Archiv der Kategorie: Meeresrauschen

Die Landschaft hat immer recht

Was für ein Titel – „Die Landschaft hat immer recht“. Auf dem Cover ein einsames Haus und jede Menge Meeresgetier. Schon allein dieses Bild erweckt im Leser eine Vorstellung von dem, was ihn erwarten wird, schlägt er die erste Seite auf.

Doch es kommt ganz anders. Oder besser: Es wird ihn umhauen! Denn – ja, es geht um Fischer und ihre Einsamkeit in der selbst für isländische Verhältnisse trostlosen Gegend – hier kommt eine geballte Ladung Energie auf den Leser zu. Das mag auf den ersten Blick missverständliche aussehen. Halldor ist der Fischer, um den es geht. Er lebt in einem Fischerwohnheim. Hier leben tatsächlich nur Fischer – noch. Man vertreibt sich die zeit mit Spielen, Geschichten von der Arbeit und den Fragen des Lebens wie „Sind Schafe Engel?“. Für die Schönheit der Landschaft hat man wenig übrig. Das Augenmerk der Männer, die in diesem Fischerwohnheim leben, ist in die andere Richtung gerichtet. Aufs Meer. Immer den Horizont im Blick. Und die Fischernetze. Schließlich geht es um den Fangerfolg. Und doch spürt jeder, das hier was fehlt. Ohne es auszusprechen. Wenn sie sprechen, dann ist das Gesagte roh und unverschnörkelt. Eine Frau passt hier nicht rein.

Und trotzdem passiert das Unerwartete. Eine Haushälterin tritt über die Schwelle. Per Annonce hat man sie gesucht – und scheinbar auch gefunden. Halldor spürt mit einem Mal, das noch mehr als Fischer, Netze, Erfolge, Spiele, Zänkereien sein Leben ausmachen. Hier ist etwas im Gange, das er zwar kennt, aber noch lange nicht weiß wie er damit umzugehen hat.

Bergsveinn Birgisson ist ganz behutsam, um die Stille der Einsamkeit nicht zu stören. Auf sanften Pfoten schleicht ums Haus, um die Bewohner und zwickt sie in ihr Gewissen.

Nicht erst beim Zuklappen des Buches ist man baff erstaunt wie ruhig eine so aufwühlende Situation beschrieben werden kann. Wie in einem Meditationsritual führt der Autor den Leser durch seine Geschichte.

Die Versuchung von Syrakus

Reiseimpressionen sind immer ein Appetitmacher auf ein Reiseziel, bei dem man sich entweder nicht sicher ist, ob es das richtige ist oder sie sind der Tropfen, der das Fass der Sehnsucht zum Überlaufen bringt. Oft spaziert man neben dem Autor einher und nickt zustimmend – Ja, das sehe ich genau so. Und dann gibt es Reiseimpressionen, die packen einem am Schlafittchen und treiben einen in den Wahnsinn. Warum nur war ich nicht schon früher hier? Was habe ich schon alles verpasst? Wie um alles in der Welt konnte ich nur so lange warten? „Die Versuchung von Syrakus“ gehört eindeutig in die letzte Kategorie, wenn dieses Buch nicht sogar diese Kategorie auf ein neues Level hebt.

Joachim Sartorius, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele verbringt einen großen Teil seines Lebens in Syrakus aus Sizilien. Wie viel andere auch. Er muss also wissen, was man in der Stadt sehen muss, was sie erlebbar macht. So wie viele andere auch. Doch er schafft mit einer Leichtigkeit dem Leser, dem Sehnsüchtigen diese Stadt schmackhaft zu machen, dass man sich gar nicht getraut zur Serviette zu greifen und sich den Sabber vom Mund zu wischen.

Selbst so eine profane Handlung wie zum Friseur zu gehen, wird zu einer Sache, die man seiner To-Do-Liste unbedingt hinzufügen muss. Wer bisher dachte, dass sich der Ruhm der Stadt einzig allein auf „Heureka-Ich-Hab’s“-Archimedes gründet, wird schnell eines anderen belehrt. Einmal mit Joachim Sartorius durch de engen Gassen der Altstadt zu wandeln, gleicht einer 3D-Animation, in der man sich wie im bequemsten Federbett fühlt. Ortigia, die Altstadt, ist auf einer Insel der Stadt vorgelagert. Sie zu umlaufen, dauert nicht lang. Sie in sich aufzusaugen, ist eine Lebensaufgabe. Einen umfassenden Vorgeschmack bekommt man hingegen auf den reichlich einhundertsiebzig Seiten dieses Buches. Immer wieder streut der Autor kleine Anekdoten ein, verweist auf Eisdielen, Orte zum Erholen und Staunen und richtet den Blick auf großes Offensichtliches und die Kleinigkeiten, die zu einem Giganten anwachsen, wenn man sie entdeckt.

Bei jedem gelesenen Kapitel, bei jedem Umblättern möchte man einen Freudentanz aufführen, weil man sich nun zu hundert Prozent sicher sein kann, dass man den Besuch von Syrakus mit einem echten Kenner in der Hand vollends genießen kann.

Das Sizilien des Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Es ist die Schlussszene des Films „Der Leopard“, der die Faszination dieses Epos ein ums andere Mal zu übertreffen scheint. Die versammelte Gesellschaft gibt sich im Reigen dem eigenen Verfall, des Wegschauens und Wegduckens hin. Man ist höflich-höfig distanziert. Man kennt sich, weiß wen man mag und braucht. Bloß nicht verändern. Opulente Ausstattung, begnadete Schauspieler, eindringliche Bilder.

Doch ist das das Sizilien, das den Besucher mit überbordender Wärme empfängt? Ja. Nur anders. Im Film, und vor allem im Buch ist es ein Sizilien, das von einem Mann beschrieben wird, der genau in diesen Kreisen erwachsen geworden ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte zum Hochadel der Insel. Als er geboren wurde, war Italien schon eins. Zumindest auf dem Papier. Die Vielstaaterei war „nur noch in den Köpfen“. Aber da saß sie noch fest im Sattel.

Autor Jochen Trebesch begibt sich auf Spurensuche. Bis ins kleinste Detail seziert er den Werdegang des großen sizilianischen Schriftstellers, der immer noch mit nur einem Roman ein Ganzes abbildet, das bis heute ein Rätsel bleibt. Sizilianer als stur und veränderungsunwillig abzutun, träfe niemals komplett den Kern. Sofern dem Unterfangen Sizilien umfassend zu verstehen überhaupt Erfolg beschieden werden kann.

Immer tiefer taucht mit dem Text in ein Leben ein, das so weit entfernt liegt wie Schneesturm in Palermo. Und immer verfestigt sich der Gedanke, dass das Leben des Schriftstellers mehr Symbolgehalt hat als man anfangs dachte. So vollzieht sich im Laufe des Lesens ein Sinneswandel. Der goldene Löffel, der dem kleinen Giuseppe schon in der Wiege im Mund steckte, versperrte ihm nicht die Sicht auf die Umwälzungen, die seinem Land bevorstanden. „Il Gattopardo“, wie „Der Leopard“ im Original heißt und auf das Wappen der di Lampedusa zurückgeht, ist die perfekte Symbiose von erstarkender Vorstellungskraft und Biographie der eigenen Familie.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Angelika Fischer. Die Wahl für Schwarz-Weiß hätte nicht besser sein können. Denn nur so kommen die Kontraste erst zur Geltung. Kein quitschbunter Farbenrausch, der die Stimmung ins gewöhnliche rauschen lässt. Sondern konzentrierter Fokus auf das Objekt. Das Buch mag auf den ersten Blick dünn erscheinen. Doch sein Inhalt ist lehrreicher als so mancher Pageturner, der nach 500 Seiten nur noch als dekorativer Schnickschnack im Bücherregal herhalten kann.

Napoli: zwischen Feuer und Wasser

Quadratisch, praktisch, gut – nein, Napoli kann man wirklich nicht mit diesen Worten beschreiben. So quirlig wie die Stadt ist, kann man sie in keine geometrische Form pressen. Ebenso wenig kommt man um den Begriff chaotisch nicht herum. Doch was heißt schon chaotisch, wenn das Ergebnis schlussendlich mehr als zufrieden stellend ist.

Ruprecht Günther portraitiert die Stadt am Fuße des Vesuv mit zwei lächelnden Augen. Man merkt es den Bildern an, dass er sich beim Blick durch den Sucher das Zusammenkneifen des anderen Auges ehrlich verkniffen hat.

Tief religiös, launisch, befreit, bedächtig, lebensfroh – die Liste der Attribute, die diese Stadt beschreiben ließe sich endlos fortsetzen. Und zu jeder dieser Charaktereigenschaften verführt er den Leser / Betrachter zu Schwärmereien. Graffiti des Komikers Toto, ein Prinz, der der Stadt mit seinem Humor im napolitanischen Dialekt eine weithin vernehmbare Stimme gab, folgen Bilder von prall gefüllten Marktständen, grandiose Stadtansichten, die anschließend von zarten Portraits der Bewohner eine Stille erzeugen, die man in der Stadt nur selten erlebt.

Zum Stadtbild gehören auch – zu jeder Jahreszeit – die über die engen Straßen gezogenen Wäscheleinen, die nur darauf warten ein buntes Farbenmeer in den dichten Häuserdschungel zu zaubern.

Wer Napoli kennt, erkennt die Entstehungsorte der Bilder wieder. Sie rufen Erinnerungen wach und nähren die Sehnsucht bald schon wieder zurückzukehren. Die kurzen Texte im Buch unterstreichen die Herzlichkeit der Menschen der Stadt und legitimieren die Fotos als Alltagsschnappschüsse, und nicht als Zufallsprodukte eines Momentes. So ist Napoli, so wird es immer bleiben.

Stadtabenteuer Hamburg

In Hamburg sagt man Tschühüß – tschüß zu den immer wiederkehrenden Abenteuern, die für viel Geld einen überschaubaren Spaß sorgen. Für den man auch noch bezahlen muss. Die Stadtabenteuer-Reihe aus dem Michael-Müller-Verlag lässt die allgegenwärtigen Highlights nicht außer Acht – was ist Hamburg ohne Hafenrundfahrt und Reeperbahnbummel? – geht jedoch noch ein paar Schritte weiter. Also, der Leser geht noch ein paar Schritte weiter, um Hamburg derbe kennenzulernen.

Autor Matthias Kröner – der Mann hinter den Stadtabenteuern – zog es vor Jahren in den Norden. Und er versteht es wunderbar, dem Leser diese Perle näherzubringen. Und dazu gehören nicht zwingend die Photo-Hotspots, wo man innehält, die Kamera im Anschlag und auf den entscheidenden Moment wartet, um das Bild seines Lebens zu machen.

Im Hamburg gehört zweifelsohne auch ein Spaziergang durch das Schanzenviertel dazu. Sich einfach mal treiben lassen. Hier tobten vor ein paar Jahren heftige Kämpfe während des G20-Gipfels. Ein gewisser Olaf Scholz, Bürgermeister der Hansestadt, tat sich damals durch kompromisslose Härte hervor. #damalswars Das Viertel hatte somit seinen Ruf wech. Dass die Randalierer nun keineswegs eine Meldeadresse (sofern vorhanden) in der Schanze hatten, erkennt man beim bloßen Bummeln sofort. Der alternative Kiez unterliegt großen Veränderungen, bewahrt sich aber dabei seinen eigenen Charme. Und wer mal zu nachtschlafender Zeit noch einen Absacker braucht (eine Bar mit zwölf Zapfhähnen sollte fürs gröbste ausreichend sein), sich kulturell berieseln lassen möchte oder einfach nur den Moment gehaltvoll erleben möchte, der kommt hier an jeder Ecke auf seine Kosten. Der Bericht vom Besuch eines Poetry-Slams mit Musik und allerlei, was sonst noch zu einem gelungenen Kulturabend trifft den Nerv der Schanze exakt. Auch so können Reisebücher sein.

Ausgefallene Shops, Tretbootfahren auf dem Hamburger Meer oder auch mal eine Buchhandlung, die sich ausschließlich einem Thema widmet … welches das wohl ist, in einer Stadt in Meeresnähe?! – wer die ausgetretenen Pfade der Hansestadt zu seinem persönlichen Œuvre zählt, also meint schon alles gesehen zu haben, der wird nach so manchem Seitenumblättern sich verschämt zurückziehen und ganz kleinlaut einen Trip gen Hamburg vorschlagen. Und dann kann er aber mal so richtig sein Wissen kundtun.

Golf von Neapel, Ischia-Sorrent-Capri-Amalfi

Neapel sehen und sterben – mehr als nur eine Floskel. Ja, man muss Neapel erlebt haben, um Italien zu kennen. Während man in anderen Regionen die Grandezza aufsaugen kann, brodelt es hier an jeder Stelle. Das liegt nicht allein am Vesuv, der, wenn er wieder einmal ausbrechen sollte, eine Katastrophe heraufbeschwören kann, die in Europa wohl einzigartig sein dürfte. Nein, es ist das stets vorhandene Vibrieren der Stadt am Golf. Es gibt drei Arten von Lärm: Das Timbre der Marktverkäufer und ihrer Kunden, das permanente Telefonieren und das Knattern der unzähligen Mopeds in der Stadt. Sie alle kreieren einen Klangteppich, auf dem man durch die Stadt schwebt. Der rustikale Charme der teils abgerockten Palazzi, die Fülle an Augenschmaus und Gaumenfreuden lassen den Gast Neapels schnell eintauchen in eine Stadt, die selbst in Italien als einzigartig gilt. Wo andernorts an den touristischen Hotspots die weltweit gängigen Geschäfte das Ursprüngliche verdrängt haben, dominiert hier das urtypische Handwerk. Im quartieri spagnoli – einem Viertel, vor dem noch vor wenigen Jahren vehement gewarnt wurde – kann man durch die geöffneten Türen so manchen Handwerker bei der Arbeit zuschauen. Auch ohne Italienischkenntnisse kommt man hier dennoch schnell ins Gespräch. Die schnelle Pizza auf die Hand, oder die typischen Sfogliatelle, eine schmackhafte Leckerei zwischendurch, gehören hier zum Straßenbild wie das liebevolle Ignorieren der roten Ampeln.

Das ist Neapel, das man getrost auch ohne Reisebuch erleben kann. Aber das ist eben nur eine Seite der drittgrößten Stadt Italiens. Als ehemalige Königsstadt bietet sie eine ungeheure Fülle an architektonischen Preziosen. Und fast immer mit dem Charme des benutzten Eigentums. Der Putz blättert von den Wänden, Funkeln und Strahlen findet man meist nur in sakralen Gebäuden. Und selbst da ist die Lichtstimmung düsterer als in den meisten Gotteshäusern. Es ist ein ganz besonderes Flair, das einen sofort einnimmt.

Reisebuchautor Andreas Haller sortiert die Sehenswürdigkeiten ein wenig vor. Das ist auch nötig, da vieles in Neapel schnell übersehen werden kann. Die Enge der Gassen, die Menschenmassen (beispielsweise in der Via San Gregorio Ameno, die Krippengasse, wo sich ein Krippenmacher an den anderen reiht – trotzdem unbedingt anschauen) – da kann es durchaus passieren, dass man mal ein bedeutendes Bauwerk an einem vorüberziehen lässt. Hier hakt das Buch ein. Kein noch so kleiner Ort, den man gesehen haben muss, weil er für Neapel so charakteristisch ist, bleibt unerwähnt. Inkl. Tipps wann man ihn besuchen sollte. Denn wenn die Massen erst einmal in Bewegung sind, kann man schnell auch mal eine zu lange Zeit in Warteschlangen verbringen.

Als Leseablenkung vom Überfluss der Stadt sind die typischen farbig markierten Kästen ein willkommener Ausflug in die Stadtgeschichte. Was steckt hinter dem maskierten Pulcinella? Und warum werden wo man steht und geht rote Paprikaschoten als Schlüssel- oder Kettenanhänger, von winzig klein bis zu gigantischen Ausmaßen angeboten? Curniciello – Glücksbringer, nicht nur für die Verkäufer.

Nun ist das mezzogiorno – auch diese Bezeichnung für den Süden des Stiefels wird ausgiebig erläutert – nicht nur Neapel. Ischia, Capri, Amalfi sind Sehnsuchtsorte, die jedem Klischee trotzen und es zugleich bedienen. Um nicht vollends jeder Tourifalle ins Netz zu gehen, empfiehlt es sich schon vor Reiseantritt in diesem Buch zu schmökern. Das geht, denn die dritte Auflage liest sich wirklich wie ein Roman, den man anschließend selbst nacherleben kann. Anfahrtswege, die schönsten Ausflüge und unerlässliche Tipps für den perfekten Urlaub (ob es nun der erste oder einer der zahllosen folgenden Tripps ist) lassen zuvor das Reisefieber steigen und vor Ort das Temperament den Gepflogenheiten anpassen.

Ein Reisebuch soll Appetit machen, einen sicher durch die Fremde leiten und die Vorfreude aufs Wiederkommen steigern. In diesem Fall gibt es nur ein Fazit: Volle Punktzahl, Ziel erreicht!

Principessa Mafalda – Biografie eines Transatlantikdampfers

Es waren einmal zwei Schwestern. Hübsch anzusehen, präsentabel herausgeputzt und elegant – so wie es sich für Königskinder gehört. Als die erste ihre ersten Schritte ins Leben wagte, kam sie ins Wanken, kippte links zur Seite und versank im Meer. Die zweite folgte ihr Monate später. Ihr glückte, was ihrer älteren Schwester nicht gelang. Unter dem Jubel der Zuschauer glitt sie ins Leben…

Ja, wenn die Geschichte der Schifffahrt ein Märchen wäre, so hätte sie an dieser Stelle ein Happy end. Der Stapellauf der Principessa Mafalda, benannt nach der Tochter des italienischen Königs lief im Oktober 1908 in Genua vom Stapel. Ein Jahr zuvor sank ihr Schwesterschiff Jolanda – auch nach einer Tochter von Vittorio Emmanuele III. benannt – gleich beim Eintauchen ins Mittelmeer. Mit der Principessa Mafalda sollte es möglich sein in reichlich zwei Wochen von Genua nach Buenos Aires fahren zu können. Das wollte sich kaum jemand entgehen lassen.

Während in der ersten Klasse die Überfahrt zu einer Dauerparty verkam, darbten die Massen auf den unteren Decks. Mitgebrachtes Essen wurde sparsam rationiert, während oben an Deck die Prosecco-Korken knallten. Die enorme Recherchearbeit von Stefan Ineichen führt dazu, dass man im Nu sich an Bord dieses Dampfers versetzt fühlt. Die zahlreichen Abbildungen untermalen das von ihm Geschilderte, und machen jede Seite zu einem Reiseerlebnis, das ebenso luxuriös ist wie es damals – vor hundert Jahren – gewesen sein muss.

Eine Reise über den Atlantik endet nicht mit der Ankunft im Zielhafen. Auch hier hält Stefan Ineichen so manche Anekdote parat. Wenn beispielsweise der sizilianische Autor Luigi Pirandello auf den damals unumstrittenen Star des Tangos Carlos Gardel trifft, dann vibriert die Luft im Künstlercafé der argentinischen Metropole.

Oft bleibt von den großen Schiffen der Vergangenheit nur der bittere Nachgeschmack der Katastrophe im Gedächtnis. So ist es leider auch in diesem Fall. Die Mafalda glitt nur zwei Jahrzehnte über die Wellen der Meere. Die letzte Fahrt endete abrupt vor der Küste Brasiliens. Eine Welle hatte sich selbständig gemacht und den Rumpf des Stolzes der italienischen Dampfschifffahrt beschädigt. Nur wenige Stunden nachdem der Schaden bemerkt wurde, sank das Schiff am Abend des 25. Oktober 1927 und riss mehr als tausend Passagiere und Crew in die Tiefen.

Die „Principessa Mafalda“ war als große Hoffnung für alle Beteiligten ins Leben gestartet. Für die meisten versprach das Ziel ihrer Reise ein besseres Leben. Für die Betreiber war es ein Vorzeigeobjekt. Dass dieser Ruhm nur eine kurze Zeit halten würde, war nicht beabsichtigt, vielmehr war der Fortschritt Antriebsmotor für weitere Dampfschiffe. Die Mafalda war kurze Zeit nach ihrem Stapellauf nur eines von mehreren Schiffen, die der Mafalda in Sachen Eleganz und Ruhm allerdings nicht das Wasser reichen konnten. Ob die Mafalda ohne ihr ungeheuerliches Ende noch heute so dermaßen die Gemüter bewegen würde, kann man nicht sagen. Was aber auf alle Fälle stimmt, ist die Tatsache, dass durch Bücher wie dieses die Legende niemals untergehen wird.

Das Land am anderen Ende des Meeres

Oft hört man Schauergeschichten wie in vergangenen Zeiten Männern eines über den Schädel gezogen wurde, und sie sich dann später mit Schmerzen im Oberstübchen auf hoher See wiederfanden. Sie waren Matrosen wider Willen. Hans, ein Junge Papenburg soll auch mal zur See fahren. So will es die Mutter. Er soll mal Kapitän werden. Nicht Fabrikarbeiter wie der Vater. Alt genug ist er nun – ein Teenager, aber zu Beginn des vorigen Jahrhunderts durchaus üblich. Doch der Lütte ist zu klein. Ein paar Zentimeterchen fehlen. Trotzdem muss der Junge was zum Unterhalt beisteuern – darin sind sich Vater und Mutter einig.

Kurze Zeit später ist es dann soweit. Die weite Welt wartet auf Hans. Er wird auf große fahrt gehen, wird Länder sehen, die seine Eltern, seine Nachbarschaft, der Großteil der Menschheit niemals im Leben sehen wird. Doch was heißt hier Leben?

Als seine Eltern beschlossen, dass der Bengel arbeiten muss (bis ihn die Seefahrt für sich entdeckt), schuftet er auf der Werft. Nieten fangen. Glühend heiße Eisenteile. Dass einem derart unerfahrenen Menschen dabei Fehler passieren, ist vorhersehbar. Doch es härtet ihn ab. Auch wenn er das erst viel später merken wird.

Nun ist er von Gischt umgeben, schindet sich, wird geschunden. Von der Schönheit der Welt kann er kaum etwas wahrnehmen. Und Hans wird viel sehen. Die Kontinente, die Länder, die Häfen werden zu seinem Zuhause. Nicht immer die wohnlichste Stube, niemals das bequemste Bett und schon gar nicht das Glück der Familie. Bis zu dem Tag als er Alicia trifft.

Zum ersten Mal in seinem Leben hat er einen Hafen angelaufen, der wirklich Heimat bedeuten könnte. Doch wie heißt es so schön: „Deine Heimat sind die Meere“. Eine Liebe, die zum Scheitern verurteilt ist?

Jürgen Rath hatte vor Jahren einen alten Seebären interviewt. Nicht lange, nicht ausgiebig. Dennoch genug Stoff für den Historiker mit Kapitänspatent, um nun endlich diesen Roman mit biographischem Hintergrund fertig zu stellen.

Von Anfang an faszinieren die detailreichen Darstellungen, die gar keinen anderen Schluss zulassen, dass hier ein echter Kenner der Materie seine Finger im Spiel hat. Und man merkt sofort, dass Kapitän i.R. Rath wohl keiner der Menschenschinder war, denen so manches Abenteuer zugrunde liegt. Ein echter Seefahrerroman mit einem ganz dicken Anstrich Menschlichkeit. Und wem das Fernweh nicht ganz fremd ist, wird sich von Seite zu Seite durch dieses Leben fressen als wenn es kein Morgen gibt!

Única blickt aufs Meer

Es gibt weiß Gott schönere Handlungsorte für Romane als eine Müllhalde in Costa Rica. Die ist real, Gran Área Metropolitana von Río Azul. Jahrelang rannten sich die Verantwortlichen die Köpfe gegenseitig ein, um dem Problem Herr zu werden. Zurückblieben klaffende Wunden und … der Müllberg.

Hier „lebt“ Única. Sie ist Taucherin. Ein Euphemismus, der am Zynismus nicht zu überbieten ist. Sie taucht im Müll der Stadt, des Landes, des Kontinents nach etwas Verwertbarem. Die Floskel „von der Hand in den Mund“ ist für sie existenzieller als für Andere. Den Regenbogen kennt sie nur als Schimmer in versuchten Pfützen. Nein, sie ist nicht glücklich. Und schon gar nicht zufrieden mit dem Wenigen, das sie hat. Das sind illusorische, perfide Urlauberweisheiten, denen es zu viel ist gründlich nachzudenken. Niemand ist zufrieden, wenn sich Träume am Materiellen festmachen lassen können.

Única lebt in ihrer Welt. Sie kreiert sich ihre Welt. Eine Welt, die auf Zwang und Drang basiert. Sie muss im Dreck wühlen, um überleben zu können. Ohne den Dreck unter den Fingernägeln (eines ihrer geringeren Probleme) ist die Basis keinen Hunger erleiden zu müssen. Única war einst Lehrerin. Schon allein deswegen wird sie von vielen hier respektiert. Immer, wenn sie Hilfe braucht, bekommt sie sie auch. Alle geben ihr Ratschläge. Spende ihr Trost, wenn ihr beispielsweise der Zugang zur Kirche verwehrt wird. In diesem Moment, als der Pfarrer ihr unmissverständlich klar macht, wer hier auf Erden das Sagen hat (kleiner Tipp: Es ist nicht Gott!), wird sie sich ihrer Situation bewusst. Sie ist Abfall. Umfeld, Arbeit, Person verschmelzen in diesem Moment zu einer unsichtbaren Masse.

Única lebt am Rande der Gesellschaft und schafft sich mit ihren Leidensgenossen eine eigene Gesellschaft. Man teilt, was man teilen kann. Selbst die Zahnbürste. Das hat Única eingeführt. Sie und die Anderen leben in ihrer Welt, aus der sie wohl niemals fliehen können werden.

Fernando Contreras Castro gibt denen, die wirklich auf dieser Müllinsel, auf dem Müllberg, im Dreck ums Überleben kämpfen müssen eine Stimme. Man darf nicht den Fehler machen und die große Erzählkunst des Autors mit romantisieren verwechseln. Keine Frage, jeder will hier raus. Doch das kostet. Wie aber soll jemand bezahlen, der selbst nicht bezahlt wird?! Es gibt ein Entkommen aus dieser Hölle. Doch ist der Preis dafür für fast alle einfach zu hoch. „Única blickt aufs Meer“ pendelt zwischen lauter Anklage und leiser Verzweiflung hin und her. Alle wissen, dass lauter Wehklagen keinen Sinn macht. Man muss selbst anpacken und schauen, dass der Tag mit einem Lächeln zu Ende gehen kann. Jede Träne ist eine Träne zu viel. Der Wille zum Überleben überwiegt jeden Rückschlag.

Ein Leben in Geschichten

Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt eine Biographie zu schreiben? Manch einer schreibt sein Leben lang daran. Die Tagebücher werden dann posthum als Sensation angepriesen – Nachfragen sind in diesem Fall nicht mehr möglich. Donna Leons Leserschaft, die seit Jahrzehnten davon träumt beim romantischen Spaziergang durch das romantische Venedig einmal doch Commissario Guido Brunetti zu treffen, stellt sich sicherlich schon länger die eine oder andere Frage. Und sicherlich nicht die, warum der Commissario in den Büchern Dauergast in den Straßen und Gassen der Lagunenstadt ist und im „wahren Leben“ ihn niemand zu Gesicht bekommt. Nein, Donna Leon ist vielen ein willkommenes Familienmitglied, dessen Besuch (Veröffentlichungstermin des neuen Romans) immer entgegengefiebert wird. Und über die Familie weiß man alles. Und wenn nicht fragt man einfach nach. Doch wie fragt man eine Schriftstellerin, die zwar nicht zurückgezogen, dennoch nicht permanent öffentlich lebt?

Es ist so einfach! Man blättert in „Ein Leben in Geschichten“ – ein Titel, der so unscheinbar und unnahbar daherkommt, dass man bei genauerer Betrachtung darin die Autorin wiedererkennt.  Die Idee einmal von Brunetti abzulassen und sich selbst in den Fokus zu stellen, ohne dabei Schatten auf die Umstehenden zu werfen, kam ihr bei einem Treffen mit einem langjährigen Freund, den sie auch ihrer Zeit im Iran kannte. Alte Zeiten aufleben lassen, Freundschaften in Erinnerung rufen, herumalbern – und als Resultat daraus ein Buch. Typisch Donna Leon? Typisch Donna Leon!

Und im Nu reihte sich Geschichte an Geschichte. Von der beim Bridge schummelnden Tante Gert über die geheimnisvolle Herkunft ihres Großvaters bis hin zu dem Tag als Venedig nicht mehr nur eine Stadt mit Existenzproblemen war, sondern der Ort, der ihr ganzes Leben verändern würde. Mit derselben Hingabe wie zu ihrem Commissario und seiner Stadt gibt Donna Leon Auskunft über ihr Leben. Auch ohne groß zwischen den Zeilen lesen zu müssen, offenbart sie „so ganz nebenbei“ wie sie wurde, wer sie ist. Auch wenn viele Ereignisse schon lange zurückliegen – wer erinnert sich mit Achtzig schon noch so detailliert an den ersten Schultag? – sind sie immer noch so präsent, dass man den Dung auf den Feldern, die Angst vor Entdeckung und die Leidenschaft fürs Lesen (und Schreiben) greifen kann.

Persönlicher geht nicht! Donna Leon teilt das Kostbarste, was sie besitzt: Ihre Erinnerungen. Kurzweilig, humorvoll, ehrlich. Und immer mit dem besonderen Kick, der Donna Leon so erfolgreich werden ließ.