Archiv der Kategorie: Davids Sterne

Schwarzer Stern

Aus dem Schlaf gerissen zu werden, bringt das Blut in Wallung. Doch wenn Soldaten mit Waffen in die Wohnung eindringen, wo man als Hausmädchen arbeitet, die eigenen Kinder von den Eindringlingen wie Dreck behandelt werden, alle auf einen Laster verladen werden, ist ein unsanftes Aufgewecktwerden wie eine Wohltat.

Sidonie stammt aus Martinique und arbeitet bei den Dubreuils in der Nähe von Bordeaux als Hausmädchen. Sie sind ihre zweiten Eltern, die sie mitgenommen haben als sie von Martinique nach Frankreich zurückkehrten.

Die Dubreuils sind Juden – es sind die 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen diese Geschichte spielt. Der Laster, in den Sidonie und ihren Kinder Nicaise und Désiré verfrachtet wurden, hat ein unheilvolles Ziel: Ravensbrück, das KZ Ravensbrück. Das Schicksal der Dubreuils ist vorbestimmt worden. Für die Ruhestörer sind Juden und Neger nur Schweine. Sidonie weiß, was mit ihr passieren kann, sie hat davon gehört. Was ihr tatsächlich passieren wird, kann sie tatsächlich nicht einmal erahnen. Nur, dass ihr Leben wie sie es kannte, vorbei ist. Nicht mehr mit Madame Dubreuil in der Küche stehen und ihr die Geheimnisse der kreolischen Küche beibringen. Das selbst genähte Kleid für Nicaise – ob sie es an ihrem sechsten Geburtstag tragen kann?

Sidonie ist keine Jüdin, sie ist Katholikin. Das interessiert die Soldaten nicht im Geringsten. Das Freundlichste – sofern es das überhaupt gibt – ist das Lachen wegen ihrer Hautfarbe. Aber das ist nicht einmal ein schwacher Trost, es ist gar kein Trost.

Im Lager wird Désiré von Sidonie und Nicaise getrennt. Von anderen Insassen weiß Sidonie, dass ihr Sohn in einer Männerbaracke untergebracht wurde. Aber das beruhigt die junge Mutter nur ansatzweise. Denn der Mann, bei dem ihr bald einziges Kind unterkommt, ist der Mann, bei dem sie untergekommen war, der ihr eine Zukunft bieten konnte: Monsieur Debreuil. Er trägt immer noch den gelben Stern. Fast wünscht sie sich einen schwarzen Stern zu tragen…

Michèle Maillets „Schwarzer Stern“ ist eine fiktive Geschichte, die jedoch auf historischen Fakten basiert. Sidonie steht für eine Gruppe von Menschen, deren Schicksale bis heute nicht komplett aufgeklärt, geschweige denn aufgearbeitet wurden. Schwarze Haut in brauner Zeit – das war die Hölle. Sidonie kann sich an ihrem versteckten fiktiven Notizbuch/Tagebuch festhalten. Sie erinnert sich an Saint Pierre auf Martinique. Die Düfte, die Musik, die Lebensfreude. Das alles wird sie nie mehr wieder sehen. Die Kraft der Worte, die Michèle Maillet findet, ist das Stärkste, was man Rassismus und blindwütigen Vorurteilen entgegensetzen kann, ja sogar muss. Das Traurige daran ist, dass man es bis heute tun muss. Selbst Bücher wie „Schwarzer Stern“ haben Ressentiments gegenüber anderen Hautfarben, Religionen und Lebenseinstellungen nicht komplett aufheben können. Aber sie sind die permanenten Nadelstiche im Fleisch des Hasses. Davon kann es niemals genug geben!

Christian Voß und die Sterne

Es ist noch lange nicht alles geschrieben worden über die dunkelste Zeit in Deutschland, Europa und der Welt. Vieles wurde schon veröffentlicht, geriet aber im Laufe der Jahre wieder in Vergessenheit. Und manches wird durch unermüdliche Recherche und Beharrlichkeit wieder ins rampenlicht gezogen. So wie „Christian Voß und die Sterne“. Gut so!

Europas Himmel ist vom Pulverrauch in ein tiefes Grau getaucht. In Deutschland gibt es zwar noch so etwas wie ein „normales Leben“, doch das hat so gar nichts mit dem zu tun, was heutzutage als „normal“ angesehen wird. Juden dürfen nicht mehr arbeiten, nicht mit der Straßenbahn und Bussen fahren. Es gibt reglementierte Einkaufszeiten. Sie müssen einen Stern tragen. Sie werden schikaniert, verprügelt, in die Vernichtungslager geschickt. Nein, ein Alltag ist das nicht. Die permanente Angst gibt vielen Anlass sich das Leben zu nehmen oder es vorzugaukeln.

Das Landei Dr. Christian Voß aus dem Mecklenburgischen lebt seit ein paar Jahren in Berlin. Er hat seinen Frontdienst geleistet und steht nun nach frischen Erdbeeren an. Schon in der Warteschlange erfährt er, was es heißt um diese Uhrzeit einkaufen zu gehen bzw. einkaufen gehen zu müssen. Er als Mann. Um diese Zeit! Hier? Jetzt, wenn die Juden einkaufen. Eine Frau mustert den eingeschüchterten jungen Mann und gibt ihren Senf dazu. Sie hat gut reden. Sie ist keine Jüdin, muss nicht mit der Waffe in der Hand auf Andere schießen. Sicher hat sie Privilegien, die es ihr erlauben derartige Hasstiraden vom Stapel zu lassen.

Christian Voß – völlig unerfahren wie man sich benimmt, wenn man in der Warteschlange steht – fragt eine junge Frau, ob er denn hier richtig stehe. Und schon geht das Gezeter los. Augenblicke merkt er, dass er eine junge Jüdin angesprochen hat. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob er mit Juden oder Ariern spricht – solange die Politik außen vor bleibt, was in dieser Zeit so gut wie unmöglich ist. Irene, so heißt die Frau, gibt ihm zu verstehen, dass er vermeintlich in größerer Gefahr ist als sie selbst. Ob er denn nicht ihren Stern sehe. Ihm ist es egal. Es sind die ersten zarten Bande, die in dieser hässlichen Situation beim Einkaufen geknüpft werden. Die Bande werden bald schon zu einem harten Knoten werden.

Hart in jeder Hinsicht. Denn in der Wohnung von Irene stapeln sich die Menschen, und damit auch die Probleme. Bloß nicht auffallen. Leise sein. Nicht anecken. Das gilt auch untereinander! Die Arzttochter Irene musste schon ihren Eltern Lebwohl sagen. Sie hat Angst vor einer Beziehung mit Christian. Was, wenn sie sich wirklich verliebt? Und er sich in sie? Das muss scheitern! Unmöglich in diesen Zeiten. Und dennoch geraten beide in den Strudel der Gefühle.

Hertha von Gebhardt beschreibt sehr detailreich den Alltag von Menschen, deren Überleben mehr von der Hoffnung geprägt ist als vom Willen. Das Buch erschien zum ersten Mal 1947 und wurde mit gemischten Kommentaren wahrgenommen. Jetzt, nach mehr als sieben Jahrzehnten, ist es umso wichtiger, dass es noch einmal erscheint. Denn: Es wurde schon wieder so viel vergessen!

Das schwarze Königreich

Alles im Leben von Jakub Shapiro ist Vergangenheit. Der Kampf gegen die Nazis, gegen die Obrigkeit, gegen den Boxer in der anderen Ringecke. Auch sein Leben mit Frau und Kindern. Und das Leben als Unterweltkönig von Warschau. Seit 1939 alles ist anders. Vorbei der Luxus und das aufregende Leben auf der Überholspur. Es herrschen neue Regeln im Warschauer Ghetto. Der gelbe Stern am Ärmel. Straßenbahnfahren verboten. Von Redefreiheit ganz zu schweigen.

In einem Versteck sitzt Ryfka. Neben ihr liegen zwei Männer auf Matratzen, die jeder Beschreibung spotten. Die Ratten tanzen Polka. Den einen Mann pflegt sie aus Höflichkeit, den Anderen aus unerschütterlicher Liebe. Sie kennt ihn schon seit Jahren. Aus einer Zeit, in der sie auch Männer pflegte. Allerdings anders als momentan. Nicht medizinisch. Sie denkt nach, wie es mal war, wie der Andere da auf der Matratze einst Ihr Leben dominierte, ihr Herz höherschlagen ließ. Vor ihr liegt nun ein Häufchen Elend. Sie weiß kaum, ob er lebt oder jemals lebte. Es fällt ihr schwer die Gedanken zu ordnen, die richtige Zeitform zu finden.

Währenddessen ist Ares im Ghetto unterwegs. Er schmuggelt alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Ares, der Kriegsgott. Namen hat er sich selbst gegeben. Legenden ranken sich um ihn. So wie einst um Jakub Shapiro. Für Ares ist das keine Adelung. Er heißt David. Auch Jude, so wie Jakub. Und der ist außerdem sein Vater. Einen Vater, den David nie mehr sehen möchte. Zu rief der Riss zwischen Vater und Sohn. Der Vater, der Kinder und Frau verließ. Der Sohn, der nun das Überleben sichern muss. Der Sohn, der jedem Deutschen am liebsten den Garaus machen möchte.

Drei Menschen, die so eng verbunden sind wie eine Familie. Doch Liebe ist hier fehl am Platz. Ryfka pflegt und trauert schon fast um ihren Jakub. Jakub ist nicht mehr Herr seiner selbst. Und David ist vom Zorn beseelt, immer in dem Wissen, dass selbst bessere Zeiten keine Linderung verschaffen können.

Was Machtverlust, Liebe und Hass, Unterdrückung und Kampf mit Menschen machen können, beschreibt Szczepan Twardoch in unnachahmlicher Weise. Gefühle und Gewalt sind gelichberechtigte Partner auf der Landkarte des Warschauer Ghettos zur Zeit des Aufstandes. Die viel gepriesene Anarchie greift um sich. Und jeder, der nicht schnell genug ist, es nicht mehr sein kann, wird gnadenlos zum Opfer abgestempelt. Die Gefahren lauern hinter jeder Ecke. Jeder kann ein Verräter sein oder sich offen zu erkennender Feind. Für Liebe und Zutrauen ist kein Platz. Ryfka wagt es dennoch. In der Stille und dem Dunkel der Nacht opfert sie sich auf bis sie Ares gegenübersteht…

Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt

Liest man nur die Kapitelüberschriften, könnte man meinen, dass es sich hierbei um einen ganz normalen Urlaubsbericht handelt, den jeder, der gern reist und der eigenen Sprache mächtig für sich und Freunde (zum Vorzeigen) verfasst hat. Doch schon nach wenigen Zeilen merkt man, dass man hier keinen vorzeigbaren Reisebericht in den Händen hält, sondern eine Reiseberichtoffenbarung!

Marko Martin bereist Tel Aviv nicht als partysüchtiger badeschlappiger Hipster im coolen Look. Er will die Seele der Stadt einfangen. Will sie nicht einsperren und am Nasenring in der Arena herumführen. Nein, er will (und er schafft es auch!) den Leser die Stadt spüren lassen.

Tel Aviv stand lange im Schatten Jerusalems. Israel war Jerusalem, und Jerusalem war Israel. Zumindest touristisch gesehen. Ein bisschen Bethlehem zur Weihnachtszeit. Aber das war‘s auch schon. Seit einigen Jahren sind Tel Aviv und Jerusalem gemeinsam auf Besucherjagd im Dschungel des Tourismusmarketings. Twin Cities, so wie St. Paul und Minneapolis in Minnesota. Doch, was einen dort genau erwartet schafft kein noch so hochglanzgestalteter Werbeprospekt. Marko Martin schafft es scheinbar spielend leicht.

Er kommt wie ein ganz normaler Tourist in Tel Aviv an. Er übernachtet im Hotel, in Absteigen. Genießt die Küche in Restaurants, spricht mit Kollegen und erholt sich am Strand. Wie im Prospekt. Doch die Menschen, die er trifft, sind keine Fotomodels, deren sehnlichster Wunsch Weltfrieden und Tierschutz ist. Es sind Menschen, die wie in keinem anderen Land der Welt die Geschichte ihres Landes kennen. Ihnen ist die Geschichte ihres Landes, ihres Volkes in Fleisch und Blut übergegangen. Die aktuelle Situation mit der allgegenwärtigen Gefahr ist nicht wegzudenken. Juden und Araber gemeinsam sind immer noch ein seltenes Bild. Politik ist so präsent wie andernorts Billigkaufhausketten.

Die Stadt pulsiert wie New York. Dennoch hat jeder ein Auge auf den Anderen geworfen. Was isst er, was kauft er? Die Schlussfolgerungen sind meist schon zum Volkssport verkommen. In Tel Aviv trifft sich die Welt. Sie lebt hier zusammen. Friedlich. Ausbremser dieses Friedens gibt es wie anderorts auch. Nur, dass eben hier die Kameras 24 Stunden auf die Stadt gerichtet sind.

Marko Martins Buch ist kein Reisebericht, der die unbekannten Hotspots ins Spotlight führt. Keine Handhabe für verlorene Seelen in der viel zu großen Stadt. Er reißt den Brustkorb der israelischen Hauptstadt auf und zeigt das Herz einer Stadt, die das staubige Gewand der Gewalt ablegt und zu einer blühenden Oase heranwächst.

Ich war eine Ärztin in Auschwitz

Dieses wunderbare Wort Hoffnung, dass durch den ersten Vokal einen so hübschen rund geformten Mund macht. Der jedoch postwendend durch die folgenden Doppelkonsonanten wieder nur zackige Töne hervorbringt. Diese Hoffnung darf Gisella perl nicht verlieren. Sie ist Ärztin, Gynäkologin. In Siebenbürgen. Während der dunkelsten Zeit überhaupt. Alsbald überrennen Wehrmacht und Gestapo das Land und vernichten jeglichen Farbklecks, jegliche Hoffnung. Als Jüdin ist sie nun doppeltes Freiwild. Nur ihre Ausbildung, ihre berufliche Erfahrung und ihre Fähigkeiten bewahren sie vor dem schnellen Tod. Sie spricht nicht darüber, aber so manches Mal wäre ihr dieser wohl willkommener Gewesen als das Gewesene an sich.

In einem Zugwaggon mit unzähligen Anderen zusammengepfercht fährt sie in eine ungewisse Zukunft, an einen unbekannten Ort. Die Türen sind vernagelt. Vernagelt! Nicht einfach nur zugeschlossen, was allein schon für Unmut sorgt. Mit einem wenige Gramm schweren Stück der Freiheit beraubt. Mit einem Werkzeug, das so viel wiegt wie zwei Stück Butter, eingesperrt.

Acht Tage später ist das Ziel klar: Auschwitz! Der sichere Tod, mit dem perfidesten Todeswärter, den es je gab: „Dr.“ Josef Mengele. Ihm wird sie zuarbeiten müssen. Ihm ist sie unterstellt. Er allein bestimmt über ihr Schicksal. Als Ärztin, die in dieser Vernichtungsmaschinerie dringend gebraucht werden, hat sie die Chance zu überleben. Und sie kann diese Chance nutzen, um Hoffnung zu geben. Leid zu lindern. Als Gefangene für den gehassten Feind zur geliebten Arbeit gezwungen

Sie verliert Mann und Kind. Sie wird sie nie wieder sehen. Sie trifft auf Menschen aus ihrer rumänischen Heimat. Oft jedoch findet sie nur noch Überreste. Mal ein Mantel einer ihr bekannten Person, der als Kopfstütze für einen geschundenen Körper dient. Unfassbar, aber wahr. Sie hilft einer sadistischen Aufseherin abzutreiben. Für beide Frauen ein Risiko, das beide mit ihrem Leben bezahlen würden, wenn sie erwischt werden.

Schwangere haben in Auschwitz mit dem Kind unterm Herzen gleichzeitig ihr Todesurteil in der Hand. Perl bringt Dutzende von Kindern zur Welt, um ihnen kurze Zeit später ein unheilvolles Leben zu ersparen. Die Mütter dürfen weiterleben. Dank der Tatkraft dieser mutigen Frau.

Gisella Perl hat Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen überlebt. Sie hat gekämpft, für sich und für sehr viel Andere. Kurz nach den schlimmsten Jahren ihres Lebens hat sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Dass ihr Hier und Da diese Erinnerungen einen Streich spielen, tut dem Gesamteindruck des Buches keinen Abbruch. Die Historikerin Andres Rudorff setzt alles wieder ins richtige Licht. Ihre Einführung allein lässt dem Leser schon das Blut in den Adern gefrieren. Gisella Perls Erinnerungen lassen Aufhorchen, Staunen (im negativen Sinne), sind erschütternd und lassen es nicht zu dieses Buch ohne Abzusetzen durchzulesen. Oft schluckt man ob der erbarmungslosen Bestialität und Menschenverachtung, die bei zu Vielen schon wieder in Vergessenheit geraten ist.

Das Haus am Waldsängerpfad

Es klingelt ordentlich in den Ohren, wenn man von historischen Orten und Häusern spricht. Aktuelle könnte das Reichstagsgebäude in Berlin so manche markerschütternde Geschichte erzählen. Aber auch so manches idyllisch gelegene Häuschen ist durchaus in der Lage frisch-fromm-fröhlich drauf loszuplappern, wenn man sich in seine Geschichte vertieft. Berliner Südwesten. Heute, im mit dem wenig aussagekräftigen Namen Waldsängerpfad ausgezeichneten Stück Berlin, nicht einmal einen halben Kilometer lang, steht dort ein Haus, dass immer noch den Namen seines einstigen Besitzers stolz zeigt. Einst war hier die Dianastraße, Betazeile. Die Göttin der Jagd und der Name eines der schlimmsten Antisemiten, den es jemals gab. Hier wohnte einmal Fritz Wisten. Nur eingefleischte Theaterleute erinnern sich noch an den Schauspieler und Kulturschaffenden, der 1962 starb.

Der Name ist ein Künstlername, der alsbald schon im Pass eingetragen war. Moritz Weinstein, mit diesem Namen kam er im März 1890 in Wien zur Welt. Ein paar Jahrzehnte später verschlug es ihn in die deutsche Hauptstadt. Kind und Kegel sowie sein Vater brauchten nun eine Unterkunft. Das Haus mit der modernen Architektur – Bauhaus ohne Kompromisse innen und außen – wurde gerade entwohnt, wie es im damaligen LTI-Jargon hieß. Die Besitzer und Auftraggeber für dieses Anwesen mussten Deutschland verlassen. Ihr Name, ihre Religion und vor allem die vorherrschenden Verhältnisse ließen ihnen keine Wahl. Etwas mehr als 50.000 Reichsmark blätterten die Wistens hin. Besitzerin war Gertrud Wisten. Was aber nichts moderner Gleichberechtigung zu tun hatte, sondern mit der Tatsache, dass Wisten, Fritz, geborener Weinstein, Jude war. Und die durften nichts besitzen, geschwiege denn Eigentum in diesem Maße erwerben. Das Haus war kein Ort der Freude im eigentlichen Sinne. Anfangs konnte man zwar noch Feste feiern. Doch schon bald war es für viele ein Ort der Zuflucht, der brüchigen Sicherheit. Wie für Alfred Balthoff. Auch einer von Wistens Kollegen, die heute in Vergessenheit geraten sind. Die Tatsache, dass seine Stimme vielen ausländischen Schauspielern als Charakteristikum dem deutschen Publikum vertraut ist, weist darauf hin, dass das Haus am Waldsängerpfad sicherer war als so manch anderes Versteck in dieser Zeit. Der agile Freddy Balthoff überstand die braune Zeit. Auch die Wistens. Und das obwohl es in der Nähe von Nazi- und Armeegrößen nur so wimmelte. Zum Beispiel Canaris, der sich im Laufe der Zeit gegen Hitler wandte, wohnte unweit. Das Haus selbst wurde von Peter Behrens errichtet. Bauhausikone und Erschaffer der Inschrift am Reichstagsgebäude. Fritz Wisten wurde ebenso drangsaliert wie Millionen anderer, die dem Regime nicht in den Kram passten. Auftrittsverbot, Gehaltskürzung – doch Wisten blieb. Deutsch war seine Sprache. Er konnte und wollte nicht in eine andere Welt eintauchen, die ihm das wichtigste Instrument, die Sprache, nimmt.

Nach dem Ende der dunklen Zeit konnte Fritz Wisten schnell wieder Fuß fassen. Schon Wochen nach Kriegsende inszenierte er wieder. Wurde Kulturfunktionär – im Osten. Doch auch diese Zeit ging vorüber.

Thomas Blubacher reiht in seinem Stolperstein-Buch historische Daten aneinander, dass einem schwindlig wird. Die Fülle an Fakten, Namen, Daten berührt und macht deutlich, dass Geschichte immer und überall sichtbar ist und es auch weiterhin sein muss. Der Kampf darf nicht vergessen werden. Eigentlich unvorstellbar, dass es solche Schicksale gab, und dass sie trotz der Besessenheit der Täter zu einem fast schon guten Ende führen konnten.

Damals in Alexandria

Was soll man zu dieser Familie sagen?! Sie küssten und sie schlugen sich? Liebe, Verachtung, Zusammenhalt, Prahlerei – hier kommt alles auf den Punkt, auf den Tisch, zur Sprache. Und alles in Alexandria. Die Stadt, die dieser jüdischen Familie eine Heimat geworden ist. Italien, England, Türkei – da kommen sie her, da werden sie einmal leben. Sie werden ihre neue Kultur lieben, im gleichen Atemzug nicht minder verachten. Sie werden sich anpassen. In Japan hat es schon mal nicht geklappt. Der Autohandel war mehr ein Experiment, als ein von Erfolg gekrönter Masterplan. Und so hockt man im Exil, während in Europa der Krieg wütet und sie als Juden mehr als nur laufende Zielscheiben sind.

Es ist keine einfache Familienbande. Frotzeleien gehören zur Tagesordnung. Aber eben auch der gemeinsame Einkauf auf dem Markt. Im Trubel der Zeit, des selbstgewählten Exils huschen Lichtblitze der Hoffnung an ihnen vorbei. An Gigi, Vili, Adele und alle den Anderen, die gar nicht so recht wissen wohin mit all ihrer Energie. Das ist vielleicht auch der Kitt, der sie zusammenhält. Lebenslust vs. Überlebenswillen. Und in der Ferne tönen die Kanonen von Rommels Armee. Bald schon wird auch Alexandria nicht mehr das Paradies sein, das man liebt, über das man sich so köstlich aufregen kann.

Die Sippe bekommt noch einmal Zuwachs, aus Deutschland. Wieder eine, die es geschafft hat, rauszukommen aus dem Elend und der schändlichen Umgebung. Wird Alexandria die Heimat bleiben, oder wird es einmal mehr der Ausgangspunkt einer weiteren Reise, einer Flucht werden?

André Aciman lädt den Leser ein an der Tafel dieser großen Familie Platz zu nehmen. Es wird reichlich aufgetischt. Seitenhiebe gehören zum Hauptgang. Kleine Sticheleien sind als Aperitif ein willkommener Gaumenschmeichler. Und zum Dessert die ganz große Tragödie. Wie ein Getriebener liest man sich durch die Kapitel und ist fasziniert wie Familie in dunklen Zeiten funktioniert. Dass nicht jeder jeden mag gehört zum Spiel des Lebens. Doch der unbedingte Wille dieses Konstrukt – aus unterschiedlichen Gründen – am Leben zu erhalten, überwältigt dank der Sprachgewalt des Autors. Immer wieder schlägt er Haken und lässt den Leser mit einem erstaunten Ausdruck von „is alles gar nicht so schlimm“ zurück. Fängt ihn aber postwendend wieder auf, wenn Alexandria als Synonym für Weltoffenheit und Chancenteppich dargelegt wird.

„Damals in Alexandria“ verzichtet auf klischeehafte Andeutungen und Handlungen. Zimperlich darf man nicht sein, wenn man dieses Buch liest. Der Autor ist es auch nicht. Betroffenheitskitsch ist ihm ebenso fremd wie übertriebene Darstellung jüdischen Lebens. Ganz normale Menschen, die in diesem ungewöhnlichen Buch die besondere Zeit hochleben lassen.

Fritz und Alfred Rotter. Ein Leben zwischen Theaterglanz und Tod im Exil

Die Erinnerung spielt einem gern und oft mal einen Streich. Ab diesem Jahr kommt man nicht umhin die 20er Jahre, die Goldenen Zwanziger, the roaring twenties, die des vergangenen Jahrhunderts zu würdigen und zu feiern. Berlin zum Beispiel kommt einem dann vor wie eine gigantische nicht enden wollende Party, bei die Frauen Perlenketten behangen und die Herren im feinen Zwirn zugange waren, und beiderlei Geschlechter immer einen dicken Kopf vom übermäßig genossenen Champagner mit und auf sich trugen. Dabei vergisst man oft das Elend, das nicht minder vorhanden und vor allem sichtbar war. Die Männer im Hintergrund sind kaum noch bekannt.

So wie die Brüder Rotter, eigentlich Schaiche, Söhne eines jüdischen Kaufmanns aus Leipzig, die schon während des Weltkrieges ihr Imperium zum Strahlen brachten. In den Zwanzigerjahren waren sie von Breslau bis Hannover die Könige der leichten Unterhaltung. Feinde hatten sie manchmal mehr als Publikum im Saal. Obwohl die meist rappelvoll waren. Die Wirtschaftskrise überstanden sie, wie auch immer. Der aufziehende braune Terror brachte sie schlussendlich zur Strecke. Doch nicht nur der allein.

Für die Shows von Alfred und Fritz Rotter zogen sich jährlich Dutzende Vorhänge auf. Lehár und Holländer spielten sie, Hans Albers formten sie zum gefeierten Bühnenstar. In der gegnerischen Ecke standen (und lauerten) die Theaterbesitzer, die den Rotters ihre Bretter, die die Welt bedeuten, vermieteten. Kritiker warfen den Rotter-Shows Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit vor. Das Erfolgsgeheimnis war, dass ein großer Name die Show tragen sollte. So warben sie mit den Stars, auch wenn die dann am Abend gar nicht auftraten. Die Kasse klingelte, doch voll war sie niemals. Pleiten, Pech und Pannen waren die Leibgarde der Rotters. Viel eine Aufführung durch, kam die nächste. Wieder mit einem Namen, der für Qualität stand, verbunden. Ging es bergauf, konnte man die Uhr danach stellen, wann es wieder bergab ging.

Die deutschnationale Presse, im Laufe auch die faschistische Presse setzte dem jüdischen Erfolgsmodell herabsetzende Propaganda entgegen. Als auf dem Ku’damm die SA wahllos auf Passanten einprügelte, nahmen Alfred und Fritz zusätzlich die liechtensteinische Staatsbürgerschaft an. Das ging damals offensichtlich ganz einfach. Ob und wie viel Geld dabei eine Rolle spielt, ist bis heute nicht zu eruieren. Ein paar Tage vor der endgültigen Machtergreifung der Nazis flohen die Rotters. Wohin, das wusste keiner. Den Häschern waren sie erstmal entkommen. Doch der Verrat lauert überall. Und so war die Flucht nur eine Sackgasse mit bitterem Ende.

Peter Kamber wirft noch einmal die Suchscheinwerfer an und leuchtet die Rotter-Bühnen bis in die letzte Ecke aus. Auch er kann nicht jedes kleinste Detail belegen. Doch das, was er recherchiert hat, lässt keinen Zweifel daran, dass Alfred und Fritz Rotter die größten ihre Metiers waren, einflussreiche Feinde hatten, denen ihre kreative bis kriminelle Buchhaltung ein Dorn im Auge war, und die ein Berlin schufen, das über alle Grenzen hinweg Weltruhm erlangen sollte. Ob Gauner oder gewiefte Geschäftsleute – keiner verdient ein Ende wie diese beiden schillernden Gestalten des Bühnen-Berlins.

Perla

Perla – kein Kosename für die Angebetete. Sondern ein Name für eine Frau, deren Schicksal gar nicht glänzend war. Sie ist die Mutter des Autors Frédéric Brun. Erst nach dem Tod der Mutter traut sich Brun sich ihr und ihrem Schicksal zu nähern. Perla war in Auschwitz! Und sie überlebte! Was sie nie vollends überwinden konnte!

Für Frédéric Brun ist es immer noch schwer zu verstehen, dass in einem Land, aus dem so viele von ihm verehrte Dichter kamen so viele Henker hervorbringen kann. Er schafft Parallelen und bringt sie im gleichen Moment zum Einsturz. Er lässt Caspar David Friedrich auferstehen und schüttelt den Kopf, wenn er schreibt, dass Hölderlin von Auschwitz-Insassen wie Erbauern gleichermaßen geliebt wurde.

Ein besonders nachhallender Vergleich ist der von Josef Mengele, dem KZ-Arzt in Auschwitz, der im Exil im Meer ertrank und seinem noch ungeborenen Sohn Julien, den er in einem wohligen Meer im Bauch der Mutter heranwachsen lässt. Ein Vergleich, der nur Phantasievollen naheliegt, und den Leser ins Herz trifft. Und den Leser im Mark erschüttert. Perversion und Unschuld in einem Kapitel – das prägt das Bild dieses Buches. Denn dieser Josef Mengele war es, der mit einer Handbewegung Perla das Leben rettete. Eine perfide Vorstellung, denn ein Leben in Auschwitz war nicht mit menschlichen Maßstäben messbar.

Frédéric Brun kleidet Gedankenblitze und Erinnerungen an seiner Mutter unaufgeregt mit wohl platzierten Worten aus. Die Wucht der Bedeutung der Worte fegt jeden um, die Poesie der Sprache hebt jeden sanft an. Nun kann man sich wie in einem spannenden Krimi durch dieses Buch lesen. Man kann aber auch Zeile für Zeile aufsaugen. Letzteres ist auf alle Fälle empfehlenswert. Es lohnt sich dem Wohlklang der Worte hinzugeben. Ein weiteres Leben wird diesen Worten durch Christine Cavalli, die Übersetzerin, eingehaucht. Mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, da jedes Wort sehr persönlich ist und von Erinnerungen geformt wurde. „Perla“ ist eine echte Perle. Und der Auftakt einer Trilogie.

Wir waren eine gute Erfindung

Heute Abend kommt wieder die ganze Familie zusammen, um mit dem Sederabend das Pessachfest zu feiern. Salomon freut sich schon darauf. Dieses Jahr ist jedoch allesanders. Sarah ist nicht mehr da. Seine geliebte Sarah. Die mit so viel Hingabe das Essen zubereitete und mit noch mehr Liebe dieses Fest zu einem ganz besonderen Fest machte.

Was nicht immer einfach war, und es wohl auch niemals sein wird. Salomon wird wie immer seine Witze reißen. Witze, die nur er machen darf. Witze, die viele vor den Kopf stoßen. Witze, die sich um Auschwitz handeln. Er kennt die Hölle von Auschwitz. Er überlebte sie. Deswegen ist es sein Recht sich darüber lustig zu machen. Die Erinnerungen daran sind auch Jahrzehnte danach immer noch präsent.

Wie immer liegt er am Morgen noch in seinem Bett. Seine Seite der Schlafstätte zerwühlt, neben ihm alles wie am Abend zuvor. Heute Abend geht es wieder rund. Wenn seine Jüngste Michelle und ihr Gatte Patrick mit ihren Kindern Tania und Samuel auftauchen. Hoffentlich hat Patrick dieses Mal seine Verdauung im Griff! Wahrscheinlich eher nicht. So wie schon bei seiner Bar Mizwa. Salomon ergreifen die Erinnerungen.

Sarah hat immer die Familie über alles gestellt. Sie schaffte es mit Leichtigkeit Streit zu ertragen und niemandem Vorwürfe zu machen. Der Sederabend mit Sarah war immer ein Ereignis. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wird dieses Fest nur das Fest der Juden sein, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern soll.

Auch Salomons und Sarah Älteste Denise wird vorbei kommen. Wie immer zu spät. Wie immer mit einer ordentlichen Portion Mut im Gepäck. Mut allem, was ihr nicht passt die Stirn zu bieten. Die Stunden bis die Familie eintrifft, sind für Salomon Stunden der Erinnerung. An Urlaub mit den Kindern, an vergangene Sederabende, an die Fragen der Kinder, die ihren Vater und Opa durchlöcherten mit ihrer unschuldigen Neugier. Und an die Witze, die Salomon riss. An die beiden Goldfische, die er für Michelle und Denise auf dem Jahrmarkt eroberte. Göbbels und Göhring. So nannte er die beiden Fische. Salomons Humor war schon immer ganz speziell.

Joachim Schnerf schildert mit wohltuender Ruhe vom Wechselbad der Gefühle eines Mannes, der seiner Familie mit ganz besonderer Zuneigung entgegentritt. Sarah war es, die Harmonie versprühte, die die Autorität besaß jedwedem Zwist den Garaus zu machen. Leicht wurde es beiden nie gemacht. Streit und Geschrei gehörten zum Sederabend wie Lesen der Texte über die Flucht aus der Sklaverei. Die Bissigkeit des eigenen Schicksals, verbunden mit der Leichtigkeit der Liebe sind die Zutaten für ein gelungenes Fest, das dieses Buch kompromisslos feiert.