebäudes. Vor seinen Augen schüttelt er auch noch genüsslich ab. Das schreit nach Gerechtigkeit! Richter Urbano Pedernera muss ein Exempel statuieren. Der Delinquent Rosendo Villalba muss verurteilt werden. Die Sache hat nur einen Haken. Die Mauer, am der sich der Gaucho erleichtert hat, ist die einzige Mauer des Gerichtsgebäudes. Für den Rest des baldigen Prunkbaus fehlen noch die Ziegel. Der Richter fleht schon seit geraumer Zeit darum, dass ihm endlich das fehlende Baumaterial geliefert werden soll. Ein weiterer Punkt – und sicherlich der wichtigste – ist, dass Rosendo Villalba nicht im Traum daran gedacht hätte gegen die Mauer zu urinieren. Zumindest nicht in seinen Träumen. Sehr wohl aber im Traum des Richters von Malihuel. Das allein reicht schon, um Recht zu sprechen und den Übeltäter mit Strafarbeit zu belangen. Aktive Mithilfe beim Bau des Gerichtsgebäudes, ausgesetzt bis zur Lieferung der Ziegelsteine. So wird Recht gesprochen im argentinischen Malihuel des Jahre 1877.

Das Dorf, die Rebellen (die Wilden, die Indios) sehen in dem Richter allerdings immer noch eine Respektperson. Sein Wort gilt. Ihm hat man sich zu fügen. Doch als die Träume – und vor allem die anschließende daraus resultierenden Bestrafungen – überhand nehmen, ist es aus. Man dreht den Spieß um. In den Träumen des Richters erheben sich die Geschmähten. Das Vexierspiel beginnt…

Carlos Gamerro ist mit „Der Traum des Richters“ eine skurrile Geschichte gelungen, die Ihresgleichen sucht. Hat man sich in dieses Buch vertieft, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Traum. Don Urbano in Paris: Statt Champagner gibt es eine billige Plörre zu trinken. Im Krieg gegen die Aufständischen klappt kein einziger Plan. Und die Autorität schwindet mit jeder Stunde, in der er die Augen geschlossen hält.

Es muss die Hölle sein für jemanden, der als Militär erfolgreich war. Und nun mit ansehen muss, dass eine anscheinend einzigartige Gabe durchaus auch Schattenseiten haben kann. Mit enormem Wortwitz fesselt Gamerro den Leser an den Lesesessel und entlässt ihn auch nach der letzten Seite noch nicht komplett in den realen Alltag. Immer wieder flackern einzeln Passagen aus dem Buch auf und zaubern ein Lächeln ins Gesicht Lesers. So werden Tagträume gemacht!

Der Privatsekretär

Das Leben meint es endlich mal so richtig gut mit Román Sabaté. Anfang Zwanzig und schon einen Job in Aussicht, der langfristig erscheint und in dem er was bewirken kann. Sebastian hat ihn mehr oder weniger dazu gedrängt sich bei der neuen Partei Pragma zu bewerben. Román hat Glück und ergattert den begehrten Job als privater Fitnesstrainer von Fernando Rovirá. Sebastian geht erstmal leer aus.

Fernando Rovira ist die charismatische Exzellenz, die erst als Gouverneur der Provinz Buenos Aires diese spalten, und dann Argentinien als Präsident einen will. Und sein privater Fitnesstrainer ist in Wahrheit der privateste Privatsekretär, den man haben kann. Román war geschickt beim Einstellungsgespräch. Seine Antworten, die nicht immer zu hundert Prozent der Wahrheit entsprachen, trafen genau den Nerv der Partei. So funktioniert Politik…

Die Jahr vergehen, Fernando Rovira ist fit wie eh und je … doch an seiner Seite ist kein Román Sabaté mehr zu sehen. Der hat sich abgesetzt. Mit im „Gepäck“: Joaquín, der Sohn des ehrgeizigen Politikers. Die Pläne Buenos Aires zu teilen, spalten die politischen Lager entzwei. Wie es geplant war. Doch so einiges andere mehr war nicht geplant. Die Journalistin Valentina Sureda schreibt gerade an einem Buch. Und Román Sabaté hilft ihr dabei. Auch auf seiner Flucht. Ob der Mord an Fernando Roviras Frau Lucrecia Bonara geplant war, lässt sich vorerst nicht feststellen. Genauso wie die rätselhafte Flucht von Román Sabaté.

In Rückblenden und aus der persönlichen Sicht der Akteure zeichnet Claudia Piñeiro ein verlogenes Bild der Macht. Das Román nicht wegen seiner Fähigkeiten den lukrativen Job bei Pragma bekommen hat, ist dem Leser als auch ihm selbst klar. Er hat schließlich geschummelt. Doch was prädestinierte ihn dermaßen für die kommenden Aufgaben? Auf seinem Roadtrip durch die Weiten Argentiniens kommen Román und Leser einem Geheimnis (was heißt einem? Dutzenden von Geheimnissen) auf die Spur.

Nach der Lektüre des Privatsekretärs muss man erstmal durchschnaufen. Obwohl auch reale Lenker Argentiniens wie Carlos Menem oder Néstor Kirchner erwähnt werden, ist die Geschichte komplett fiktional. Nur am Glauben mangelt es. In Zeiten, in denen Populisten ihre kruden Gedanken fast schon schuldlos, immer jedoch sorglos in die Welt posaunen dürfen, kommt ein Roman wie „Der Privatsekretär“ wie gerufen. Freimaurersymbolik, falsche Rücksichtnahme auf die Meinung der Massen, Manipulation selbiger und eine gehörige Portion Machteifer vermischt Claudia Piñeiro zu einem Skandal, der einem die Nachrichten bis zu einem gewissen Teil mit anderen Augen sehen lässt. Kuhäugiges Hinterhertraben wird unvermeidlich radikalem Nachhaken weichen müssen. Der wichtigste Thriller dieses Jahrzehnts!

Die Katzen / Los gatos

Carlos Maria und Marta sind Cousin und Cousine. Ihre Kindheit bei den Hilaires ist das, was man schlechthin als sorglos bezeichnen kann. Wie Bruder und Schwester sind sie unzertrennlich. Sie raufen, sie spielen, sie lernen gemeinsam. Als echter Junge muss er sie dominieren. Sie lässt es geschehen. Doch nicht ohne die typische Art eines Mädchens. Er fühlt sich dann immer besser.

Die Jahre ziehen ins weite Land der Metropole Buenos Aires. Marta wird größer und größer, reicht schon fast an Carlos Maria heran. Ihm fallen die Veränderungen an Marta auf. Doch noch weiß er mit diesen Auffälligkeiten nichts anzufangen. Als Rolando in die unschuldige Zweisamkeit tritt, fühlt sich Carlos Maria genötigt den Beschützer mehr als gewohnt herauszukehren.

Noch immer kann er mit den Veränderungen nichts anfangen.

Eines Tages – Carlos Maria und Marta sind ausnahmsweise mal nicht unzertrennlich – findet Carlos Maria einen Brief seines Vaters. Die erwachsene Sprache darin versteht er. Die Andeutungen weiß er genau und richtig zu entschlüsseln. Das Rätsel um ihre Zuneigung ist gelöst, sofern es dieses Rätsel jemals gab…

„Die Katzen“ von Julio Cortázar gehört zu einem Schatz, der erst nach dem Tod des Autors gehoben wurde. Ein Vierteljahrhundert – wie gut, dass auch heutzutage noch Jubiläen etwas zählen – fand man in einem Schrank in Paris, wo Julio Cortázar 1984 starb, strebten Tausende von Manuskripten ans Tageslicht. Die Presse eiferte dem nach und strebte ebenso ans Tageslicht der Sensationen. Eine ausgiebige Recherche folgte. Waren die Seiten wirklich von Cortázar? Und warum konnten sie so lange vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben? Ja, und keine Ahnung  sind die einzig glaubhaften Antworten. Hauptsache war und ist jedoch, dass sie endlich ans Tageslicht kamen.

Die hier vorliegende Ausgabe aus dem Lilienfeldverlag ist eine doppelte Sensation. Denn erstmals wurde dieses Werk veröffentlicht und zum Zweiten dann auch gleich noch in einer zweisprachigen Ausgabe. Carlos Maria und Marta sind zwei ausgelassene Kinder, später Teenager, die ihrer Zuneigung rat- und schutzlos ausgeliefert sind. Für Carlos Maria gibt es nur eine Möglichkeit: Flucht. Marta ist da pragmatischer. Das Herumtollen gehört zum Menschwerden wie Verlust und Zugewinn. Sie ist Carlos Maria zugetan. Rolando allerdings auch. Anders, doch nicht minder intensiv.

Julio Cortázar versteht es meisterhaft die beiden Pole nicht aufeinanderprallen zu lassen. Vielleicht ist das auch nicht möglich, weil beide die gleiche Ladung in sich tragen. Abstoßen – darauf würden beide nie im Leben kommen. Doch aneinander haften, kommt genauso wenig in Frage. Als Leser hängt man hingegen an jeder einzelnen Zeile dieses Buches.

Richtig hohe Absätze

Sich verbiegen, um den geraden Weg einschlagen zu können. Su Nuam ist fünfzehn Jahre alt. Und sie arbeitet schon. Als Übersetzerin. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Buenos Aires. Ihr Vater, ein Chinese, wird eines Tages von einem wütenden Mob ermordet. Sie und der Rest der Familie flieht. Nach China, zu den Großeltern.

Auf einmal ist nichts mehr wie es war. Keine nörgelnde Spanischlehrerin, die ihr Vorhaltungen macht, weil sie die Zeitformen nicht einhält – hier ist wichtig zu wissen, dass es im Chinesischen keine Verbformen dafür gibt. Die Freunde sind von einem Tag auf den anderen nicht mehr greifbar. Der Platz, der so trostlos ihr Refugium war, weicht dem hektischen Treiben in der Fremde.

Da kommt das Jobangebot als Übersetzerin für ein Unternehmen zu arbeiten gerade richtig. Und sie ist gut in dem, was sie tut. So gut, dass sie auch auf Reisen mitgenommen wird. Und eine führt sie geradewegs in ihre jüngere Vergangenheit zurück. Der Großvater als Begleiter ist ihr dabei die Stütze, die sie braucht, um nicht von ihrem geraden Weg abzukommen.

Federico Jeanmaire gelingt mit „Richtig hohe Absätze“ das Kunststück Gerechtigkeit in seiner reinsten Form in glaubwürdige politische Unkorrektheit überfließen zu lassen. Natürlich ist das junge Mädchen traumatisiert. Sie musste mit ansehen, wie teilweise sogar Freunde, ihrem Vater das Lebenslicht auslöschen. In Argentinien war sie sich nicht sicher, ob sie Chinesin oder Argentinierin ist. Zurück in China fühlt sie sich als Argentinierin mit chinesischen Wurzeln. Je näher sie dem Flughafen Buenos Aires kommt, desto mehr treten ihre chinesischen Wurzeln wieder hervor. In ihrem Kopf summt es, es klirrt, es scheppert.

Die Reise wird für die Unternehmensdelegation zum Erfolg. Der Deal zum Bau einer Gasleitung kann abgeschlossen werden. Auch dank Su Nuams Mithilfe, die gnadenlos jede Äußerung übersetzt. Ein Handgeld soll ihre Extrabelohnung sein. Und was wird sie sich wohl davon kaufen? Richtig: Schuhe. Aber welche mit richtig hohen Absätzen…

Eine Kurzgeschichte, die den Leser einfach nur amüsiert und von der ersten Seite an in ihren Bann zieht? Ja, und vor allem ein ganz großes Nein. Denn der Reiz der Geschichte liegt zwischen den Zeilen. Su Nuam reist nicht einfach nur zurück nach Argentinien. Sie reist zurück mit ihrem Spanischheft. Das birgt für alle außer ihr ein Geheimnis in sich, das den Leser erst nach und nach auffällt…

Die 92 Büsten der Eva Perón

Hose runter. Die Unterhosen auch. Das erste Kennenlernen von Ernesto Marroné und seinem zukünftigen Chef Fausto Tamerlán verläuft schon etwas seltsam. Besonders als dann noch der Chef seinen neuen Einkaufsleiter mit seinem Finger da näherkommt, wo andere gern mal Luft ablassen.

Und nun hält Ernesto Marroné vielleicht sogar diesen Finger in den Händen. Verpackt in einer Blechschachtel.

Was ist passiert? Zunächst einmal muss man wissen, dass das Vorstellunggespräch erfolgreich verlief – für beide Seiten. Ernesto hat in der aufstrebenden Firma einen Posten, der es ihm eines Tages erlaubt noch weiter aufzusteigen. Marketing, das ist sein Traum. Seit einigen Monaten ist jedoch der monströse Schreibtisch des Chefs allerdings nicht besetzt.

Denn Fausto Tamerlán ist entführt worden. Und zwar von der linksperónistischen Montonero-Bewegung, einer Bewegung, die im Argentinien der 70er Jahre, hier spielt der Roman, die Junta gehörig unter Druck setzte.

Ernesto ist der misslichen Lage die Forderungen der Entführer entgegenzunehmen und die Neueste in die Tat umzusetzen. Denn Tamerláns Entführer wollen neben den üblichen Geldforderungen auch noch, dass in jedem Raum der Firma eine Büste von Eva Perón aufgestellt wird. Schnelles Kopfrechnen: Zweiundneunzig Stück müssen so schnell wie möglich rangeschafft werden. Denn sonst … zimperlich sind die Entführer ja nicht gerade, wie der Finger beweist.

Ernesto gelingt es auch postwendend eine Firma zu finden, die die zweiundneunzig Büsten herzustellen in der Lage ist. Nur haben die Gewerkschaft und die Angestellten gerade beschlossen ein bisschen Revolution zu spielen und den Betrieb zu bestreiken und selbigen einzustellen. Die neue Fabrik mit dem Namen der Patronin Eva Perón kann also erstmal keine Büsten von Eva Perón liefern. Ernesto muss zur nächsten List greifen. Er wird selbst Perónist. Die neuen Genossen müssen ihm einfach helfen… Ob’s was hilft?

Carlos Gamerro lässt Ernesto Marroné wie ein aufgescheuchtes Huhn á la Louis de Funès durch Buenos Aires zweiundneunzig Büsten suchen, auftreiben, nach einem Produzenten suchen. Schwarz-humorig wie ein verkohltes Steak zappeln er und die Leser an der langen Leine des Autors. Bitter-böse Sprüche fliegen wie Lichtblitze umher. Nüchtern wie ein Historiker lässt er Fakten im Strudel der Wandel der Geschichte einfließen. Beide Seiten – die, die die Forderungen stellen und diejenigen, die mit Schweißflecken wie Pizzateller unter den Armen versuchen diese zu erfüllen – haben gehörig einen an der Klatsche. Doch sind sie in ihrem amateurhaften Kampf gegen die Windmühlen nur wie Pusteblumen im Wind. Bei Stille sind sie nicht besonders ansehnlich. Doch wenn Sturm aufzieht, zaubern sie mit ihrem Tanz ein Lächeln ins Gesicht der Unschuldigen.

Ein wenig Glück

Ein wenig Glück

Ein gefährlicher Titel, ein gefährlicher Plot! Nur allzu leicht gerät dieses Buch in den Geruch einer Schnulze. Frau macht folgenschweren Fehler  – flieht – kommt zurück – hat die Chance dem Sohn alles zu erklären. Als deutsche Fernsehproduktion mit Veronika Ferres in der Hauptrolle. In der Fernsehzeitschrift als solides Drama mit vorhersehbaren Wendungen beschrieben.

Aber das ist alles Spekulation, die mit zwei Worten vom Tisch sind: Claudia Piñeiro! Denn sie ist die Autorin, und ihr Name steht für Qualität. Wer das Buch zum ersten Mal liest, wundert sich. Denn die Geschichte ist nicht gerade neu. Auch benutzt Claudia Piñeiro keine ausgefallen Worte (außer vielleicht Evaluierungsgespräch, aber das ist nur der Aufhänger für eine grandios erzählte Geschichte) oder gewagte Satzkonstruktionen. Nein, alles ganz normal. Das ist das Geheimnis der Autorin. Keine Auffälligkeiten, aber die richtige Dosis an der richtigen Stelle. Dieses Buch lässt keinen kalt!

Mary, wie sie sich mittlerweile nennt, wohnt in Boston. Ihre große Liebe Robert ist verstorben. Auch als Reminiszenz an Robert führt sie im Namen einer Eliteschule Gespräche über eine Partnerschaft in ihrer argentinischen Heimat.

Schon lange vor ihrem Abflug kommen die Geister der Vergangenheit zu ihr zurück. Damals, als sie am Bahnübergang stand, Schranke geschlossen, kein Zug weit und breit. Und sie einfach los fuhr. Mit verheerenden Folgen. Flucht war für sie damals der einzige Ausweg. Die Anfeindungen und die Scham trieben sie davon, weit weg. Sie ließ auch ihren Sohn zurück…

Der lebt noch. Weiß kaum noch was von damals. Damals – das klingt so weit weg und ist doch so nah. So nah, dass es Mary an den Schreibtisch treibt. Doch das Blatt bleibt weiß. Anfangs. Was nun folgt, ist eine literarische Meisterleistung. Statt eine verzweifelte Frau zu skizzieren, die tränenaufgelöst nach Entschuldigungen sucht, lässt Claudia Piñeiro Mary kämpfen.

Wer schon mal in einer ähnlichen Situation war, nimmt „Ein wenig Glück“ als Bibel zur Selbstheilung zur Hand. Garantiert! Die Einfachheit der Mittel und die daraus resultierende Intensität der Worte erschlagen den Leser immer wieder. Stück für Stück legt die Autorin die Ereignisse von damals aufs Tapet. Natürlich hat Mary damals einen Fehler gemacht. Das weiß sie. Das weiß auch der Leser. Anschuldigungen? Keine Spur. Gut so. Denn Mary hat gelitten. Wohl auch genug gelitten. Übermut? Fehlanzeige. Mary ist erwachsen, hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt. Robert war ihr immer eine Stütze, brachte ihr mit schlafwandlerischer Sicherheit die richtigen Bücher.

„Ein Wenig Glück“ ist eine Hommage an die Kraft der Bücher. Sie können vielleicht nicht heilen, jedoch Schmerzen lindern. Mary hat das in den vergangenen Jahren immer wieder erfahren dürfen. Und so gibt es nur eine einzige Lösung: Ihre Erinnerungen niederschreiben. Und da kommt der Kunstgriff der Autorin: Hier ist das Buch zu Ende. Was soll man sich nun wünschen? Eine Fortsetzung oder eine Ende á la Michael Haneke, bei dem der Leser selbst aktiv wird? Wie auch immer sich Claudia Piñeiro entscheidet, es wird (oder bleibt) großartig!