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Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt

Liest man nur die Kapitelüberschriften, könnte man meinen, dass es sich hierbei um einen ganz normalen Urlaubsbericht handelt, den jeder, der gern reist und der eigenen Sprache mächtig für sich und Freunde (zum Vorzeigen) verfasst hat. Doch schon nach wenigen Zeilen merkt man, dass man hier keinen vorzeigbaren Reisebericht in den Händen hält, sondern eine Reiseberichtoffenbarung!

Marko Martin bereist Tel Aviv nicht als partysüchtiger badeschlappiger Hipster im coolen Look. Er will die Seele der Stadt einfangen. Will sie nicht einsperren und am Nasenring in der Arena herumführen. Nein, er will (und er schafft es auch!) den Leser die Stadt spüren lassen.

Tel Aviv stand lange im Schatten Jerusalems. Israel war Jerusalem, und Jerusalem war Israel. Zumindest touristisch gesehen. Ein bisschen Bethlehem zur Weihnachtszeit. Aber das war‘s auch schon. Seit einigen Jahren sind Tel Aviv und Jerusalem gemeinsam auf Besucherjagd im Dschungel des Tourismusmarketings. Twin Cities, so wie St. Paul und Minneapolis in Minnesota. Doch, was einen dort genau erwartet schafft kein noch so hochglanzgestalteter Werbeprospekt. Marko Martin schafft es scheinbar spielend leicht.

Er kommt wie ein ganz normaler Tourist in Tel Aviv an. Er übernachtet im Hotel, in Absteigen. Genießt die Küche in Restaurants, spricht mit Kollegen und erholt sich am Strand. Wie im Prospekt. Doch die Menschen, die er trifft, sind keine Fotomodels, deren sehnlichster Wunsch Weltfrieden und Tierschutz ist. Es sind Menschen, die wie in keinem anderen Land der Welt die Geschichte ihres Landes kennen. Ihnen ist die Geschichte ihres Landes, ihres Volkes in Fleisch und Blut übergegangen. Die aktuelle Situation mit der allgegenwärtigen Gefahr ist nicht wegzudenken. Juden und Araber gemeinsam sind immer noch ein seltenes Bild. Politik ist so präsent wie andernorts Billigkaufhausketten.

Die Stadt pulsiert wie New York. Dennoch hat jeder ein Auge auf den Anderen geworfen. Was isst er, was kauft er? Die Schlussfolgerungen sind meist schon zum Volkssport verkommen. In Tel Aviv trifft sich die Welt. Sie lebt hier zusammen. Friedlich. Ausbremser dieses Friedens gibt es wie anderorts auch. Nur, dass eben hier die Kameras 24 Stunden auf die Stadt gerichtet sind.

Marko Martins Buch ist kein Reisebericht, der die unbekannten Hotspots ins Spotlight führt. Keine Handhabe für verlorene Seelen in der viel zu großen Stadt. Er reißt den Brustkorb der israelischen Hauptstadt auf und zeigt das Herz einer Stadt, die das staubige Gewand der Gewalt ablegt und zu einer blühenden Oase heranwächst.

Ich war eine Ärztin in Auschwitz

Dieses wunderbare Wort Hoffnung, dass durch den ersten Vokal einen so hübschen rund geformten Mund macht. Der jedoch postwendend durch die folgenden Doppelkonsonanten wieder nur zackige Töne hervorbringt. Diese Hoffnung darf Gisella perl nicht verlieren. Sie ist Ärztin, Gynäkologin. In Siebenbürgen. Während der dunkelsten Zeit überhaupt. Alsbald überrennen Wehrmacht und Gestapo das Land und vernichten jeglichen Farbklecks, jegliche Hoffnung. Als Jüdin ist sie nun doppeltes Freiwild. Nur ihre Ausbildung, ihre berufliche Erfahrung und ihre Fähigkeiten bewahren sie vor dem schnellen Tod. Sie spricht nicht darüber, aber so manches Mal wäre ihr dieser wohl willkommener Gewesen als das Gewesene an sich.

In einem Zugwaggon mit unzähligen Anderen zusammengepfercht fährt sie in eine ungewisse Zukunft, an einen unbekannten Ort. Die Türen sind vernagelt. Vernagelt! Nicht einfach nur zugeschlossen, was allein schon für Unmut sorgt. Mit einem wenige Gramm schweren Stück der Freiheit beraubt. Mit einem Werkzeug, das so viel wiegt wie zwei Stück Butter, eingesperrt.

Acht Tage später ist das Ziel klar: Auschwitz! Der sichere Tod, mit dem perfidesten Todeswärter, den es je gab: „Dr.“ Josef Mengele. Ihm wird sie zuarbeiten müssen. Ihm ist sie unterstellt. Er allein bestimmt über ihr Schicksal. Als Ärztin, die in dieser Vernichtungsmaschinerie dringend gebraucht werden, hat sie die Chance zu überleben. Und sie kann diese Chance nutzen, um Hoffnung zu geben. Leid zu lindern. Als Gefangene für den gehassten Feind zur geliebten Arbeit gezwungen

Sie verliert Mann und Kind. Sie wird sie nie wieder sehen. Sie trifft auf Menschen aus ihrer rumänischen Heimat. Oft jedoch findet sie nur noch Überreste. Mal ein Mantel einer ihr bekannten Person, der als Kopfstütze für einen geschundenen Körper dient. Unfassbar, aber wahr. Sie hilft einer sadistischen Aufseherin abzutreiben. Für beide Frauen ein Risiko, das beide mit ihrem Leben bezahlen würden, wenn sie erwischt werden.

Schwangere haben in Auschwitz mit dem Kind unterm Herzen gleichzeitig ihr Todesurteil in der Hand. Perl bringt Dutzende von Kindern zur Welt, um ihnen kurze Zeit später ein unheilvolles Leben zu ersparen. Die Mütter dürfen weiterleben. Dank der Tatkraft dieser mutigen Frau.

Gisella Perl hat Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen überlebt. Sie hat gekämpft, für sich und für sehr viel Andere. Kurz nach den schlimmsten Jahren ihres Lebens hat sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Dass ihr Hier und Da diese Erinnerungen einen Streich spielen, tut dem Gesamteindruck des Buches keinen Abbruch. Die Historikerin Andres Rudorff setzt alles wieder ins richtige Licht. Ihre Einführung allein lässt dem Leser schon das Blut in den Adern gefrieren. Gisella Perls Erinnerungen lassen Aufhorchen, Staunen (im negativen Sinne), sind erschütternd und lassen es nicht zu dieses Buch ohne Abzusetzen durchzulesen. Oft schluckt man ob der erbarmungslosen Bestialität und Menschenverachtung, die bei zu Vielen schon wieder in Vergessenheit geraten ist.

Das Haus am Waldsängerpfad

Es klingelt ordentlich in den Ohren, wenn man von historischen Orten und Häusern spricht. Aktuelle könnte das Reichstagsgebäude in Berlin so manche markerschütternde Geschichte erzählen. Aber auch so manches idyllisch gelegene Häuschen ist durchaus in der Lage frisch-fromm-fröhlich drauf loszuplappern, wenn man sich in seine Geschichte vertieft. Berliner Südwesten. Heute, im mit dem wenig aussagekräftigen Namen Waldsängerpfad ausgezeichneten Stück Berlin, nicht einmal einen halben Kilometer lang, steht dort ein Haus, dass immer noch den Namen seines einstigen Besitzers stolz zeigt. Einst war hier die Dianastraße, Betazeile. Die Göttin der Jagd und der Name eines der schlimmsten Antisemiten, den es jemals gab. Hier wohnte einmal Fritz Wisten. Nur eingefleischte Theaterleute erinnern sich noch an den Schauspieler und Kulturschaffenden, der 1962 starb.

Der Name ist ein Künstlername, der alsbald schon im Pass eingetragen war. Moritz Weinstein, mit diesem Namen kam er im März 1890 in Wien zur Welt. Ein paar Jahrzehnte später verschlug es ihn in die deutsche Hauptstadt. Kind und Kegel sowie sein Vater brauchten nun eine Unterkunft. Das Haus mit der modernen Architektur – Bauhaus ohne Kompromisse innen und außen – wurde gerade entwohnt, wie es im damaligen LTI-Jargon hieß. Die Besitzer und Auftraggeber für dieses Anwesen mussten Deutschland verlassen. Ihr Name, ihre Religion und vor allem die vorherrschenden Verhältnisse ließen ihnen keine Wahl. Etwas mehr als 50.000 Reichsmark blätterten die Wistens hin. Besitzerin war Gertrud Wisten. Was aber nichts moderner Gleichberechtigung zu tun hatte, sondern mit der Tatsache, dass Wisten, Fritz, geborener Weinstein, Jude war. Und die durften nichts besitzen, geschwiege denn Eigentum in diesem Maße erwerben. Das Haus war kein Ort der Freude im eigentlichen Sinne. Anfangs konnte man zwar noch Feste feiern. Doch schon bald war es für viele ein Ort der Zuflucht, der brüchigen Sicherheit. Wie für Alfred Balthoff. Auch einer von Wistens Kollegen, die heute in Vergessenheit geraten sind. Die Tatsache, dass seine Stimme vielen ausländischen Schauspielern als Charakteristikum dem deutschen Publikum vertraut ist, weist darauf hin, dass das Haus am Waldsängerpfad sicherer war als so manch anderes Versteck in dieser Zeit. Der agile Freddy Balthoff überstand die braune Zeit. Auch die Wistens. Und das obwohl es in der Nähe von Nazi- und Armeegrößen nur so wimmelte. Zum Beispiel Canaris, der sich im Laufe der Zeit gegen Hitler wandte, wohnte unweit. Das Haus selbst wurde von Peter Behrens errichtet. Bauhausikone und Erschaffer der Inschrift am Reichstagsgebäude. Fritz Wisten wurde ebenso drangsaliert wie Millionen anderer, die dem Regime nicht in den Kram passten. Auftrittsverbot, Gehaltskürzung – doch Wisten blieb. Deutsch war seine Sprache. Er konnte und wollte nicht in eine andere Welt eintauchen, die ihm das wichtigste Instrument, die Sprache, nimmt.

Nach dem Ende der dunklen Zeit konnte Fritz Wisten schnell wieder Fuß fassen. Schon Wochen nach Kriegsende inszenierte er wieder. Wurde Kulturfunktionär – im Osten. Doch auch diese Zeit ging vorüber.

Thomas Blubacher reiht in seinem Stolperstein-Buch historische Daten aneinander, dass einem schwindlig wird. Die Fülle an Fakten, Namen, Daten berührt und macht deutlich, dass Geschichte immer und überall sichtbar ist und es auch weiterhin sein muss. Der Kampf darf nicht vergessen werden. Eigentlich unvorstellbar, dass es solche Schicksale gab, und dass sie trotz der Besessenheit der Täter zu einem fast schon guten Ende führen konnten.

Damals in Alexandria

Was soll man zu dieser Familie sagen?! Sie küssten und sie schlugen sich? Liebe, Verachtung, Zusammenhalt, Prahlerei – hier kommt alles auf den Punkt, auf den Tisch, zur Sprache. Und alles in Alexandria. Die Stadt, die dieser jüdischen Familie eine Heimat geworden ist. Italien, England, Türkei – da kommen sie her, da werden sie einmal leben. Sie werden ihre neue Kultur lieben, im gleichen Atemzug nicht minder verachten. Sie werden sich anpassen. In Japan hat es schon mal nicht geklappt. Der Autohandel war mehr ein Experiment, als ein von Erfolg gekrönter Masterplan. Und so hockt man im Exil, während in Europa der Krieg wütet und sie als Juden mehr als nur laufende Zielscheiben sind.

Es ist keine einfache Familienbande. Frotzeleien gehören zur Tagesordnung. Aber eben auch der gemeinsame Einkauf auf dem Markt. Im Trubel der Zeit, des selbstgewählten Exils huschen Lichtblitze der Hoffnung an ihnen vorbei. An Gigi, Vili, Adele und alle den Anderen, die gar nicht so recht wissen wohin mit all ihrer Energie. Das ist vielleicht auch der Kitt, der sie zusammenhält. Lebenslust vs. Überlebenswillen. Und in der Ferne tönen die Kanonen von Rommels Armee. Bald schon wird auch Alexandria nicht mehr das Paradies sein, das man liebt, über das man sich so köstlich aufregen kann.

Die Sippe bekommt noch einmal Zuwachs, aus Deutschland. Wieder eine, die es geschafft hat, rauszukommen aus dem Elend und der schändlichen Umgebung. Wird Alexandria die Heimat bleiben, oder wird es einmal mehr der Ausgangspunkt einer weiteren Reise, einer Flucht werden?

André Aciman lädt den Leser ein an der Tafel dieser großen Familie Platz zu nehmen. Es wird reichlich aufgetischt. Seitenhiebe gehören zum Hauptgang. Kleine Sticheleien sind als Aperitif ein willkommener Gaumenschmeichler. Und zum Dessert die ganz große Tragödie. Wie ein Getriebener liest man sich durch die Kapitel und ist fasziniert wie Familie in dunklen Zeiten funktioniert. Dass nicht jeder jeden mag gehört zum Spiel des Lebens. Doch der unbedingte Wille dieses Konstrukt – aus unterschiedlichen Gründen – am Leben zu erhalten, überwältigt dank der Sprachgewalt des Autors. Immer wieder schlägt er Haken und lässt den Leser mit einem erstaunten Ausdruck von „is alles gar nicht so schlimm“ zurück. Fängt ihn aber postwendend wieder auf, wenn Alexandria als Synonym für Weltoffenheit und Chancenteppich dargelegt wird.

„Damals in Alexandria“ verzichtet auf klischeehafte Andeutungen und Handlungen. Zimperlich darf man nicht sein, wenn man dieses Buch liest. Der Autor ist es auch nicht. Betroffenheitskitsch ist ihm ebenso fremd wie übertriebene Darstellung jüdischen Lebens. Ganz normale Menschen, die in diesem ungewöhnlichen Buch die besondere Zeit hochleben lassen.

Fritz und Alfred Rotter. Ein Leben zwischen Theaterglanz und Tod im Exil

Die Erinnerung spielt einem gern und oft mal einen Streich. Ab diesem Jahr kommt man nicht umhin die 20er Jahre, die Goldenen Zwanziger, the roaring twenties, die des vergangenen Jahrhunderts zu würdigen und zu feiern. Berlin zum Beispiel kommt einem dann vor wie eine gigantische nicht enden wollende Party, bei die Frauen Perlenketten behangen und die Herren im feinen Zwirn zugange waren, und beiderlei Geschlechter immer einen dicken Kopf vom übermäßig genossenen Champagner mit und auf sich trugen. Dabei vergisst man oft das Elend, das nicht minder vorhanden und vor allem sichtbar war. Die Männer im Hintergrund sind kaum noch bekannt.

So wie die Brüder Rotter, eigentlich Schaiche, Söhne eines jüdischen Kaufmanns aus Leipzig, die schon während des Weltkrieges ihr Imperium zum Strahlen brachten. In den Zwanzigerjahren waren sie von Breslau bis Hannover die Könige der leichten Unterhaltung. Feinde hatten sie manchmal mehr als Publikum im Saal. Obwohl die meist rappelvoll waren. Die Wirtschaftskrise überstanden sie, wie auch immer. Der aufziehende braune Terror brachte sie schlussendlich zur Strecke. Doch nicht nur der allein.

Für die Shows von Alfred und Fritz Rotter zogen sich jährlich Dutzende Vorhänge auf. Lehár und Holländer spielten sie, Hans Albers formten sie zum gefeierten Bühnenstar. In der gegnerischen Ecke standen (und lauerten) die Theaterbesitzer, die den Rotters ihre Bretter, die die Welt bedeuten, vermieteten. Kritiker warfen den Rotter-Shows Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit vor. Das Erfolgsgeheimnis war, dass ein großer Name die Show tragen sollte. So warben sie mit den Stars, auch wenn die dann am Abend gar nicht auftraten. Die Kasse klingelte, doch voll war sie niemals. Pleiten, Pech und Pannen waren die Leibgarde der Rotters. Viel eine Aufführung durch, kam die nächste. Wieder mit einem Namen, der für Qualität stand, verbunden. Ging es bergauf, konnte man die Uhr danach stellen, wann es wieder bergab ging.

Die deutschnationale Presse, im Laufe auch die faschistische Presse setzte dem jüdischen Erfolgsmodell herabsetzende Propaganda entgegen. Als auf dem Ku’damm die SA wahllos auf Passanten einprügelte, nahmen Alfred und Fritz zusätzlich die liechtensteinische Staatsbürgerschaft an. Das ging damals offensichtlich ganz einfach. Ob und wie viel Geld dabei eine Rolle spielt, ist bis heute nicht zu eruieren. Ein paar Tage vor der endgültigen Machtergreifung der Nazis flohen die Rotters. Wohin, das wusste keiner. Den Häschern waren sie erstmal entkommen. Doch der Verrat lauert überall. Und so war die Flucht nur eine Sackgasse mit bitterem Ende.

Peter Kamber wirft noch einmal die Suchscheinwerfer an und leuchtet die Rotter-Bühnen bis in die letzte Ecke aus. Auch er kann nicht jedes kleinste Detail belegen. Doch das, was er recherchiert hat, lässt keinen Zweifel daran, dass Alfred und Fritz Rotter die größten ihre Metiers waren, einflussreiche Feinde hatten, denen ihre kreative bis kriminelle Buchhaltung ein Dorn im Auge war, und die ein Berlin schufen, das über alle Grenzen hinweg Weltruhm erlangen sollte. Ob Gauner oder gewiefte Geschäftsleute – keiner verdient ein Ende wie diese beiden schillernden Gestalten des Bühnen-Berlins.

Perla

Perla – kein Kosename für die Angebetete. Sondern ein Name für eine Frau, deren Schicksal gar nicht glänzend war. Sie ist die Mutter des Autors Frédéric Brun. Erst nach dem Tod der Mutter traut sich Brun sich ihr und ihrem Schicksal zu nähern. Perla war in Auschwitz! Und sie überlebte! Was sie nie vollends überwinden konnte!

Für Frédéric Brun ist es immer noch schwer zu verstehen, dass in einem Land, aus dem so viele von ihm verehrte Dichter kamen so viele Henker hervorbringen kann. Er schafft Parallelen und bringt sie im gleichen Moment zum Einsturz. Er lässt Caspar David Friedrich auferstehen und schüttelt den Kopf, wenn er schreibt, dass Hölderlin von Auschwitz-Insassen wie Erbauern gleichermaßen geliebt wurde.

Ein besonders nachhallender Vergleich ist der von Josef Mengele, dem KZ-Arzt in Auschwitz, der im Exil im Meer ertrank und seinem noch ungeborenen Sohn Julien, den er in einem wohligen Meer im Bauch der Mutter heranwachsen lässt. Ein Vergleich, der nur Phantasievollen naheliegt, und den Leser ins Herz trifft. Und den Leser im Mark erschüttert. Perversion und Unschuld in einem Kapitel – das prägt das Bild dieses Buches. Denn dieser Josef Mengele war es, der mit einer Handbewegung Perla das Leben rettete. Eine perfide Vorstellung, denn ein Leben in Auschwitz war nicht mit menschlichen Maßstäben messbar.

Frédéric Brun kleidet Gedankenblitze und Erinnerungen an seiner Mutter unaufgeregt mit wohl platzierten Worten aus. Die Wucht der Bedeutung der Worte fegt jeden um, die Poesie der Sprache hebt jeden sanft an. Nun kann man sich wie in einem spannenden Krimi durch dieses Buch lesen. Man kann aber auch Zeile für Zeile aufsaugen. Letzteres ist auf alle Fälle empfehlenswert. Es lohnt sich dem Wohlklang der Worte hinzugeben. Ein weiteres Leben wird diesen Worten durch Christine Cavalli, die Übersetzerin, eingehaucht. Mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, da jedes Wort sehr persönlich ist und von Erinnerungen geformt wurde. „Perla“ ist eine echte Perle. Und der Auftakt einer Trilogie.

Wir waren eine gute Erfindung

Heute Abend kommt wieder die ganze Familie zusammen, um mit dem Sederabend das Pessachfest zu feiern. Salomon freut sich schon darauf. Dieses Jahr ist jedoch allesanders. Sarah ist nicht mehr da. Seine geliebte Sarah. Die mit so viel Hingabe das Essen zubereitete und mit noch mehr Liebe dieses Fest zu einem ganz besonderen Fest machte.

Was nicht immer einfach war, und es wohl auch niemals sein wird. Salomon wird wie immer seine Witze reißen. Witze, die nur er machen darf. Witze, die viele vor den Kopf stoßen. Witze, die sich um Auschwitz handeln. Er kennt die Hölle von Auschwitz. Er überlebte sie. Deswegen ist es sein Recht sich darüber lustig zu machen. Die Erinnerungen daran sind auch Jahrzehnte danach immer noch präsent.

Wie immer liegt er am Morgen noch in seinem Bett. Seine Seite der Schlafstätte zerwühlt, neben ihm alles wie am Abend zuvor. Heute Abend geht es wieder rund. Wenn seine Jüngste Michelle und ihr Gatte Patrick mit ihren Kindern Tania und Samuel auftauchen. Hoffentlich hat Patrick dieses Mal seine Verdauung im Griff! Wahrscheinlich eher nicht. So wie schon bei seiner Bar Mizwa. Salomon ergreifen die Erinnerungen.

Sarah hat immer die Familie über alles gestellt. Sie schaffte es mit Leichtigkeit Streit zu ertragen und niemandem Vorwürfe zu machen. Der Sederabend mit Sarah war immer ein Ereignis. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wird dieses Fest nur das Fest der Juden sein, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern soll.

Auch Salomons und Sarah Älteste Denise wird vorbei kommen. Wie immer zu spät. Wie immer mit einer ordentlichen Portion Mut im Gepäck. Mut allem, was ihr nicht passt die Stirn zu bieten. Die Stunden bis die Familie eintrifft, sind für Salomon Stunden der Erinnerung. An Urlaub mit den Kindern, an vergangene Sederabende, an die Fragen der Kinder, die ihren Vater und Opa durchlöcherten mit ihrer unschuldigen Neugier. Und an die Witze, die Salomon riss. An die beiden Goldfische, die er für Michelle und Denise auf dem Jahrmarkt eroberte. Göbbels und Göhring. So nannte er die beiden Fische. Salomons Humor war schon immer ganz speziell.

Joachim Schnerf schildert mit wohltuender Ruhe vom Wechselbad der Gefühle eines Mannes, der seiner Familie mit ganz besonderer Zuneigung entgegentritt. Sarah war es, die Harmonie versprühte, die die Autorität besaß jedwedem Zwist den Garaus zu machen. Leicht wurde es beiden nie gemacht. Streit und Geschrei gehörten zum Sederabend wie Lesen der Texte über die Flucht aus der Sklaverei. Die Bissigkeit des eigenen Schicksals, verbunden mit der Leichtigkeit der Liebe sind die Zutaten für ein gelungenes Fest, das dieses Buch kompromisslos feiert.

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

Mordechai Wolkenbruch, von allen nur Motti genannt, lebt in Zürich, ist Student und ist – sehr zum Leidwesen seiner mame – immer noch Single. Die versucht mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht ihrem Sohn ein mejdl vorzustellen. Mottis jüdische Familie ist für ihn ein Segen, keiner macht so leckere knajdl. Momentan ist sie aber auch Fluch. Denn seine mame lässt einfach keine Ausreden gelten. Der Junge muss unter die Haube! So wie seine Geschwister – die haben’s gut!

Hat Motti endlich mal eine froj gefunden, ist mame nicht weit. Selbst wenn Motti also könnte, wie er wollte – das Damokles Schwert in Gestalt seiner Mutter würde über ihm schweben und darauf achten, dass der Sohn auch keine unkoscheren Gedanken auslebt.

In der Uni erblickt Motti Laura. Ihr blondes Haar, ihre blauen Augen … ja, Motti kommen da schon die einen oder anderen Ideen, dass er und Laura … Problem ist nur, dass Laura eine schickse ist. Eine, die mit der jüdischen Religion und der jüdischen Kultur nicht so viel anfangen kann. So was kommt mame nicht ins Haus! Das weiß Motti. Er muss einen Weg finden mit Laura zusammen sein zu können. Ohne gleich als merder der eigenen Kultur angeprangert zu werden. Mit so einer wie Laura kann man keine chassene machen!

Thomas Meyers erster Roman wurde umgehend zu einem Riesenerfolg und vor kurzem erst verfilmt. Ein bisschen Übung bzw. Eingewöhnung braucht das ungeschulte Auge. Denn dieser Roman ist voller jiddischer Begriffe. Die zum Glück im ausführlichen Anhang erläutert werden. Sonst würde man ja ganz meschugge werden…

Diese besondere Ausgabe der Büchergilde besticht durch die pointierten Illustrationen von Samuel Glättli. Anhand der Zeichnungen wird der Weg Mottis in die Eigenständigkeit zusätzlich untermalt. Und das im sinnbildlichen wie wortwörtlichen Sinne. Motti ist kein Modellathlet wie er im Buch steht. Aber auch nicht das viel zitierte Muttersöhnchen, das seine mame ihm unterjubeln will. Ohne viel Trickserei stehen die Abbildungen gleichrangig neben dem eindrücklichen wie witzigen Roman. Eine perfekte Symbiose!

Tirza Atar. Wenn alles berührt

Eine Biografie über eine Frau, die nicht einmal bei Wikipedia erscheint? Da sind die herkömmlichen Medien den digitalen endlich mal einen Schritt voraus. Aber mal ganz ehrlich, wer kennt Tirza Atar? Das wird sich mit diesem Buch schlagartig ändern.

Die israelische Poetin Tirza Atar wurde 1941 in Tel Aviv geboren, wo sie auch sechsunddreißig Jahre später starb. Sie war die Tochter des bekannteren Literaten Nathan Alterman. Der Untertitel „Wenn alles berührt“ weist auf eine verletzliche Seele hin, wie man so schön sagt. In Essays und texten kommt der Leser der unbekannten Tirza Atar auf die Spur.

Der Nachname ist ein Pseudonym. Nach einem abgebrochenem Schauspielstudium in New York kehrt Tirza Atar zurück in ihr Heimatland. Die Texte aus ihrer Feder werden allerdings erst Jahre nach ihrem Tod im Archiv ihres Vaters entdeckt. Zu Lebzeiten war Tirza Atar immer die Tochter von Nathan Alterman. Ein trauriges Schicksal für eine empfindsame Frau, die der Welt so viel zu verraten, im Sinne von preiszugeben hatte.

Einzelne Texte hat die Autorin Gundula Schiffer in diesem Buch zusammengetragen und den entsprechenden Rahmen mit Erläuterungen versehen.

Für den Leser eine neue Erfahrung. Denn wer nicht gerade den Dokumentarfilm „Bird in the room“ über die israelische Autorin gesehen hat, der wird mit den meisten Formulierungen nicht viel anfangen können. Ob Tirza Atar traurig war, heutzutage würde man vorbehaltlos von Depressionen sprechen, ist nicht mehr nachvollziehbar. Aber ist das wichtig? Nein! Sie lässt ihre Texte für sich sprechen. Eine gewisse Schwermut kann man hier und da schon feststellen. Doch im gleichen Maße aber auch eine unbändige Lebensfaszination, die sie ergriff und nie los ließ. Bis zu jenem 7. September 1977, als sie wahrscheinlich die Bauarbeiter von gegenüber um etwas Ruhe bitten wollte. Sie verlor den Halt und stürzte mehrere Stockwerke tief in den Tod.

Über vierzig Jahre sollte es dauern bis man auch in Europa etwas von Tirza Atar vernehmen soll. Dem Verlag Edition Karo ist es zu verdanken, dass Tirza Atar nicht mehr nur eine Randbemerkung der Literaturgeschichte Israels ist – die Gesamtausgabe ihres Werkes ist auch dort erst seit ein paar Jahren erhältlich – sondern dank ihrer Gedichte und Texte eine kleine Renaissance erleben kann.

Exil unter Palmen

Klingt wie ein Traumurlaub, der niemals enden sollte: Eine sehr lange Zeit an der Côte d’Azur. Das savoir-vivre genießen. Die ewig strahlende Sonne. Ja, für viele ist das das Synonym von Paradies oder zumindest einer zeitlich begrenzten Erholungsphase selbigen Ausmaßes. Doch es gab eine Zeit, in der Die Côte d’Azur nicht nur der Sehnsuchtsort der Sonnenanbeter war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Zuflucht. Ein Ort, an dem man Terror, Erniedrigung und Angst ums eigene Leben ein wenig vergessen konnte. Sanary-sur-Mer war einmal das Exil von Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Thomas Mann, Hermann Kesten. Die Künstler mussten ihre Heimat verlasse, da sie als Dorn im Fleisch des Faschismus Verderb bedeuteten. Schon kurz nach der Machtübernahme der Nazis flohen sie zuhauf. Hermann Kesten, Lektor beim Gustav Kiepenheuer Verlag, war einer der Lockvögel. Er war der erste Ansprechpartner und Wohnungsvermittler. In La Tranquille fanden die Manns, Thomas, Katia, Golo, Michael, Erika und Monika das gewünschte Domizil – mit entsprechender Zimmeranzahl und funktionierender Struktur.

Die Villa Valmer wurde das Arbeits- und Lebenskosmos von Lion Feuchtwanger und seiner Frau Marta. Sie war es auch, die die Besucher tagsüber abwimmelte, damit ihr Gatte an seinen Werken schreiben konnte. Doch das „Exil unter Palmen“, wie es die Autorin dieses Buches, Magali Nieradka-Steiner, nennt, unterliegt auch dem Gang der Geschichte und ihrer Wendungen.

Anfangs waren die Deutschen, man nannte den Ort schon Sanary der Deutschen, noch willkommen. Sie waren still, blieben unter sich und im Ort achtete man sie auch wegen ihrer angeborenen Etikette. Man stand sich nicht im Weg. Das Vichy-Regime brachte neuen Wind an die Côte. Behörden wurden effizienter. Aus dem Sanary der Deutschen wurde das Sanary der Juden. Wieder mussten Dutzende Deutsche – eine Gedenktafel im Ort weist fast siebzig Exilanten aus Deutschland und Österreich auf – flüchten. Die Nähe zu Marseille war Glück im Unglück. Denn von hier gab es meist nur die letzten Passagen gen Afrika, Lissabon, um dann weiter in Richtung Süd- oder Nordamerika zu kommen. Einige schafften den Absprung sofort. Viele wurden interniert. So wie Lion Feuchtwanger oder Alfred Kantorowicz. Wenigen gelang die Flucht. Zu viele ertrugen die Lagerzeit nicht.

Magali Nieradka-Steiner stellt einen Ort vor, dessen Lage für Urlauber ideal ist. Mittlerweile hat sich der Ort seiner historischen Bedeutung gestellt und weist hier und da auf die berühmten ehemaligen Bewohner hin. Sie alle, von Ernst Bloch bis Stefan Zweig von Egon Erwin Kisch bis Alfred Neumann, waren auf der Flucht. Sie fanden hier kurz- bis mittelfristig eine Raststätte auf ihrem weiteren Weg in eine bessere Zeit. Manche kehrten noch einmal zurück, nachdem die Schrecken vorbei waren. Andere fanden in Kalifornien, ihre Lebensheil. Sie kehrten nie mehr in ihre Heimat oder ihr Exil unter Palmen zurück.