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Schmales Land

Der Krieg ist seit fünf Jahren vorbei, und schon scharrt die nächste Generation, um einen Stellvertreterkrieg dieses Mal am anderen Ende der Welt zu führen. Der Waise Michael – aus dem zerbombten Deutschland ins gelobte Amerika verbracht worden – steht auf dem Bahnhof. Trotzig wehrt er sich gegen den Plan von Mrs. Aunt, wie er sie nennt, ihn gen Norden zu schicken. Dort soll er sechs – in ihren Augen wundervolle – Wochen verbringen. Bei Bekannten, ihrem Sohn Richie und einem Hund. Ist das nicht toll?! Für den verschlossenen Michael ist es das nicht! Und er wehrt sich tapfer. Doch all das Bocken und Trotzen nützt ihm nichts.

Am Cape Cod – was ist das denn für ein Name, fragt sich Michael – wird er aber bald auftauen. So viel sei schon verraten: Es wird ein Sommer, den er niemals vergessen wird. Das schmale Land wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Hier macht es sich bequem, wer es sich leisten kann. Das war schon damals, 1950, so und ist es heut noch vielmehr.

Schon bald trifft Michael auf die teils eigenartigen Bewohner dieses Landstriches. Unter anderem auch auf Mrs. Aitch. Sie hat es nicht leicht. Als Künstlerin steht sie im Schatten ihres Gatten Edward. Der kann auch schon mal ordentlich aus der Haut fahren. Dann fliegen Geschirr und die Fetzen. Aber man rauft sich ebenso auch wieder zusammen. Ach ja, dieser Edward heißt mit Familiennamen Hopper.

Ja, genau der Edward Hopper. Eine Ikone der Moderne. Doch das weiß Michael nicht. Ist ihm auch völlig egal. In seinem Ohr klingen immer noch die Worte von Mrs. Aunt. Er solle sich benehmen. Er soll artig und höflich sein. Zeigen, dass er weiß, wie man sich benimmt. Den Schein wahren.

Das Grau und Schwarz seiner ersten Jahre weicht rasch der Farbenpracht an der Ostküste der Staaten. Der Strand ist mit weichem Sand übersät. Die Menschen sind nett und freundlich zu ihm. Hinter vorgehaltener Hand wird zwar das Eine oder Andere gelästert. Aber im Paradies (auch wenn Michael es nicht kennt und nicht richtig einordnen kann, so versteht er doch die Idylle auf seine ihm eigene Art zu genießen) ist eben doch nicht alles paradiesisch. Mrs. Aitch kann davon mehr als nur ein Lied singen…

Christine Dwyer Hickey schafft es mit der Kraft ihrer Phantasie dem Phänomen Edward Hopper auf die Spur zu kommen. Es ist eine Episode aus dem Leben den Künstler verwoben mit dem Schicksal eines Kindes, das Dinge erlebt hat, die man keinem Menschen wünscht. Kleine Splitter aus dem zerrissenen Leben zweier Menschen, die zu einem Puzzle zusammengefügt werden und ein Bild ergeben, das man so schnell nicht vergisst.

Überfluss

Eine nach oben gereckte Hand, im Inhaltsverzeichnis Zahlen mit einem Dollarzeichen dahinter – hier scheint es sich um einen Roman zu handeln, in dem es um das mehr oder weniger vorhandene Geld und den Kampf um selbiges zu handeln. Ja. Ein kämpferisches Buch mit zwei Protagonisten, die nichts anderes kennen als tagein tagaus mit Grips und Tatkraft den Folgetag erleben zu können. Soweit die Fakten.

Jakob Guanzon macht aus diesem wenig liebevollen Zustand eine Geschichte, die den Leser fesselt und nie wieder loslassen wird. Und: Es ist sein Erstlingsroman! Henry und sein Sohn Junior sind unterwegs. Nicht irgendwohin, sondern unterwegs, weil sie nicht anders können. Ihr fahrbarer Untersatz ist mehr als nur das. Es ist ihr Ein und Alles. Das Haus – verloren. Was heißt hier Haus! Selbst aus dem Trailerpark, im Allgemeinen die unterste Stufe der Behausung – sind sie rausgeflogen. Das letzte Mal, dass Henry einen festen (im wahrsten Sinne des Wortes) Wohnsitz hatte, war als er eine Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels verbüßen musste. Und nun geht es auf einen Roadtrip ins Nirgendwo. Henry passt ganz genau auf, dass Junior diese Zeit nicht als Zeit des Mangels in Erinnerung behalten wird.

Es klingt paradox, doch das Vater-Sohn-Gespann lebt im Überfluss. Und zwar mittendrin. Aber sie sind nicht Teil des Überflusses. Wie unbeteiligte Zuschauer in einem lahmen Theaterstück, das einzig allein vom Lichterglanz und der unermüdlichen Effekthascherei derer lebt, die den Überfluss genießen können oder – noch schlimmer – inmitten derer, die diesen Überfluss zu verantworten haben. Egal, ob sie dies bewusst tun oder selbst in einer Tretmühle stecken.

In Rückblenden bekommt die Gegenwart eine nachvollziehbare Vergangenheit. Henry ist nicht der typische Verlierer, der durch die Chuzpe anderer in sein Dilemma geraten ist. Ein bisschen Mitschuld trägt er selbst. Umso mehr bemüht er sich – mit mehr oder weniger anhaltendem Erfolg – Junior das gleiche Schicksal zu ersparen.

Wortgewaltig und immens gefühlvoll verzaubert Jakob Guanzon fortwährend und gibt Einblicke in eine Welt, die man lieber nur von außen betrachtet. Ein Pickup als small world refugium, die Phantasie als Spielplatz der Möglichkeiten und die Welt da draußen als vermeintliches Ideal, dem man nachhecheln muss. Manchmal ist es so einfach glücklich zu sein. Aber manchmal ist es auch verdammt schwer. Von diesem Widerspruch lebt dieser Roman. Die Intensität schöpft das Werk aus der gefühlvollen Empathie des Autors für seine Figuren. Wer „Überfluss“ liest, erlebt ihn selbst, den Überfluss. Der Überfluss an Gefühlen und Hoffnung.

Buch der Tage

Patti Smith schreibt seitdem sie schreiben kann. Den meisten ist sie als Sängerin bekannt. Vielen sind ihre Bilder – bis vor wenigen Jahren waren Polaroids ihr bevorzugtes Stilmittel – ein Begriff. Auch als Schriftstellerin hat sie sich einen Namen gemacht. Eine Künstlerin durch und durch, 24/7.

Vor ein paar Jahren hat sie sich dazu entschlossen einen Instagram-Account zu eröffnen. Wie sie selbst sagt, um denen, die in ihrem Namen Spenden einheimsen wollen, die echte Patti Smith entgegenzustellen. Das harte Los einer berühmten Persönlichkeit. Aber was wäre eine Künstlerin, wenn sie nicht auch diese Plattform als Ausdrucksmittel einzusetzen verstünde?!

Und nun das „Buch der Tage“. Ein Buch, das so schon existiert. Da gibt es doch tatsächlich Bücher, die die Posts von Instagram einfach noch mal in Buchform auf den Markt schmeißen. Manchmal sogar nicht einmal von echten Menschen, sondern ihren Haustieren. Das geht oft bis immer schief, weil es wirklich niemanden interessiert, wann die Miezi etwas schräg in die Kamera glotzt und man sich – als Mensch – darüber vor Lachen krümmt. Irgendwann ist jeder Gag einmal ein gelutschter Drops.

Diese Gefahr besteht bei Patti Smith nicht. Ihr Bilderarchiv muss wie das Weltall unendliche Weiten umfassen. Nicht nur, was die Quantität betrifft, nein, auch die Qualität – sprich Themenvielfalt – ist fast unüberschaubar. Und so taucht man in eine Welt ein, die man sich – egal, ob Fan oder nicht – kaum zu erträumen gehofft hat. Pattis Smith behält sich natürlich das Recht vor nur das zu zeigen, was sie möchte. Sie muss nicht jeden Tag ihr Frühstück mit der Welt teilen. Auch nicht ihr neues It-Piece. Und schon gar nicht irgendwelchen anderen belanglosen Trash, den nur seelenlose Follower als Einblick ins Seelenleben der Stars erkennen wollen.

Hier ist eine Zeitreise in Buchform für einen Kreis von Menschen, die sich nicht nur oberflächlich verführen lassen. Von Rom und Paris über New York reist man in Bildern und Gedanken (den eigenen und denen von Patti Smith) um die Welt, die immer kleiner zu werden scheint. Was sie natürlich nicht tut, aber das Bilder, das vermittelt wird, hat auch seine Vorteile. Da man scheinbar ungezwungen binnen Bruchteilen von Sekunden in eine andere Welt eintauchen kann.

Von Ballettschuhen und dem Portrait von Greta Thunberg, vom dichten Wald bis zu Glenn Gold, von Bobby Fischer Grab bis zu einem Hufeisen, das sie auf dem Anwesen von Arthur Rimbaud gefunden hat – Patti Smiths Auge entgeht nichts. Wer schon einmal das stakkatoartige „Horses, horses, horses, horses“ auf einem verlassenen Industriegelände gehört hat, an dem ein endloser Güterzug vorbeirattert, kennt die Kraft, die Patti Smith verströmen kann. Immer tiefer ziehen ihre Bilder und kurzen Texte denn Leser in ihre Welt, ohne jemals ernsthaft in Gefahr zu geraten. Es ist eine Kunst sich selbst zu inszenieren ohne dabei selbst zum Objekt der Begierde zu werden. Patti Smith for real and forever.

Die Süße von Wasser

„The war is over!“, so schön diese Worte klingen mögen, er ist es nicht. Die Nachwehen eines jeden Krieges sind für manche verheerender als der Krieg selbst. Der amerikanische Bürgerkrieg ist aus. Der Norden hat den Süden besiegt, die Sklaverei ist abgeschafft. So das Resultat, wenn man es auf einem Blatt Papier kurz geschrieben liest. Dass das natürlich nicht so ist, beweist Nathan Harris mit seinem Debütroman.

Die Brüder Prentiss und Landry sind auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie wurde als Sklavin verkauft. Jetzt, da die Kanonen schweigen, ist es in ihrem kurzen Leben wohl die beste Zeit sich auf die Suche zu machen. On Old Ox, Georgia (Südstaaten!) verdienen sie sich ein paar Münzen, um ihren Weg alsbald fortsetzen zu können. Die Besitzer der Farm, George und Isabelle, sind ebenso vom Krieg betroffen gewesen. Ihr Sohn starb in diesem unsäglichen Krieg. Insgeheim hoffen sie auf Linderung in ihrer Trauer als das Brüderpaar sich bei ihnen vorstellt. Es entwickelt sich sogar eine richtige Freundschaft zwischen den beiden Paaren. Nun liegt Old Ox in Georgia – Sklaverei war hier seit Ewigkeiten Normalzustand. Eine Freundschaft zwischen einem Farmerpaar, das aufgrund ihrer Besitzverhältnisse eine andere Hautfarbe hat als die des Bruderpaares, das sich hier etwas dazuverdienen will, um die beschwerliche Reise ohne konkretes, geographisch zu verortendes Ziel, weiterzuführen, stößt in Old Ox nicht gerade auf jubelnde Mengen. Vielmehr sind es anfangs tuschelnde, später keifende Schreie, die der Idylle allzu schnell ein Ende setzen.

Das alles ist schon Stoff genug für ein beeindruckendes Buch über die Umwälzungen in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Doch Buch und Autor standen nicht umsonst auf der Longlist des renommierten Booker-Prize. Nathan Harris fügt seiner Geschichte noch ein drittes Paar hinzu. Zwei Soldaten, die den Krieg hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen wollen. Und das NEU in neues Leben ist wirklich neu! Für die Einwohner von Old Ox. Das Rumoren im Ort wird lauter und lauter und entlädt sich in einem gigantischen Knall. Ein Mord bricht die Idylle und noch vorherrschende Ruhe auf brüchigem Boden. Ein Boden, der alsbald von Vorurteilen und Rückwärtsgewandtheit erste Risse bekommt. Die Lava des Hasses und aufgestauter Wut tritt unter die sengende Sonne des Südens. Ehe sich alle Beteiligten versehen, beherrschen alte Denkmuster die Szenerie.

Ein Krieg kennt keine Gewinner, zumindest keine Allesgewinner. Jeder muss Abstriche machen. Die Errungenschaften der Sieger werden nicht von allen akzeptiert. Und wenn sich die Gelegenheit bietet alte Strukturen wieder herzustellen, nutzen die Ewiggestrigen jede sich ihnen bietende Chance, um die „guten, alten Zeiten“ wieder aufleben zu lassen. Das kann kein gutes Ende nehmen…

Hemingway im Schwarzwald

Hemingway – ein Name wie Donnerhall. Als der kleine Ernie 1899 zur Welt kam, war das sicher nur ein kindliches Schreien. Ein paar Jahrzehnte später jedoch war der als Stilikone nicht mehr vom Thron zu stürzen. Muss ein gutes Jahr gewesen sein, dieses 1899: Ein anderer Künstler, der eine ganze Branche prägte, wurde ebenfalls im Sommer 1899 geboren. Alfred Hitchcock. Der bezog seine Genialität aus den Erfahrungen seiner Kindheit.

Hemingway ebenso.

Ernie, wie er oft genannt wurde, zog es früh an den Schreibtisch. Und das ist in seinem Fall wortwörtlich gemeint. Als Journalist für den Toronto Star schickte man dem Teenageralter Entwachsenen nach Paris. Das muss man sich mal vorstellen. Gerade mal alt genug, um in einer Bar Alkohol zu bekommen und dann ins Paris, das vor Verlockungen nur so strotzte. Zu einer Zeit, in der Europa einen gewaltigen Umbruch erlebte, und noch erleben sollte. Der Krieg – die Ordnungszahl ließ man glückverheißend oder unglückunwissend beiseite – war nur auf dem Reißbrett und dem Diktatspapier vorbei. Doch die neu gezogenen Grenzen noch lange nicht akzeptiert.

Nun ist der aufstrebende, vor Tatendrang strotzende junge Autor in der Stadt, die für Künstler das Paradies ist (noch nicht finanziell), in einem Land, das einen verheerenden Krieg verkraften muss und auf einem Kontinent, der brachliegt. Doch irgendwann kommt auch für ihn die Zeit sich einmal Ruhe zu gönnen.

Deutschland soll es sein. Freiburg, nicht weit von der Grenze entfernt. Der Schwarzwald erinnert ihn an seine Heimat. Dort, wo er das Fischen erlernt und lieben gelernt hat. Doch viele sind misstrauisch, besonders die Wirtsleute. Zum Glück ist der Wechselkurs im August 1922 sehr günstig. Für einen Dollar gibt’s mehr als sechshundert Mark – als er Deutschland ein paar Wochen später wieder verlässt, ist es mehr als das Doppelte. Ein Jahr später hätte er das Billionenfache bekommen… Da jetzt einen Zusammenhang herzustellen, wäre eine Milchmädchenrechnung. Fakt jedoch ist: Hemingway kehrt zurück nach Paris, seine Ehe geht ihrem Ende entgegen und sein Schreibdrang, das Verlangen nach literarischer Betätigung steigt und steigt. Schon bald erscheint seine erste Erzählung. Später wird sein Aufenthalt im Schwarzwald in „Schnee am Kilimandscharo“ den Raum einnehmen, den man so nicht vermuten konnte.

Thomas Fuchs folgt den Spuren des Literaturnobelpreisträgers durch den Schwarzwald. Mit viel Anlauf – ohne die zeit zuvor zu kennen, fehlen dem Leser die Verknüpfungen zur Besonderheit dieses Urlaubs im Schwarzwald – sammelt er immer mehr Spuren und nimmt Fährten auf, die schlussendlich in einer Geschichte zusammenfinden, die dem Meister alle Ehre machen würden. Es ist nur eine Anekdote im ereignisreichen (selbst veröffentlichten) Leben Hemingways. Aber eine, die großen Einfluss auf den viel zu kurzen Rest des selbigen hatte. Für Fans ein Muss, für Neugierige ein gefundenes Fressen.

Die Frauen von Brewster Place

Brewster Place – vier Blöcke und am Ende der Straße eine Mauer, die mehr ist als nur ein Sichtschutz. Es ist die Grenze. Eine Grenze, die nur diejenigen überschauen können, die ganz oben wohnen und den Hals weit rausstrecken können. Hier leben die, die nicht (mehr) wegkommen. Doch sie leben hier alle zusammen. Mit ihren Träumen, ihren Wehwehchen, ihrem Glauben und der Zuversicht, dass der morgige Tag auch nicht viel anders sein wird als die vergangenen. Für die meisten ist das sogar gut so. Getratsche, Leidklagen, Nachbarschaftshilfe – auch das ist Brewster Place. Die große Stadt ist gleich um die Ecke, geographisch. Die große Stadt ist ganz weit weg, in Echt.

Mattie Michael ist so was wie die gute Seele des Blocks. Zu ihr kommt man oder sie kommt zu einem. Immer einen Rat oder zumindest eine Lebensweisheit auf den Lippen. Zusammen mit Etta Johnson besucht sie regelmäßig die Kirche. Doch die beiden Frauen haben unterschiedliche Beweggründe das Gotteshaus aufzusuchen. Rat und Trost und die Suche nach dem Glück. Eine gewaltige Mischung, die nicht zwingend zur Explosion führen muss. Doch die Unterschiedlichkeit sorgt so manches Mal für eine gereizte Stimmung.

Auch Kiswana Browne wohnt hier. Tief im Inneren ist sie eine militante Black Power Sympathisantin. Doch der Trieb wächst sich einfach nicht aus ihr heraus. Lackierte Zehennägel sind öfter wichtiger als der Kampf gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Wohl auch, weil der Kampf in ihren Augen erfolglos erscheinen mag. Die Streitigkeiten mit ihrer Mutter hingegen sind real und allgegenwärtig.

Cora Lee führt auch einen Kampf. Den gegen ihre eigene Kinderschar. Nicht falsch verstehen. Sie liebt jedes ihrer Kinder. Doch machen die es ihr von Mal zu Mal schwerer. Da der Zahnarzt einem der Sprössling Zucker und Süßigkeiten verboten hat, sucht sich das liebe Kind das ersehnte Glukoseglück eben in der Mülltonne. Das bleibt den Nachbarn nicht verborgen und schon stehen sie bei der Mutter auf der Matte.

Gloria Naylors Schriftstellerinnen-Karriere begann mit „Brewster Place“. Hier ist immer was los. Hier tobt das Leben. Hier langweilt sich der Stillstand zu Tode. Rührende Charakterstudien, treffliche Beschreibungen von Menschen, die nichts mehr aus der Bahn werfen kann, rumorende Konflikte – und dennoch bekommt man nie das Gefühl, dass hier die Welt aus den fugen geraten ist. Man arrangiert sich nicht mit den Problemen, man bietet ihnen die Stirn. Das funktioniert nur, weil in diesen vier Häusern eine Gemeinschaft gewachsen ist, die aus der Not eine Tugend gemacht hat. Und Gloria Naylor gibt ihnen eine Stimme, die weithin und lang anhaltend zu hören sein wird.

Linden Hills

Linden Hills – klingt wie ein Hohn, wenn man es sieht. Hügel? Naja, eine kleine Erhebung. Wer hier lebt, ist nochweit vom amerikanischen Traum entfernt. Luther Nedeed hat das Grundstück vor Jahrzehnten erworben. Warum er damals aus Mississippi verschwunden ist, verschwinden musste (?), weiß keiner so genau. Nur, dass er tot ist. Und nun ein weiterer Luther Nedeed die Miete für die Häuser am „Hügel“ einsammelt.

Der alte Luther saß tagein, tagaus vor seinem Haus und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Angsteinflößend war der Alte. Kaum einer trat an ihn heran, um zu erfahren wie er eigentlich sein Leben bestritt. Ein Schwarzer mit Grundbesitz, in Sichtweite des Big Apple? Hier ist vieles möglich, aber ist auch wirklich alles möglich? Sei es wie es sei. Die Nedeeds haben sich eine kleine Dynastie aufgebaut. Der Name wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Nedeeds vermehren sich und der Hügel füllt sich nach und nach mit Menschen, die es sich nicht leisten können woanders zu leben. In, auf Linden Hills haben sie die Möglichkeit bekommen sich niederzulassen.

So auch Lester und Willie. Sie reinigen die Einfahrten in Linden Hills. Seit der Schulzeit sind die beiden befreundet. Echte Freunde. Und schlurfen sie von Einfahrt zu Einfahrt, verrichten ihren Dienst. Ihnen geht auch nie der Gesprächsstoff aus. Immer gibt es was zu bereden. Immer gibt es ein Thema, das abschließend bequatscht werden muss. Immer, jeden Tag, vielleicht für den Rest ihres Lebens?

Ihre Klientel ist den beiden reichlich schnuppe. Das saubere Weiß der Häuser der Schwarzen ringt ihnen nur ein Naserümpfen ab. Jeden Tag auf und ab. Bis hinunter zu Luther Nedeeds Haus. Dass der ein Geheimnis hütet, ist ein offenes Geheimnis. Auch dass sich niemand traut es zu lüften. Vielleicht ist es ja an Lester und Willie Licht ins Dunkel von Linden Hills und den Nedeeds zu bringen?!

Fasziniert folgt man Gloria Naylor wie sie behutsam den Spannungsbogen aufbaut. Rastlos zu Beginn und detailverliebt je mehr Seiten man umblättert. Das Leben von Lester und Willie verläuft in geregelten Bahnen. Einfahrten kehren, sich über die Bewohner lustigmachen, dem Neid ein bisschen Freiraum geben. Dennoch wird jeder Tag als Geschenk angenommen. Erst als die beiden weiter unten ankommen – also beim Haus der Nedeeds – tapsen die beiden, denen das Glück bisher nur in Dosen hold war, in eine Sache, die ihr Leben ordentlich durcheinander rüttelt. Der Alltagsrassismus macht vor niemandem halt. Auch untereinander. Stets müssen alle auf der Hut sein, denn Neid und Missgunst kennen keine Rassenschranken.

Ein Leben in Geschichten

Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt eine Biographie zu schreiben? Manch einer schreibt sein Leben lang daran. Die Tagebücher werden dann posthum als Sensation angepriesen – Nachfragen sind in diesem Fall nicht mehr möglich. Donna Leons Leserschaft, die seit Jahrzehnten davon träumt beim romantischen Spaziergang durch das romantische Venedig einmal doch Commissario Guido Brunetti zu treffen, stellt sich sicherlich schon länger die eine oder andere Frage. Und sicherlich nicht die, warum der Commissario in den Büchern Dauergast in den Straßen und Gassen der Lagunenstadt ist und im „wahren Leben“ ihn niemand zu Gesicht bekommt. Nein, Donna Leon ist vielen ein willkommenes Familienmitglied, dessen Besuch (Veröffentlichungstermin des neuen Romans) immer entgegengefiebert wird. Und über die Familie weiß man alles. Und wenn nicht fragt man einfach nach. Doch wie fragt man eine Schriftstellerin, die zwar nicht zurückgezogen, dennoch nicht permanent öffentlich lebt?

Es ist so einfach! Man blättert in „Ein Leben in Geschichten“ – ein Titel, der so unscheinbar und unnahbar daherkommt, dass man bei genauerer Betrachtung darin die Autorin wiedererkennt.  Die Idee einmal von Brunetti abzulassen und sich selbst in den Fokus zu stellen, ohne dabei Schatten auf die Umstehenden zu werfen, kam ihr bei einem Treffen mit einem langjährigen Freund, den sie auch ihrer Zeit im Iran kannte. Alte Zeiten aufleben lassen, Freundschaften in Erinnerung rufen, herumalbern – und als Resultat daraus ein Buch. Typisch Donna Leon? Typisch Donna Leon!

Und im Nu reihte sich Geschichte an Geschichte. Von der beim Bridge schummelnden Tante Gert über die geheimnisvolle Herkunft ihres Großvaters bis hin zu dem Tag als Venedig nicht mehr nur eine Stadt mit Existenzproblemen war, sondern der Ort, der ihr ganzes Leben verändern würde. Mit derselben Hingabe wie zu ihrem Commissario und seiner Stadt gibt Donna Leon Auskunft über ihr Leben. Auch ohne groß zwischen den Zeilen lesen zu müssen, offenbart sie „so ganz nebenbei“ wie sie wurde, wer sie ist. Auch wenn viele Ereignisse schon lange zurückliegen – wer erinnert sich mit Achtzig schon noch so detailliert an den ersten Schultag? – sind sie immer noch so präsent, dass man den Dung auf den Feldern, die Angst vor Entdeckung und die Leidenschaft fürs Lesen (und Schreiben) greifen kann.

Persönlicher geht nicht! Donna Leon teilt das Kostbarste, was sie besitzt: Ihre Erinnerungen. Kurzweilig, humorvoll, ehrlich. Und immer mit dem besonderen Kick, der Donna Leon so erfolgreich werden ließ.

New York Ghost

Da arbeitet man Tag für Tag. Gibt alles für die Firma. Soziale Kontakte – Fehlanzeige. Und dann sagt einem niemand, dass da draußen die Welt untergeht?! So sehr man darüber schmunzeln möchte, so bitter ist die Wahrheit für Candace Chen. Während sie den Kopf in ihre Arbeit hängt, grassieren in New York lebensgefährliche Pilzsporen. Immer mehr Menschen flüchten aus der Stadt. Die Straßen werden immer leerer. Bis … ja, bis schlussendlich nur noch Eine übrig ist. Eine in der Stadt die losen Fäden ihres Daseins und die der Firma in den arbeitsamen Händen hält. Candace hat die Apokalypse schlichtweg … verarbeitet. Verarbeitet im Sinne von durch Arbeit verschlafen.

Die Renaissance der Yuppies geht einher mit der zweiten Entstehung der Hipster, die mit den eigentlichen Hipstern so gar nichts gemein haben – Stil ist zeitlos, affektiert. Immer mehr Menschen müssen sich spezialisieren, um im Beruf Schritt halten zu können. Das wirft allerdings das Problem auf, dass man nichts mehr links und rechts des Wegs etwas wahrnimmt. Das machen ja schließlich „die Anderen“. Die Anderen sind immer eine Gemeinschaft. Man selbst ist Spezialist und qua Definition Einzelgänger, in der Krise Einzelkämpfer. Candace wird das schon noch merken. Spät, als die Pilzsporen New York übersät haben und ein ungeheures Fieber verursacht haben. Nun muss sie sehen wie sie Anschluss findet, um einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen zu können.

Wie war das vor einigen Jahren als Corona jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde unseres Lebens bestimmte? Maskenpflicht, Einschränkungen bei jedem Schritt in der Öffentlichkeit, Kontaktverbote. Kaum ein Roman der jüngeren Vergangenheit ist uns so nah wie „New York Ghost“. Die Spötter und Zweifler auf den Barrikaden finden in diesem Roman sicher nicht die ersehnte Befriedigung. Doch die „Kritik am System“ ist durchaus erkennbar. Da ist eine junge Frau, die das Pflichtgefühl über ihre Entwicklungsmöglichkeiten als Mensch stellt. Nur nicht den Chef verärgern, nicht anecken, immer brav arbeiten. Und kostet es die letzte freie Minute. Und wofür? Für Nichtbeachtung in einer Gesellschaft, die sich digital immer mehr vereint, ohne dabei zu merken, dass Vereinigung virtuell nur partiell stattfinden kann.

Ling Ma zeichnet ein düsteres Bild unserer Zeit. Dennoch geht das Leben weiter. Leben vergehen, Leben entsteht. Die Kritik, dass immer erst etwas passieren muss, damit sich grundlegend etwas ändert, ist auf jeder Seite spürbar. Veränderung ist nicht immer planbar. Manchmal ist es sogar kontraproduktiv – um im Sprachgebrauch der „Vor-Pilzsporen-Zeit“ zu bleiben – eine umwälzende Veränderung zu planen. Man kann halt nicht alles voraussehen. Und das ist es doch, was das Leben so spannend macht.

Es war einmal in Hollywood

Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die von unumstößlichen Klischees leben können. Hollywood ist zweifellos so ein Ort. Und wenn dann noch der Name Tarantino fällt … nimmt das Plaudern über diese Klischees kein Ende. Als Quentin Tarantino ankündigte, dass sein zehnter Film sein Letzter sein wolle, waren viele geschockt. Aber im gleichen Atemzug hielt man diese Ankündigung für einen geschickten Schachzug. Die Zukunft wird zeigen, welcher Zug der Richtige war.

Dass Quentin Tarantino schreiben kann, dürfte jedem Kinogänger hinlänglich bekannt sein. Einen kompletten Roman hatte er allerdings bis zu eben diesem ominösen zehnten Film nicht veröffentlicht. „Es war einmal …“ – die erste Verbindung eines jeden Menschen mit Geschichten, mit Büchern. Da sollte doch auch ein „… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ drin sein. Isses aber nich! Is ja ein Tarantino! Gibt’s sogar als Film.

Wir sind im Jahr 1969 in der Stadt, die vor einem reichlichen halben Jahrhundert keine Stadt war, sondern ein Flecken Erde, an dem an jeder Ecke der hauch von Orangen einem um die Ohren wehte. Jetzt, 1969 ist alles anders. Gigantische Studios lenken den Blick von den Hügeln ab. Die Sonne brennt immer noch erbarmungslos. Und Rick Dalton brennt darauf endlich mal wieder eine Filmrolle zu ergattern, die ihm den seiner Meinung nach zustehenden Ruhm einbringt. Sein Agent Marvin Schwarz kann ihm eine Rolle in einem Spaghetti-Western anbieten. Rick ist angeödet von dem Genre. Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen.

Apropos Teufel. Cliff Booth ist Ricks Fahrer, er doubelt ihn in gefährlichen Szenen. Ein Stuntman der knallharten Sorte, der schon mal zulangt, wenn es erforderlich ist. Bisher ist ihm das nie zum Nachteil ausgelegt worden. Er kam sogar mit dem einen oder anderen Mord davon. Seine Geschichten waren immer glaubhaft. Selbst die als seine Frau „unglücklich ums Leben kam“. Jeder kennt die Geschichte, aber solange nichts bewiesen ist … ist Hollywood glücklich und zufrieden. Es gibt Wichtigeres als einen Kriegshelden aufgrund von Vermutungen auszuschließen.

Neben Rick wohnt Roman Polanski, nebst Gattin Sharon Tate. Und bei Dennis Wilson wohnt Charlie. Ein Musiker, dem der große Ruhm wohl ewig verwehrt bleiben wird. Da kann er sich noch so anstrengen.

Und daraus inszeniert Quentin Tarantino sein Hollywood-Märchen. Zwischen den Trinkgelagen von Aldo Ray, Lee Marvin in Uniform (was sonst?!) und weiteren Anekdoten aus dem Hollywood nach dem Hollywood der „alten Tage“ blitzt die Kritik an der Branche immer wieder auf. So viele Schicksale, dass man den Sunset Boulevard jedes Jahr bis ans Ende der Zeit monatlich damit pflastern könnte. Glücksritter, die realitätsfremd einem Traum hinterherjagen, der nichts anders ist als eben ein Traum. Und immer wieder die Verneigung vor denen, die es dann doch geschafft haben, weil sie etwas besaßen, das andere niemals haben werden: Talent UND Glück. Das Buch weicht branchenüblich vom Film ab. Wer also meint es sei ein Fehler erst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, kann sich getrost zurücklehnen. Und das Buch genießen. Es wird den Film in einem anderen – mindestens ebenso strahlenden – Licht erscheinen lassen.