Archiv der Kategorie: offenes Asien

Superhits der Showa-Ära

Japan kann sich zweier Autoren rühmen, die sich den gleichen Namen teilen: Murakami – zwei mit dem perfekt ausgeglichenen Verhältnis von Vokalen und Konsonanten. Und doch so unterschiedlich. Während der Eine – Haruki – mit blumigen Worten der weiten Welt wie eine Sonne erscheint, in dem er Japans Kultur erklärt, ist Ryū eher der kleine Teufel, der aus der Erde herausbricht und mit brachialem Heavy-Metal-Sound den Dreck der Gesellschaft nach Oben wirbelt, um noch mehr Kultur zu zeigen. Seine Bücher sind keine Sinfonien, sie sind orchestrale Wuchtbrummen, die lange die Synapsen zum Schwingen bringen.

Apropos gleiche Namen und ausgewogenes Verhältnis von Vokalen und Konsonanten: Midori, so heißt sie und sie und sie und sie und sie und … sie auch. Ja, sechs Frauen, alleinstehend, alle heißen Midori. Ihnen gegenüber stehen sechs junge Männer – zum Glück für den Leser haben sie unterschiedliche Namen. Ishihara, Yano, Sugiyama, Katō, Sugioka und Nobue sind echte Taugenichtse. Die Typen, bei denen man die Straßenseite wechselt, wenn sie ins Sichtfeld geraten. Gelangweilte, antriebslose Gestalten, die nur Unfug im Sinn haben. Was die beiden Halbdutzende verbindet ist Karaoke. Die Jungs verkleiden sich, trashy, die Frauen haben mehr Gefallen an dem gemeinsamen Singen. Die Jungs reiben sich auf an den unzähligen Gedanken, was sie alles machen könnten. Den Willen haben sie ja schon. Böse Gedanken, schreckliche Willensbekundungen – bisher blieb es jedoch bei den Gedankenspielen.

Es ist wieder einmal soweit. Karaoke. Die Jungs organisieren – fast schon militärisch – ihren Abend. Sie bestimmen, wer die Technik organisiert, wer als Fahrer nüchtern bleiben muss und so weiter. Der Abend am Strand verläuft wie immer: Singen, rumalbern, sich an die Nachbarin von gegenüber erinnern, die sich so grazil aus ihrer Kleidung schält, sich haarklein vorstellen, wie sie sich ihren Körper einseift – die Jungs sind in freudiger Erwartung dessen, was nie passieren wird. Nur Sugioka ist am nächsten Morgen immer noch in der Stimmung der Nacht. Da wird selbst eine alte Frau zum Objekt der Begierde. Und schon ist es passiert. Ein anzügliches Nähern. Einfach nicht aufhören können. Eine blitzende Klinge. Und schon liegt die Frau am Boden. Blut umschließt ihren leblosen Körper.

Midori ist tot. Aus den sechs Midoris wie aus heiterem Himmel ein Fünferpack geworden. Und dieses Fünferpack hat es in sich. In Windeseile werden die biederen Damen zu fünf Fingern einer Faust, die kein Erbarmen kennt. Wie ausgewechselt beginnen sie zu recherchieren. Und sie sind gut! Schon bald haben sie einen Verdächtigen. Und wo ein Verdächtiger ist, ist auch ein Zweiter. Eine rauschende Rachejagd beginnt. Eine Jagd wie sie nur von einem Autor geschrieben werden kann: Ryū Murakami.

Im Dienst des Irdischen

China, die Volksrepublik und Religion – jaajjjeeiinn. Irgendwie durchaus eine logische Verbindung, andererseits auch wieder nicht. Es ist kompliziert. Und so sollt man sich diesem Buch auch nähern. Klar, China, Asien, Buddhismus – die Verbindung ist eindeutig da. Und dann die monströsen Parteitagsbilder der Kommunistischen Partei, wenn im Takt dem Vorsitzenden gehuldigt wird – das ist so gar nicht buddhistisch.

Religion ist in China überall vorhanden, so wie hierzulande der christliche Glaube und seine Sichtbarkeit nicht zu übersehen sind. In China hingegen gibt es stellenweise Tempel, die nicht historisch gewachsen sind, sondern moderne Bauten sind (ja, die gibt es auch in unseren Breiten), sondern von Firmen erbaut wurden. Und deren Größe die historischen Tempel um ein Vielfaches übertreffen. Also, China und Religion ist doch nicht so verwunderlich wie so mancher Dauerskeptiker es glauben mag.

Hans-Wilm Schütte reist durch ein China, das ohne rasanten Fortschritt nicht überlebensfähig ist. Das Land lebt vom selbst auferlegten Image des enormen Aufschwungs.

Als Erstes fällt im Buch die üppige Farbenpracht der Abbildungen auf. Gold soweit das Auge reicht. Festgehalten aus unterschiedlichen Perspektiven. Und erst die Erläuterungen! China ist gemessen an der Zahl der Gläubigen die Nummer Eins im buddhistischen Lager. Neben der Pracht der Bilder stellt Autor Hans-Wilm Schütte die Geschichte und Tradition in den Fokus. Strömungen innerhalb des Buddhismus sind oft stellenweise ein Dorn im Auge der Religionshüter sowie der Machthaber im Reich der Mitte.

„Im Dienst des Irdischen“ ist ein tiefer Einblick in den Alltag der Buddhisten in China. Tempel mit gigantischen Ausmaßen, daneben bescheidene Rituale, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Besinnliche Bilder und ausufernde Goldbeschau. Propaganda und reine Lehre. Wer sich auf diese Reise einlässt, erlebt Seite für Seite ein Abenteuer nach dem Nächsten. Unter den Reisebildbänden nimmt dieses Buch einen ganz besonderen Platz ein, und zwar auf den vorderen Plätzen!

Frey

Der Tag hätte auch anders verlaufen können. Nach dem Termin beim Therapeuten wäre Daniel Frey nach Hause gekommen. Ausnahmsweise hätte seine bessere Hälfte Sarah die Glotze mal ausgeschaltet gelassen. Man wäre vielleicht was essen gegangen. Und nicht allein durch Wien geschlichen. Dann würde er jetzt auch nicht in einem Flieger nach Tokio sitzen und sich mit Daniel Bernhaugen unterhalten. Und schon gar nicht würde das Reiseziel in Nagasaki umgewandelt werden, wo Bernhaugen und seine Frau Naoko eine Buchhandlung betreiben. Ach ja, und von dem Flugzeugabsturz hätte er nur in den Nachrichten gehört.

So beginnt „Frey“ von Roland Freisitzer. Kurios-famos. Aber der Autor hat noch mehr auf Lager. Denn Frey ist tot. Und Bernhaugen lebt. Kann sich aber partout an nichts erinnern. Dr. Miyamoto beantwortet ruhig und gelassen die Fragen des Patienten, der sich überhaupt nichts mehr sicher sein kann. Ja, er ist Daniel Bernhaugen. Seine Frau Naoko kommt auch gleich. Er ist nur einer von sieben Überlebenden eines Flugzeugabsturzes. Und er ist in Nagasaki. Auch Naoko bestätigt Daniel, dass er Daniel sei. Daniel Bernhaugen. Er selbst erkennt sie nicht. Aber er kann sich an Dinge erinnern, die er mit ihr unternommen hat. Schemenhaft, dennoch vernehmbar.

Auf eigene Faust recherchiert Daniel im Internet. Er sucht seinen Namen. Es dreht sich alles um den Flugzeugabsturz – klar, so berühmt ist der Buchhändler aus Nagasaki nicht als dass ihm tausende Seiten zu seinem Namen zufliegen würden. Und als er sich fast schon am Ende seiner Recherchen sieht, fällt ihm ein Artikel auf. Einer der Toten soll Daniel Frey sein. Österreicher wie er. Vermeintlich auf der flucht, weil er seine Frau ermordet haben soll! Na, das ist doch mal eine Sensation!

Das doppelte Lottchen in einer Neufassung. Könnte man meinen. Auch kann man nachvollziehen, wenn man nach dem Aufstehen feststellen muss, dass man sich unbewusst in der Nacht die Haut aufgekratzt hat. Aber aufzuwachen und nur noch durch Worte von scheinbar Fremden die eigene Identität zu vernehmen mag, dann ist man in einer echten Zwickmühle. Aber vielleicht ist genau das der Ausweg, den man eine sehr lange zeit suchte…

Skandal

Endlich bekommt Suguro die verdiente Ehrung als Schriftsteller. Die Preisverleihung nutzt er, um sich bei den „üblichen Verdächtigen“ zu bedanken. Im Anschluss huldigen ihm Freunde, Weggefährten, und selbst die Kritiker sind in Anbetracht der Ehrung milde gestimmt. Da zupft ihm jemand am Ärmel. Eine junge Frau. Er, die sechzig schon hinter ich gebracht – sie die dreißig noch vor sich. Sie kennen sich doch, meint sie. Erinnere er sich nicht? Das Portrait, der schöne Abend in Shinjuku, im Tokioer Vergnügungsviertel Kabuki. Dort, wo die Pornokinos sind, die Leuchtreklamen kurzzeitigen Spaß verheißen, wo man anonym … na ja, was schon?!

Zu viel der Ehre für den verehrten Suguro. Er hat nicht den leisesten Schimmer wer die Dame ist, geschweige denn wovon sie überhaupt redet. Dann ist sie verschwunden. Die Presse hinter ihr her. Und Suguro ziemlich verdutzt. Er soll sich in diesem Viertel herumgetrieben haben? Wie es scheint sogar regelmäßig. Er, dessen Frau zuhause die Arbeit trotz Rheuma verrichtet. Rheuma, das er ihr wohl zugefügt hat, wie er meint. Er, der Schriftsteller, der Bigotterie und unchristliches Verhalten im tiefsten verdammt.

Was, wenn doch was an der Geschichte dran ist? Suguro schiebt diesen Gedanke beiseite. Denn für ihn gibt es nur eine Lösung: Ein Doppelgänger treibt einen gewaltigen Schabernack mit ihm. Und den muss er finden. Zur rede stellen. Und die Welt ist wieder in Ordnung. So weit so gut. Nach und nach kommen Suguro gehörige Zweifel an seiner Idee vom Doppelgänger. Immer öfter drängt sich ihm der Gedanke auf, dass die junge Frau vielleicht doch Recht haben könnte. Doch dann müsste er es doch wohl wissen, oder?!

Shūsaku Endō spielt Katz und Maus mit dem Leser und dem geplagten Suguro. Es wäre ein Skandal, wenn der honore Autor sich des Nachts in den dunklen Gassen der Millionenmetropole Tokio herumtriebe, um seinen Trieben freien Lauf zu lassen.

Mit sicherem Schritt führt Shūsaku Endō durch das wilde Leben in Kabuki. Hier herrschen eigene Regeln, mit eigenem Wortschatz, mit strengen Kodexe. Mit wachem Verstand schickt er Suguro in die Unterwelt, die ihm den Strick um den Hals zu legen scheint, der ihm das Genick brechen kann. Er wartet nicht auf den heldenhaften Retter auf dem weißen Pferd, der in letzter Sekunde den Strick mit Geschick durchtrennt. Suguro ist dieser Retter selbst. Doch vielleicht er noch viel mehr….

Oben Erde, unten Himmel

Cineasten kommt bei diesem Titel sofort „Der dritte Mann“ in den Sinn. Als Paul Hörbiger – des Englischen nicht mächtig – Himmel und Hölle im Fingerzeig verwechselt (in der deutschen Synchronisation wurde der Fehler allerdings behoben).

Suzu lebt in so einer Welt. Hinter dem geheimnisvollen Wort Kodokushi verbirgt sich ein trauriger Begriff. Menschen, die völlig allein lebten, isoliert von der Welt draußen, sterben – wohl die einzige Gemeinsamkeit mit dem Rest der Welt. Doch wie im Leben so im Tod: Niemand nimmt davon Notiz. Wenn der Tod bemerkt wird, kommt die Putzkolonne von Herrn Sakai. Pflichtbewusst und stumm, fast unmerklich beseitigen sie die Reste eines Lebens. Fräulein Suzu ist eine dieser unauffälligen Arbeitsbienen, die Dienst verrichten, aber niemals erkannt werden.

Fräulein Suzu verrichtet ihren Dienst wie man es von ihr erwartet. Sie wischt, fegt, sammelt ein. Ohne groß dabei nachzudenken. Im Laufe der Zeit verfestigt sich in ihr der Gedanke, dass sie doch nicht so allein ist auf der Welt. Im Team arbeiten ist eben doch mehr als nur Arbeit.

Und die Schicksale der Menschen, deren Leben sie schematisch wegwischt? Ein Mann, der schon vor Jahren aus dem System ausgestiegen ist, wie es in den Medien heißt, ist allem Anschein nach doch nicht selbst gewählt aus dem Leben geschieden. Er hinterlässt einen Sohn. Einen behinderten Sohn. Und schon ist ein Kamerateam zur Stelle, das die Arbeit der Reinigungsbrigade begleiten soll. Suzu zögert erst. Was, wenn ihre Familie sie erkennt? Die weiß nichts von ihrem außergewöhnlichen Job. Aber wie soll sie erkannt werden in ihrem anonymen Outfit, das so anonym ist wie sie selbst? Sie willigt ein sich filmen zu lassen.

Es ist Sommer, die wärmste Jahreszeit. Alles blüht. Man reckt sich nach dem Leben. Und Suzu? Sie auch, und das obwohl ihr ganzes Leben in einem stillen Umbruch begriffen ist. Wann wird sie es bemerken?

Milena Michiko Flašar wacht wie eine alles überschauende Mutter über das Wohl ihrer Protagonistin. Ruhig und behutsam erlaubt sie ihr erste Schritte in die „Welt da draußen“. Die Welt ist nicht schön – schnell verliert man sich in ihr. Fräulein Suzu ist aber nicht allein. Sie muss es nur einmal erfahren, um sich komplett in ihr verwirklichen zu können. Denn dann dreht sie sich weiter.

Übergestern in Japan

Und der Rennradmeister des Jahres 2008 der Klasse D heißt: Michael O. B. Krähe. Ist doch eigentlich nicht mehr als eine Randnotiz im Lokalsportteil einer sehr lokalen Zeitung. Kein Übertragungswagen der großen TV-Stationen weit und breit. Keine bunten Mikrofone zu sehen. Und die ewig gleichen Werbetafeln fehlen auch. Normalerweise.

Doch an dieser Geschichte ist mehr dran als ein Zehnzeiler einer schmalen Spalte in der Gazette. Radfahren konnte der kleine Michael schon immer. Auch wenn es nur die achthundert Meter bis zur Schule waren. Mehr wollte er insgeheim auch nicht. So sportlich war er nicht, wollte er auch nicht sein. Als er später beruflich, Schule und Ausbildung hatte er mit mehr Ehrgeiz hinter sich gebracht, nach Japan ging, begann ein ganz neues Kapitel in seinem Leben. Die Arbeitswelt – und nicht nur die – ist hier eine andere. Hier und Her gerissen zwischen Extremanforderungen und Langeweile (überspitzt dargestellt) suchte er eine Herausforderung, um sich seiner Mitte klar werden zu können. Und so schwang er sich auf ein Rad. Allein das zu besorgen, ist schon ein Abenteuer.

Und so radelt er in den Bergen von Tokio bergauf, bergab. Bis ihn der Ehrgeiz packt und er meint, dass Radrennen genau das sind, was er sucht. Das Einstufungssystem in Japan ist gewöhnungsbedürftig. Man beginnt in Klasse X. Eradelt man sich einen der ersten sechs Plätze, steigt man auf. Doch Obacht: Ist man zu gut, steigt man zu schnell auf, und die Luft wird bekanntlich an der Spitze immer dünner. Er bemerkt, dass die Klasse D genau seinem Niveau entspricht. Klasse C? Dafür sind Körper und Einstellung nicht gemacht. Und so kommt es wie es kommen muss. Michael O. B. Krähe wird 2008 japanischer Meister im Radrennsport. In seiner niederrheinischen Heimat bekommt das natürlich kaum einer mit. Auch in Japan ist das nicht unbedingt die Radsportsensationsmeldung, die tagelang die Schlagzeilen beherrscht. Aber es ist eine der Geschichten, die Geschichte schreiben, wenn sie denn niedergeschrieben werden. Und das hat der japanische Radmeister der Klasse D des Jahres 2008 nun gemacht. Mit der gleichen Leidenschaft, die er dem Radsportabenteuer im Land der aufgehenden Sonne entgegenbrachte, schreibt er nicht nur seine Geschichte auf. Es sind vor allem die unumstrittenen kulturellen Unterschiede, die dieses Buch so lesenswert machen. Rituale und Riten, undurchschaubare Regeln und Rivalitäten lassen den Leser ein Land entdecken, das immer noch voller Rätsel steckt.

Kennst Du den Berg

Fassen wir kurz zusammen: Galsan Tschinag wurde 1943 in der Mongolei in die Familie der Stammeshäupter der Tuwa geboren. Als junger Mann ging zum Studium in die DDR, nach Leipzig. Aus dem Jungen der Steppe wurde der aufgeweckte, aufgeschlossene junge Mann, der nun – darum geht es nach „Kennst Du das Land“ im zweiten Teil seiner Biographie – wieder in sein Geburtsland zurückkehrt. Ende der Sechziger Jahre. Im Westen fliegen Steine, im Osten verfestigt sich der Sozialismus, wenn auch teils mit Gewalt. Und um es offen auszusprechen: Die Mongolei war damals wie heute für die meisten ein Land, das man eigentlich gar nicht kennt.

Aus dem unerfahrenen jungen Mann ist ein gereifter junger Mann geworden. Er ist glücklich behaupten zu können, dass er in beiden Ländern eine Heimat gefunden hat. Doch beide sind ihm nah und fremd zugleich. Ein Zweispalt, der nur schwer nachzuvollziehen ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Oder: Die Biographie von Galsan Tschinag gelesen hat.

Mit einer selten dagewesenen Klarheit und Reinheit der Sprache – Tschinag schreibt auf Deutsch, niemand muss also seine Gedanken interpretieren und möglichst gefühlsnah übersetzen, was allein schon eine Meisterleistung ist. Wenn aber Worte wie Bangigkeit auf das störrische Parteiphlegma (Dogma trifft es nicht minder exakt) treffen, erholt sich der Leser im Nu vom etwaigen Kulturschock. Wie im Vorübergehen schafft es der Autor beide Länder nicht nur zu vergleichen, sondern sogar Brücken zu bauen.

Eben noch in einer Unterkunft der Karl-Marx-Universität in einer bis heute sehr lebenswerten Umgebung, und schon eine Seite weiter findet man sich in einer Landschaft wieder, die dem Begriff Unendlichkeit eine weitere Dimension hinzufügt. Eben noch das unendliche Wissen der Bibliothek genossen, und schon stehen die Genossen neben einem und fordern zur Agitation auf.

Galsan Tschinag half damals, hilft bis heute die ihm eigene innere Ruhe. Er analysiert im Stillen und schreibt sich anschließend seine Erkenntnisse von der Seele. Als Leser bleibt einem nichts anderes übrig als um Gleichschritt umzublättern. Seite für Seite wird der Autor eine treuer Begleiter, den man immer besser kennenlernt. Renitenz ist ihm fremd. Doch dem unvermeidlichen Schicksal mit einem geschickten Schritt zur Seite aus dem Weg zu gehen, hat mehr Reiz als man vermuten mag. Immer wieder lässt Tschinag seine Brillanz aufblitzen, wenn es darum geht sich selbst treu zu bleiben. Und ein ums andere Mal ertappt man sich beim Lesen dabei, dass man innerlich eine Siegerfaust ballt. Unerlässlich für alle, die schon den ersten Teile gelesen haben, eine Appetitmacher für alle, denen der erste Teil entgangen sein sollte. Und man darf sich jetzt schon auf die Fortsetzung freuen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ausgerechnet die nicht in einer Reihe mit den ersten beiden Bänden stehen soll.

Hätte ich Dein Gesicht

Das Leben in Seoul könnte so schön sein. So ereignisreich. So erfüllt und aufmerksamkeitserregend. Wenn man denn das richtige Aussehen hat. So oberflächlich es sich anhört, so oberflächlich ist es auch.

Doch für Kritik an ihrem Stil interessiert sich Kyuri nicht. Sie arbeitet in einem so genannten Room-Salon. Dort unterhält sie reiche Geschäftsmänner. Die fühlen sich pudelwohl in ihrer Gesellschaft. Dass der Druck auf der jungen Frau enorm ist, bemerken sie nicht mal ansatzweise. Wollen sie auch nicht. Und Kyuri mit dem bildhübschen Gesicht unternimmt auch alles, um dem Stress kein Gesicht zu geben. Was tut man nicht alles, um erfolgreich zu wirken?!

Miho scheint es bereits geschafft zu haben, das so schön, ereignisreiche, erfüllte Leben zu führen. Ihre Kunstwerke werden anerkannt, verkaufen sich gut. Mehr oder weniger unfreiwillig bewegt sie sich in einem elitären Kreis.

Davon kann Ara nur träumen. Als Friseurin steht sie auf der anderen Seite des Scheins der heilen Welt. Seit ihrer Kindheit ist sie stumm. Ihre Welt ist die Welt des K-Pops. Ihre Lieblingsband versorgt sie anhaltend mit Musik, und das Management der Band mit Dauerklatsch und –tratsch. Auch sie träumt davon dieser Scheinwelt zu entkommen, sich in reale Abenteuer stürzen zu dürfen.

Die frisch verheiratete Wonna will aus ihrem genormten Leben ausbrechen. Drei Fehlgeburten hat sich schon hinter sich. Ihr Mann betrachtet es als Norm mit einer Frau ein geordnetes Leben zu führen. Gefühle und emotionale Ausbrüche gehören nicht dazu. Dass seine Mutter dem jungen Glück permanent auf der Spur ist, um es gelinde auszudrücken – Wonnas Schwiegermutter kontrolliert das gesamte Leben, gibt unerwünschte Ratschläge etc. – lässt das junge Glück schnell ersticken.

Vier Frauen, die auf unterschiedliche Art und Weise ihren Lebensweg beschreiten. Immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit und dem großen Glück, das für einige mit Schönheitsoperationen gleichzusetzen ist. Die Oberflächlichkeit als Projektionsfläche für die eigene Perfektion – daran muss man sich gewöhnen, als Leser. Die ersten Kapitel – jede der Vier erzählt aus ihrem Leben – sind der erwartete Kulturschock für alle, die dem Klischee, dass der asiatische, im Speziellen koreanische Lebensstil so ganz anders ist als der eigene.

Jede hat schon jung viel erlebt, um genug Stoff für eine eigene Biographie zu haben. Als vor rund zehn Jahren das erste Mal der so genannte Gangnam-Style durch das Web geisterte, war es eine neue Welt, die persifliert wurde. Francis Cha schreibt unumwunden über eine Welt, die jede Feministin auf die Palme treibt. Ein Leben zwischen Gefallsucht und den Erwartungen der Familie und der Gesellschaft ist für jede der Vier eine Gratwanderung auf der Rasierklinge.

Gute Nacht, Tokio

Wenn man nachts durch die Straße kurvt, kann man einiges erleben. Doch meist bleibt es bei ein paar aufgemotzten Luxuskarossen, deren übermütige Fahrer übermotiviert Reifen durchdrehen lassen und einen nervösen Hupdaumen haben. Das Nachtleben der Einfallslosen!

Tokio, nachts um ein Uhr. Shinjuku ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Neonröhren erhellen die Gassen und Gassen, die auch schon mal voller waren. Einzelne Taxis befördern Menschen von A nach B. Manche sind auf dem Weg in die Federn. Andere sind auf der Suche nach dem Glück. Ganz andere arbeiten. Nicht nur die Taxifahrer. Mitsuki zum Beispiel sucht eine Biwa, das Obst. Braucht man unbedingt, jetzt um diese Uhrzeit, ein Uhr nachts. Ja, braucht man. Wenn man beim Film arbeitet und der Fundus einfach keine Biwa parat hat. Sie kennt den Fundus in- und auswendig. Doch ein Biwa, das Obst, hat sie da noch nie gesehen. Wie sehen die überhaupt aus?, fragt sie sich. Pflichtbesessen, setzt sie sich ins Taxi. Ihr Freund gibt ihr einen Tipp, wo sie welche finden kann. Eigentlich wollte sie ihn schon längst in die Wüste schicken. Sie braucht keinen Freund, der ihr am Rockzipfel hängt. Doch nun ist er ihr Retter in der Not. Kaum an der Allee mit den ersehnten Früchten angekommen, steht da schon jemand. Sie klaut Biwas wie selbstverständlich. So was passiert nur in Tokio, nachts um ein Uhr.

Blackbird. Hier trifft sich die Nacht. Hier sammeln sich die, die um ein Uhr nachts in Tokio dem Schlaf die kalte Schulter zeigen. Hier fahren sie Taxis, um den Träume(r)n Zeit zu verschaffen. Eine Telefonseelsorgerin kann immer noch verblüfft werden, wenn des Nachts die Telefonbox entsorgt werden sollt. Schauspieler, die ihre Karriere noch vor sich haben hängen Träumen hinterher, die sie besser leben sollten. Und mittendrin Matsui, Taxifahrer, Seelsorger, neugieriger Chauffeur, ortskundiger Navibenutzer – kur: Der Knotenpunkt all derjenigen, die nachts um ein Uhr in Tokio das Bett nicht finden.

Atsuhiro Yoshida entwirft Schicksale, die sich perfekt in die Kulisse der Millionenmetropole Tokio einfügen. Sie sind anonyme Gestalten, die unerkannt an einem vorbeihuschen, wenn die Spots der Scheinwerfer schon wieder das nächste Opfer jagen. Doch sind sie es, die Tokio zur pulsierenden Stadt machen. Ohne sie würde etwas fehlen. Der erwartete Perfektionismus weicht um ein Uhr nachts der Verzweiflung im Dunkeln. Der Autor hat auch das Cover gestaltet. Des Nachts vielleicht als er nicht schlafen konnte???

Die Narayama-Lieder

„Es ist ein Brauch von Alters her, wer siebzig ist, geht auf den Berg“, naja, ganz so salopp sollte man diesen Brauch nicht nehmen. Und schon gar nicht dieses kleine Büchlein. Denn es birgt einen kleinen Schatz in sich. Den einer wunderbaren Legende.

Orin ist mittlerweile 69 Lied, vor zwanzig Jahren hat sie ihren Mann verloren. Ihr Sohn Tatsuhei und ihre vier Enkel sind ihr Lebenselixier. Dass auch Tatsuhei schon Witwer ist, betrübt die Frau. Mehr noch als die ewigen Sticheleien ihres ältesten Enkels. Bald schon steht Orins siebzigster Geburtstag an. Ein bedeutsames Datum in den Bergen Japans, wo Orin und ihre Familie leben. Denn dann ist der Tag gekommen, an dem sie die Reise zum Narayama antritt … und niemals zurückkehren wird. Ganz nüchtern betrachtet, werden die Alten auf dem Berg ausgesetzt und man erinnert sich nicht mehr an sie. Die Dorfgemeinschaft reguliert so ihr Überleben.

Aber sind wirklich die reinen Fakten. Shichiro Fukazawa macht daraus eine rührende Geschichte. Orin ist beseelt von dem Gedanken ihrem Sohn eine Frau an die Seite stellen zu können. In dem anderen Dorf – hier oben gibt es keine Namen für Dörfer – gibt es eine Frau, deren Mann erst vor Kurzem gestorben ist. Die auferlegte Trauerzeit von neunundvierzig Tagen muss überstanden werden, dann lädt man die Frau zu sich ins Haus. Und wenn man sich einig geworden ist, bleibt sie. Das Leben kann so einfach sein! Muss es auch! In der Dorfgemeinschaft herrschen strenge Regeln. Es gibt kein Geld, jeder weiß, was der Andere im Speicher hat, und man haushalten können mit dem, was man hat. Die Winter sind lang, hart und unnachgiebig. Völlerei ist unangemessen und führt unweigerlich zu Engpässen. Um die Dorfgemeinschaft herum sind nur Berge. Die so genannte Zivilisation ist geographisch wie gedanklich unendlich weit weg. Nur wenn das Narayama-Fest ansteht, kommen alle zusammen. Die Vorbereitungen schweißen zusammen. Der Abschluss des Festes ist bitter. Denn wieder wird jemand die Gemeinschaft verlassen…

Shichiro Fukazawa schildert in poetischen Bildern eine fremde Kultur. Eine Kultur, die funktioniert. Das darf man nicht vergessen. Zusammenleben heißt Sicherheit. Und die steht über allem. Da bleibt wenig Raum zur Selbstverwirklichung wie man sie in den Städten versteht. Wenn die Lieder der Legende von Narayama erklingen, weiß Orin, dass es bald schon so weit ist, die Reise anzutreten. Es bleibt ihr nicht viel Zeit, um ihren Sohn in Sicherheit zu wissen. Und wir Leser dürfen diese intensive Zeit hautnah miterleben.