Archiv der Kategorie: Meeresrauschen

Schaurig-schönes Europa

Wenn der Urlaub etwas ganz Besonderes werden soll, dann sind außergewöhnliche Orte das Salz in der Traumsuppe dieser Erinnerungen. Die Bilder, die man sich selbst in diese Erinnerungen pflanzt, müssen einem ganz bestimmten emotionalen Bild entsprechen. Auch wenn sie nur für den Bruchteil einer Sekunde vor dem Auge erscheinen oder für die Dauer eines Spazierganges existieren. Mit allen Sinnen wird dieser Moment für Ewigkeit festgehalten.

So wird man beispielsweise in Craco in der Basilikata im Süden Italiens, nahe der Felsenstadt Matera, auf einen Ort treffen, aus dem das Leben schon vor einem halben Jahrhundert geflohen ist. Oder besser gesagt, es wurde aufgegeben als Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach einem Erdrutsch es als zu gefährlich angesehen wurde hier weiterhin zu leben. Zuvor lebten hier mehr als tausend Jahre Menschen. Heute erinnern nicht einmal mehr Glasscheiben an eine Zivilisation. Dass hier ein Leben möglich war, ist dennoch nicht wegzudiskutieren. Straßen und Gassen existieren noch. Auch die Raumaufteilung der Häuser ist noch klar erkennbar. Umgestürzte Möbel verweisen auf ihre ehemaligen Bewohner. Und dennoch herrscht hier eine gespenstische Ruhe. Ein verlassener Ort, der einem den Schauer über den Rücken jagen kann.

Brodelnd und voller Leben – dennoch nicht minder lost place – ist der Rio Tinto in Andalusien. So ein Rot in einem Fluss hat man noch nie gesehen. Baden ist nicht ratsam. Der Sauerstoffgehalt ist zu gering, der Säuregehalt hingegen um ein Vielfaches zu hoch. Optisch ist der Fluss ein Augenschmaus und trägt sicher dazu bei sich auch noch Jahre später genau an das meiste zu erinnern.

Über glasklares Wasser schwebt man förmlich im Höhlensee von Tapolca, nördlich des Balatons. Auch hier fühlt man sich wie in einer fremden Welt. Prächtige Farbenspiele, gespenstische Ruhe und alles unter der Erde. Das Höhlensystem ist vulkanischen Ursprungs und kann heute recht gemütlich bereist werden.

„Schaurig-schönes Europa“ ist ein Reiseband, der bei jedem Umblättern das Reisefieber steigen lässt. Stimmungsvoll in Szene gesetzt und mit verheißungsvollen Texten gespickt, macht dieses Buch Appetit auf echte Abenteuer.

Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Das Fest

Das Pendizack an Cornwalls Küste ist ein Prachtstück von einem Hotel. Die Gästeliste ist es auch – nur Prachtstücke. So wie Mrs. Gifford. Sie kündigt postalisch ihre Ankunft nebst Gatten per Automobil an. Die Kinder reisen im Zug. Sofern sich die Anreise der Giffords verzögern sollte, bittet sie darum die Kinder schon mal zu Bett zu schicken. Und gibt sogleich noch eine Liste mit auf den Weg mit Dingen, die sie essen darf (sehr erlesen) und Dingen, die ihr auf den Magen schlagen (eher das „gewöhnliche Essen“). Ansonsten schmeichelt sie den Besitzern noch ein wenig und hofft sich im Hotel von einer Krankheit schnellstmöglich zu erholen. Wenn die wüsste … meint man, wenn man den Klappentext gelesen hat. Denn der August 1947 hält für die anwesenden Bewohner des Pendizack eine krachende Überraschung parat. Ein paar Monate zuvor wurde eine Mine angeschwemmt. Sie explodierte, richtete aber weniger Schaden als es im ersten Moment aussah. Im zweiten Moment sind die Beschädigungen so gravierend, dass die Klippe, aus dem das Hotel steht, abbricht und das Hotel mit sich reißt. Samt aller Anwesenden, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Gebäude aufhielten. Angestellte und Gäste gleichermaßen. Da macht das Schicksal keinen Unterschied!

Und dennoch gibt es Gäste, die „nur“ den Verlust ihres Gepäcks zu beklagen haben. Denn sie waren zu eben dieser Zeit bei einem Fest. Während man sich berauschte, rauschte in geringer Entfernung das Hotel in die Tiefe und begrub alles Lebendige unter seinen Trümmern.

Kann das Zufall sein? Wenn ja, warum haben dann so viele skurrile Persönlichkeiten im Hotel eingecheckt, das bis vor Kurzem noch zu viele freie Zimmer hatte? Anne Lechene, eine Schriftstellerin, die sich ihres Rufes durchaus bewusst ist, samt Chauffeur. Mr. Waxton, ein Geistlicher, der eher der dunklen Seite der kirchlichen Macht angehört – so scheint es – samt Tochter Evangeline. Die Pendizacks nicht zu vergessen. Das alte Herrenhaus haben sie vor nicht allzu langer Zeit zum Hotel umgebaut. So wollten sie das Studium ihrer Zöglinge finanzieren.

Hotels – besonders die mit einer besonderen Klientel – haben einen besonderen Charme. Hier herrschen andere Regeln als im Bed & Breakfast. Man will unter sich sein. Mrs. Gifford bevorzugt beispielsweise das Essen im eigenen Gemach einzunehmen, um die anderen Gäste nicht mit ihrem besonderen Geschmack zu belästigen.

Das Haus an den Klippen ist speziell, so wie seine Gäste. Und nun ist es noch spezieller, weil es zertrümmert die Klippen von Cornwall verschandelt. Und zahlreiche Gäste unter sich begrub. Und vielleicht sogar so manches Geheimnis…

Margaret Kennedy schlägt klangvoll die ganz große Pauke der Andeutungen und Verdächtigungen. Sie sind weithin hörbar, nur die Melodie ist schwer zu greifen. Welches Lied singt diese Tragödie in den Meereswinden? Diese Buch ist nicht mehr und nicht weniger als das, was es vorgibt zu sein: Ein Fest!

Italiens Provinzen und ihre Küche

Schon beim Erblicken des Titels weiß man, das kann nur gutgehen. Und dieses Vorurteil wird auf den folgenden 160 Seiten ein ums andere Mal bestätigt. Denn Italien und Essen – das passt wie Roma e storia und  Napoli e vesuvio. Dolce vita zwischen zwei Buchrücken, mit Gaumenfreuden alla nonna. Davon kann man nie genug bekommen!

Das hat sich auch Alice Vollenweider gedacht. Und räumt mit dem Vorurteil auf, dass nur Pasta und Pizza auf dem Stiefel auf die Teller kommen.

So unterschiedlich die Regionen sind, so unterschiedlich sind auch die kulinarischen Gepflogenheiten. Im Laufe der Zeit hat sich sogar der vino zur Pizza in eine gepflegte Hopfenkaltschale verwandelt. Ja, mittlerweile hat der Bierkonsum den Weinverzehr überholt. Das aber nur als Randnotiz für all diejenigen, die mit offen stehendem Mund und stotternder Stimme in bella italia sich entrüsten wollen, dass der Traubensaft so sehr nach zuhause ausschaut…

Liest man das Buch nun mit oder ohne Lätzchen? Das muss jeder für selbst entscheiden. Wer jedoch bei Minestra di fagioli (Triestiner Bohnensuppe), Conchiglie e broccoli (Teigmuscheln mit Broccoli) oder Torta di ricotta (muss man wohl nicht übersetzen) ein leichtes, freudiges Grummeln in der Magengegend verspürt, sollte vorsorgen.

Denn es geht weiter. Region für Region, vom Trentino bis Sizilien, von Venetien bis Sardinien reicht die Menükarte. Und auf ihr hinterlassen Kalb, Hühnerleber und Kaninchen einen leckeren Nachgeschmack.

Schon beim Lesen fällt auf, dass es zwischen den Regionen sehr wohl gewaltige Unterschiede gibt. Während im Norden Polenta auf den Tisch kommt, vertreten Makkaroni bei einer Blindverkostung eindeutig Sizilien.

Neben den Unterschieden verbinden aber auch – zwischen den Zeilen – die Gemeinsamkeiten die cucina italiana. Wo andernorts mächtig Butter verwendet wird, schwören italienische Köche auf Olivenöl. Die barbarische Verwendung von Butter – die ersten italienischen Einwanderer in Deutschland staunten nicht schlecht wegen der Brocken Butter in deutschen Tiegeln – wird hier niemals das reine Öl ersetzen.

Wer Italien liebt, tut dies auch wegen der kulinarischen Entdeckungen. Dieses Buch strotzt nicht nur wegen der einfühlsamen Beschreibungen der Küche Italiens, sondern punktet nicht zuletzt wegen der enormen Anzahl an leicht nachzukochenden Rezepten. Achtundachtzig an der Zahl – und jedes einzelne ein Stück Italien. Buon appetito!

Lesereise Nordirland

Hausboot, Straßenkämpfe, Gartenparadies – auf den ersten Blick eine allzu willkürlich und stark verkürzte Beschreibung dessen, was den Leser in diesem Buch erwartet. Hinzufügen sollte man noch, dass die Autorin Stefanie Bisping regelmäßig auf dem Treppchen bei der Wahl zur Reisejournalistin des Jahres landet. Gold ist ihr näher als Silber. Und somit führt sie den Spruch, dass Schweigen Gold ist, ad absurdum.

Denn Stefanie Bisping schweigt nicht. Sie genießt das Reisen, aber sie schreibt auch darüber und lässt in diesem Fall jeden Wissbegierigen an einem Land teilhaben, das vielleicht immer noch einen Dornröschen-Dämmerschlaf frönt. Noch!

Der Name der nordirischen Hauptstadt Belfast ist ebenso eng mit der Titanic verbunden. Hier wurde das Rekordschiff gebaut, bevor es Monate später nicht minder rekordverdächtig in den Tiefen des Atlantiks versank. In Belfast erinnert heute ein gigantischer Titanic-Komplex an die Katastrophe, aber auch an die Schiffsbautradition der Stadt. Inkl. Kongress-Center, Pubs und natürlich dem größten Titanic-Museum der Welt. Erstaunlich, was an Wissen noch alles aus dieser Geschichte herauszuholen ist. Stefanie Bisping kitzelt wirklich das letzte unveröffentlichte Geheimnis aus dem Gebäude.

Belfast ist aber auch eine der wenigen Städte mit einer Mauer. Während man in Berlin dem antifaschistischen Schutzwall nur noch mit touristisch weit geöffnetem Maul entgegensteht, ist hier die Mauer tatsächlich immer noch Mittel zum Zweck (der Trennung). Und die alljährlichen Umzüge in Orange verleiten diejenigen, denen das Orange ein Dorn im Auge ist, dazu, dass man in die Sommerfrische flieht. Auch eine Art der Konfliktlösung, und nicht die Schlechteste.

Eine Flucht nach Vorn hat auch ein Gärtner angetreten, den die Autorin begleitete. Eigentlich wäre er längst im Ruhestand. Doch die Liebe zu Gärten und Pflanzen ließ ihn das süße Leben vergessen, und er trat einmal mehr in den floralen Dienst ein.

Große Geschichte und kleine Geschichten hat Stefanie Bisping gefunden, oder sie ließen sich von ihr finden. Immer wieder staunt man über jede einzelne. Und man möchte sofort selbst auf die grüne Insel fahren, wo immer noch tagein tagaus Traditionen gelebt werden. Das beginnt nicht erst bei Halloween und hört noch lange nicht beim Bier- und Whisky-Trinken auf.

Die Flucht der Dichter und Denker

Es gab nicht viele, die mit dem 1979 veröffentlichten Disco-Hit der Village People „Go West“ etwas anderes verbanden als die sagenumwobene Freiheit in San Francisco. Es gab eine Zeit, in der Go West der einzige Weg war, um überhaupt gehen zu können. Es gab zu viele, die diesen steinigen Weg gehen mussten.

Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, gab es nicht wenige, die es für eine Frage der Zeit hielten bis der Spuk vorbei sei. Aber es gab auch die großen Mahner, die die dunklen Wolken nicht mehr nur am Horizont verorteten. Eine Massenflucht der Intellektuellen, Künstler, der Elite rollte an. Erst Frankreich, dann Spanien als Transitland nach Portugal. Dort wartete der erhoffte Dampfer in die USA. Hier war die Freiheit wohl grenzenlos. Dass dem nicht immer so war, erfuhren sie erst hinterher. Auch Jahre nach dem braunen Spuk wurden Widerständler unter der Fuchtel von Senator McCarthy mit Argusaugen beobachtet, bespitzelt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Der Weg, die Strapazen, die die Flüchtigen – Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – sind oft beschrieben worden. Genauso oft aber blieben noch einige Fragen offen. Warum und an welchem Zeitpunkt wurde die Route bestimmt? Gab es Helfer? Herbert Lackner gibt in diesem Buch einige Antworten, die man so noch nie oder nur in Nebensätzen gelesen hat.

Es liest sich wie ein Krimi, wenn man von dieser Hetzjagd liest. Menschen, denen das Wohl eines ganzen Landes am Herzen lag, die sich zeitlebens der Kunst verschrieben hatten, die in ihrem Tun die Gegenwart als Basis ihres Schaffens verstanden, wurde die Lebensgrundlage entzogen. Ihr Freundeskreis war zersplittert, in alle Richtungen verstreut. Wiedersehen gab es nur sporadisch – umso heftiger die Freude. Denn überall lauerte Verrat. Misstrauen und Verzweiflung zerrütteten Allianzen.

Mit jedem Schritt gen Westen – im Osten lauerte Stalin, in Holland und Belgien war es ebenso unsicher wie im größten Teil Frankreichs und in Spanien warteten willfährige Helfer Francos auf fette Beute – wuchs die Hoffnung bald schon wieder einem halbwegs geregelten Tagwerk nachkommen zu können. Nicht jede Flucht war erfolgreich. Und die ersehnte Freiheit war auch nicht immer am ganzen Leib spürbar.

Man stelle sich vor wie die deutsche Kulturlandschaft heute aussehen würde, wenn die in diesem Buch so eindringlich beschriebenen Fluchtrouten nicht nötig gewesen wären…

Die Landschaft hat immer recht

Was für ein Titel – „Die Landschaft hat immer recht“. Auf dem Cover ein einsames Haus und jede Menge Meeresgetier. Schon allein dieses Bild erweckt im Leser eine Vorstellung von dem, was ihn erwarten wird, schlägt er die erste Seite auf.

Doch es kommt ganz anders. Oder besser: Es wird ihn umhauen! Denn – ja, es geht um Fischer und ihre Einsamkeit in der selbst für isländische Verhältnisse trostlosen Gegend – hier kommt eine geballte Ladung Energie auf den Leser zu. Das mag auf den ersten Blick missverständliche aussehen. Halldor ist der Fischer, um den es geht. Er lebt in einem Fischerwohnheim. Hier leben tatsächlich nur Fischer – noch. Man vertreibt sich die zeit mit Spielen, Geschichten von der Arbeit und den Fragen des Lebens wie „Sind Schafe Engel?“. Für die Schönheit der Landschaft hat man wenig übrig. Das Augenmerk der Männer, die in diesem Fischerwohnheim leben, ist in die andere Richtung gerichtet. Aufs Meer. Immer den Horizont im Blick. Und die Fischernetze. Schließlich geht es um den Fangerfolg. Und doch spürt jeder, das hier was fehlt. Ohne es auszusprechen. Wenn sie sprechen, dann ist das Gesagte roh und unverschnörkelt. Eine Frau passt hier nicht rein.

Und trotzdem passiert das Unerwartete. Eine Haushälterin tritt über die Schwelle. Per Annonce hat man sie gesucht – und scheinbar auch gefunden. Halldor spürt mit einem Mal, das noch mehr als Fischer, Netze, Erfolge, Spiele, Zänkereien sein Leben ausmachen. Hier ist etwas im Gange, das er zwar kennt, aber noch lange nicht weiß wie er damit umzugehen hat.

Bergsveinn Birgisson ist ganz behutsam, um die Stille der Einsamkeit nicht zu stören. Auf sanften Pfoten schleicht ums Haus, um die Bewohner und zwickt sie in ihr Gewissen.

Nicht erst beim Zuklappen des Buches ist man baff erstaunt wie ruhig eine so aufwühlende Situation beschrieben werden kann. Wie in einem Meditationsritual führt der Autor den Leser durch seine Geschichte.

Die Versuchung von Syrakus

Reiseimpressionen sind immer ein Appetitmacher auf ein Reiseziel, bei dem man sich entweder nicht sicher ist, ob es das richtige ist oder sie sind der Tropfen, der das Fass der Sehnsucht zum Überlaufen bringt. Oft spaziert man neben dem Autor einher und nickt zustimmend – Ja, das sehe ich genau so. Und dann gibt es Reiseimpressionen, die packen einem am Schlafittchen und treiben einen in den Wahnsinn. Warum nur war ich nicht schon früher hier? Was habe ich schon alles verpasst? Wie um alles in der Welt konnte ich nur so lange warten? „Die Versuchung von Syrakus“ gehört eindeutig in die letzte Kategorie, wenn dieses Buch nicht sogar diese Kategorie auf ein neues Level hebt.

Joachim Sartorius, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele verbringt einen großen Teil seines Lebens in Syrakus aus Sizilien. Wie viel andere auch. Er muss also wissen, was man in der Stadt sehen muss, was sie erlebbar macht. So wie viele andere auch. Doch er schafft mit einer Leichtigkeit dem Leser, dem Sehnsüchtigen diese Stadt schmackhaft zu machen, dass man sich gar nicht getraut zur Serviette zu greifen und sich den Sabber vom Mund zu wischen.

Selbst so eine profane Handlung wie zum Friseur zu gehen, wird zu einer Sache, die man seiner To-Do-Liste unbedingt hinzufügen muss. Wer bisher dachte, dass sich der Ruhm der Stadt einzig allein auf „Heureka-Ich-Hab’s“-Archimedes gründet, wird schnell eines anderen belehrt. Einmal mit Joachim Sartorius durch de engen Gassen der Altstadt zu wandeln, gleicht einer 3D-Animation, in der man sich wie im bequemsten Federbett fühlt. Ortigia, die Altstadt, ist auf einer Insel der Stadt vorgelagert. Sie zu umlaufen, dauert nicht lang. Sie in sich aufzusaugen, ist eine Lebensaufgabe. Einen umfassenden Vorgeschmack bekommt man hingegen auf den reichlich einhundertsiebzig Seiten dieses Buches. Immer wieder streut der Autor kleine Anekdoten ein, verweist auf Eisdielen, Orte zum Erholen und Staunen und richtet den Blick auf großes Offensichtliches und die Kleinigkeiten, die zu einem Giganten anwachsen, wenn man sie entdeckt.

Bei jedem gelesenen Kapitel, bei jedem Umblättern möchte man einen Freudentanz aufführen, weil man sich nun zu hundert Prozent sicher sein kann, dass man den Besuch von Syrakus mit einem echten Kenner in der Hand vollends genießen kann.

Das Sizilien des Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Es ist die Schlussszene des Films „Der Leopard“, der die Faszination dieses Epos ein ums andere Mal zu übertreffen scheint. Die versammelte Gesellschaft gibt sich im Reigen dem eigenen Verfall, des Wegschauens und Wegduckens hin. Man ist höflich-höfig distanziert. Man kennt sich, weiß wen man mag und braucht. Bloß nicht verändern. Opulente Ausstattung, begnadete Schauspieler, eindringliche Bilder.

Doch ist das das Sizilien, das den Besucher mit überbordender Wärme empfängt? Ja. Nur anders. Im Film, und vor allem im Buch ist es ein Sizilien, das von einem Mann beschrieben wird, der genau in diesen Kreisen erwachsen geworden ist. Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte zum Hochadel der Insel. Als er geboren wurde, war Italien schon eins. Zumindest auf dem Papier. Die Vielstaaterei war „nur noch in den Köpfen“. Aber da saß sie noch fest im Sattel.

Autor Jochen Trebesch begibt sich auf Spurensuche. Bis ins kleinste Detail seziert er den Werdegang des großen sizilianischen Schriftstellers, der immer noch mit nur einem Roman ein Ganzes abbildet, das bis heute ein Rätsel bleibt. Sizilianer als stur und veränderungsunwillig abzutun, träfe niemals komplett den Kern. Sofern dem Unterfangen Sizilien umfassend zu verstehen überhaupt Erfolg beschieden werden kann.

Immer tiefer taucht mit dem Text in ein Leben ein, das so weit entfernt liegt wie Schneesturm in Palermo. Und immer verfestigt sich der Gedanke, dass das Leben des Schriftstellers mehr Symbolgehalt hat als man anfangs dachte. So vollzieht sich im Laufe des Lesens ein Sinneswandel. Der goldene Löffel, der dem kleinen Giuseppe schon in der Wiege im Mund steckte, versperrte ihm nicht die Sicht auf die Umwälzungen, die seinem Land bevorstanden. „Il Gattopardo“, wie „Der Leopard“ im Original heißt und auf das Wappen der di Lampedusa zurückgeht, ist die perfekte Symbiose von erstarkender Vorstellungskraft und Biographie der eigenen Familie.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Angelika Fischer. Die Wahl für Schwarz-Weiß hätte nicht besser sein können. Denn nur so kommen die Kontraste erst zur Geltung. Kein quitschbunter Farbenrausch, der die Stimmung ins gewöhnliche rauschen lässt. Sondern konzentrierter Fokus auf das Objekt. Das Buch mag auf den ersten Blick dünn erscheinen. Doch sein Inhalt ist lehrreicher als so mancher Pageturner, der nach 500 Seiten nur noch als dekorativer Schnickschnack im Bücherregal herhalten kann.

Napoli: zwischen Feuer und Wasser

Quadratisch, praktisch, gut – nein, Napoli kann man wirklich nicht mit diesen Worten beschreiben. So quirlig wie die Stadt ist, kann man sie in keine geometrische Form pressen. Ebenso wenig kommt man um den Begriff chaotisch nicht herum. Doch was heißt schon chaotisch, wenn das Ergebnis schlussendlich mehr als zufrieden stellend ist.

Ruprecht Günther portraitiert die Stadt am Fuße des Vesuv mit zwei lächelnden Augen. Man merkt es den Bildern an, dass er sich beim Blick durch den Sucher das Zusammenkneifen des anderen Auges ehrlich verkniffen hat.

Tief religiös, launisch, befreit, bedächtig, lebensfroh – die Liste der Attribute, die diese Stadt beschreiben ließe sich endlos fortsetzen. Und zu jeder dieser Charaktereigenschaften verführt er den Leser / Betrachter zu Schwärmereien. Graffiti des Komikers Toto, ein Prinz, der der Stadt mit seinem Humor im napolitanischen Dialekt eine weithin vernehmbare Stimme gab, folgen Bilder von prall gefüllten Marktständen, grandiose Stadtansichten, die anschließend von zarten Portraits der Bewohner eine Stille erzeugen, die man in der Stadt nur selten erlebt.

Zum Stadtbild gehören auch – zu jeder Jahreszeit – die über die engen Straßen gezogenen Wäscheleinen, die nur darauf warten ein buntes Farbenmeer in den dichten Häuserdschungel zu zaubern.

Wer Napoli kennt, erkennt die Entstehungsorte der Bilder wieder. Sie rufen Erinnerungen wach und nähren die Sehnsucht bald schon wieder zurückzukehren. Die kurzen Texte im Buch unterstreichen die Herzlichkeit der Menschen der Stadt und legitimieren die Fotos als Alltagsschnappschüsse, und nicht als Zufallsprodukte eines Momentes. So ist Napoli, so wird es immer bleiben.