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Der dünne Mann

Als Leser hätte man es eigentlich wissen müssen: Kaum fünf Kapitel gelesen und schon steckt man im tiefsten Leseschlamassel. Nichts mit sich langsam in die Geschichte einführen lassen, die Figuren kennenlernen. Wie Pistolenschüsse wird man niedergestreckt und ist unversehens ein Teil der Geschichte.

Nick Charles war mal Privatdetektiv, in New York. Bis 1927. Dann heiratete er Nora, die dank einer Erbschaft die wahre Bedeutung von Arbeit nicht kennen muss. Und Nick genießt das Leben mit ihr, neckt sie, dass er sie nur geheiratet habe, um mit ihr das Erbe durchzubringen. An ihrer beiden Seite ist Asta, das Schoßhündchen, das nur allzu gern sein Herrchen in den Bauch boxt.

Zwischen Drinks und … eigentlich nichts, also zwischen mehreren Drinks holt Nick Charles die Vergangenheit ein. Zuerst macht er die Bekanntschaft von Dorothy, die ihm sagt, dass er sie kenne. Ihr Vater Clyde war mal Klient von Nick, damals er noch Detektiv war. Sie wolle ihren Vater wieder sehen. Seit ihre Mutter wieder geheiratet hat, darf sie Clyde Miller Wynant nicht mehr sehen. Ist wohl auch besser so. Denn Clyde ist ein verschrobener Kerl. Kurze Zeit später meldet sich auch Herbert Macaulay bei Nick. Er ist der Anwalt von Clyde Wynant. Auch er suche nach Clyde, der zu einem wichtigen Termin nicht auftauchte. Und am Tag darauf ist Julia Wolf tot. Sie war die Sekretärin von Clyde Wynant, und sicher noch ein bisschen mehr. Wie gesagt, fünf Kapitel, nicht einmal dreißig Seiten und schon steckt man in einem Fall, von dem man jetzt schon weiß, das niemals alles so sein wird, wie es scheint. Schon gar nicht als Dorothy tränenüberströmt auftaucht und Nick eine Pistole übergibt. Die habe sie in einer Bar gegen ihr Diamantarmband getauscht. Das, was sie am Handgelenk trägt, fragt Nick Charles lakonisch…

Es beginnt die Suche nach Clyde Wynant. Ja, er ist ein Typ, mit dem man ungern Probleme teilt. Und seine Ex erst. Mimi. Die führt immer was im Schilde, glaubt man Herbert Macaulay. Aber der muss das ja sagen, ist schließlich der Anwalt von Clyde Wynant. Und dann ist da noch die Sache von damals, als der Erfinder Clyde Wynant des Diebstahls bezichtigt wurde. Und die Sache mit Mimis Neuem. Der macht sich wohl an Dorothy ran. Deswegen die Knarre.

Nick Charles wollte eigentlich nur Weihnacht in New York verbringen, zusammen mit Frau und Hund, ein bisschen Christmas shopping. Ein paar Drinks (zu viel), entspannt im Hotel herumliegen, essen, trinken, shopping. Dashiell Hammett lässt ihn gewähren, doch gibt ihm gleichzeitig noch jede Menge Denksport mit auf den verkaterten Weg. Ein Klassiker, ein Wegbereiter des noir. Der Wortwitz und die Rasanz lassen die Zeit wie im Flug vergehen.

Amerigone

Zimmer 1503 des Hilton in New York. Hier wartet der Manager Parker Saturn auf Iwan Rubleski vom Westküstenbüro seiner Firma. Er kennt ihn nicht, hat nie von ihm gehört. Was auch nicht verwunderlich ist. Namen kommen und gehen. Sie sind alle austauschbar. Die Maschinerie läuft auch ohne Namen. Dessen ist sich Parker Saturn – was eine Name! – bewusst. Erspielt das Spiel mit. Hat ein riesiges Haus, zwei entzückende Kinder – one of a kind – und eine umwerfende Ehefrau. Die perfekte Managervita. Und nun sitzt er in Zimmer 1503, das er für zwei Tage mieten musste, und wartet auf einen Mann, der in etwa dasselbe macht wie er. Nur halt am anderen Ende der Staaten. Parker Saturn ist bestens vorbereitet. Hoffentlich ist das Iwan Rubleski auch.

Es klopft. Rubleski ist endlich da. Groß wie Parker, aber bedeutend wuchtiger in den Ausmaßen zu den Seiten hin. Extrem blond, extrem blauäugig, was die Farbe der Augen betrifft. Und er legt gleich los. Wie toll doch alles sei. Der Markt ist willig, bereit, um abgeerntet zu werden. Wie wäre es, wenn Parker ihm nach dem Meeting die Stadt zeigt? Er kennt New York noch nicht. Erstmal Frühstück. Parker ist ob der Rasanz in Rubleskis Entscheidungen ganz baff. Das Frühstück kommt. Sieht gut und reichhaltig aus. Iwan Rubleski unterhält sich ein bisschen mit dem Jungen, der das Frühstück brachte, fragt ihn nach seinen Zielen, wo er herkommt etc. Smalltalk und ein bisschen oberlehrerhaft. Und Dominic, der Zimmerkellner, antwortet pflichtbewusst – es ist das letzte, was er sagen wird. Denn ohne Vorwarnung stürzt sich Rubleski auf den ahnungslosen Burschen und sticht ihn ab. Sein Puls bleibt dabei offensichtlich im grünen Bereich. Ganz im Gegenteil zum Puls von Parker Saturn! Der ist nun derjenige, dessen Körper komplett in Erregung und Starre zugleich verfällt.

Kurze Zeit später erklärt Iwan Rubleski ihm, warum … nein, nicht warum er den Kellner erstochen hat … sein Idee vom Raubtierkapitalismus. Wobei in seinen Augen das Raubtier den Ton angibt. Rubleski gefällt die Verkommenheit und Bigotterie der amerikanischen Gesellschaft. Und er genießt sie in vollen Zügen…

Dem Gesetz der Dramatik folgend müsste hier eigentlich Schluss sein. Das Drama hat seinen Höhepunkt erreicht. Der Tod als Höhepunkt einer sich langsam anbahnenden Katastrophe, der keiner entkommen kann. Bei Mark SaFranko ist es der Beginn einer Odyssee, die mit dem Mord an dem Zimmerkellner nur einen ersten Anstieg erfährt. Die Klimax ist noch mehrere hundert Seiten entfernt. Da kommt was auf den Leser zu! Die Selbstverständlichkeit mit der der irre Iwan seine Ideen umsetzt – ob nun lange im Voraus geplant oder spontan – erschrickt und fasziniert zu gleichen Teilen. Und nach jedem Umblättern fragt man sich unwillkürlich, was sich der Autor als nächstes einfallen lässt. Nur so viel sei verraten – langweilig wird’s nicht!

Filmriss

Ein Trucker fährt noch einmal los, obwohl er eigentlich seinen freien Tag hat. Doch die Angst den Job zu verlieren, die nörgelnde Kinderbande daheim samt Ehefrau lassen ihn nicht los. Und so fährt er die Strecke von San Francisco nach Los Angeles und zurück, die er tagein tagaus hinter sich bringt doch noch einmal. Eine kurze Pause, ein kurzer Flirt mit der Kellnerin, und weiter geht’s. Das kleine Mädchen, das Blumen pflückt, sieht er zu spät. Er überfährt sie. Von Panik erfasst, flüchtet er. Im Radio hört er von der Suche nach dem rücksichtslosen Trucker. Er wird gestellt. Ein wütender Mob setzt ihm heftig zu – ein Mann will ihm helfen und wird zu Tode geprügelt. „Der Mann, der davonkam“ – so sollte der Film zu diesem Plot lauten. So sieht es zumindest Richard Hudson.

Er ist der Top-Gebrauchtwagenverkäufer von Hal Honests Gebrauchtwagenimperium. Im Handumdrehen hat er einem erfolglosen Verkäufer in Los Angeles dessen Firma abgeknöpft. Er stellt einen fähigen Geschäftsführer ein. Alles läuft wie am Schnürchen. Kurze Ansage, die keine Zweifel zulässt und schon hat er, was er will. Und das nicht nur im Geschäftlichen. Und doch ist Richard Hudson gelangweilt. Es läuft einfach zu gut für ihn. Immer was auf der hohen Kante – man weiß ja nie. Immer einen Spruch und genügend Argumente auf der Zunge – man weiß ja nie. Und immer das Glück auf seiner Seite – man weiß ja nie wie lange noch.

Er kehrt sogar zu seiner Familie zurück. Die lebt immer noch in Los Angeles. Der erfolglose Vater Leo war einst ein erfolgreicher Regisseur. Seine Mutter macht im Ballettraum immer noch eine fabelhafte Figur. Und die Stiefschwester ist auch nicht zu verachten. Richard Hudson hat’s drauf!

Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen seinen Traum zu verwirklichen. Den Film machen, den er immer machen wollte. Dumm ist er nicht. Ein Drehbuch schreiben kann er auch. Pop Leo kann das beurteilen. Gesagt – getan.

Dass beim Film nicht alles wie am Schnürchen läuft, ist auch Richard nicht neu. Doch ein ausgefuchster Typ wie er, lässt sich davon nichts ins Bockshorn jagen. Schlussendlich steht der Film. Zwar keine neunzig Minuten wie der Big Boss es verlangte. Aber immerhin dreiundsechzig Minuten lang. Voller Spannung, voller Dramatik. Exzellenter Schnitt. Und dennoch … kommt alles ganz anders. Und das nicht nur wegen der Übermenge an Alkohol, die für den titelgebenden Filmriss sorgen wird.

Charles Willeford lässt einen echten Goldjungen erstehen. Ihm gelingt alles. Schnodderschauze und eine bis ins Mark reichende Gewieftheit sind die Erfolgsgaranten für den American Way of Life. Doch der ist steinig. Und es gibt immer einen, der noch gewiefter ist, und vor allem am ganz lange Ende des Hebels sitzt. Da kann man schon mal verzweifeln. Und verzweifelte Dinge tun.

Die Flucht der Dichter und Denker

Es gab nicht viele, die mit dem 1979 veröffentlichten Disco-Hit der Village People „Go West“ etwas anderes verbanden als die sagenumwobene Freiheit in San Francisco. Es gab eine Zeit, in der Go West der einzige Weg war, um überhaupt gehen zu können. Es gab zu viele, die diesen steinigen Weg gehen mussten.

Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, gab es nicht wenige, die es für eine Frage der Zeit hielten bis der Spuk vorbei sei. Aber es gab auch die großen Mahner, die die dunklen Wolken nicht mehr nur am Horizont verorteten. Eine Massenflucht der Intellektuellen, Künstler, der Elite rollte an. Erst Frankreich, dann Spanien als Transitland nach Portugal. Dort wartete der erhoffte Dampfer in die USA. Hier war die Freiheit wohl grenzenlos. Dass dem nicht immer so war, erfuhren sie erst hinterher. Auch Jahre nach dem braunen Spuk wurden Widerständler unter der Fuchtel von Senator McCarthy mit Argusaugen beobachtet, bespitzelt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Der Weg, die Strapazen, die die Flüchtigen – Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – sind oft beschrieben worden. Genauso oft aber blieben noch einige Fragen offen. Warum und an welchem Zeitpunkt wurde die Route bestimmt? Gab es Helfer? Herbert Lackner gibt in diesem Buch einige Antworten, die man so noch nie oder nur in Nebensätzen gelesen hat.

Es liest sich wie ein Krimi, wenn man von dieser Hetzjagd liest. Menschen, denen das Wohl eines ganzen Landes am Herzen lag, die sich zeitlebens der Kunst verschrieben hatten, die in ihrem Tun die Gegenwart als Basis ihres Schaffens verstanden, wurde die Lebensgrundlage entzogen. Ihr Freundeskreis war zersplittert, in alle Richtungen verstreut. Wiedersehen gab es nur sporadisch – umso heftiger die Freude. Denn überall lauerte Verrat. Misstrauen und Verzweiflung zerrütteten Allianzen.

Mit jedem Schritt gen Westen – im Osten lauerte Stalin, in Holland und Belgien war es ebenso unsicher wie im größten Teil Frankreichs und in Spanien warteten willfährige Helfer Francos auf fette Beute – wuchs die Hoffnung bald schon wieder einem halbwegs geregelten Tagwerk nachkommen zu können. Nicht jede Flucht war erfolgreich. Und die ersehnte Freiheit war auch nicht immer am ganzen Leib spürbar.

Man stelle sich vor wie die deutsche Kulturlandschaft heute aussehen würde, wenn die in diesem Buch so eindringlich beschriebenen Fluchtrouten nicht nötig gewesen wären…

My darkest prayer

Reverend Esau Watkins ist tot. Der Pfarrer der New Hope Baptist Church in Mathew County, Virginia wurde vor einigen Tagen tot aufgefunden. Nun muss Nathan Waymaker die Beerdigung vorbereiten. Es soll ein würdiges Begräbnis werden. Für einen ehrwürdigen Mann. Ein Mann mit Vergangenheit. Dieb, Dealer, Hehler, Friseurladenbesitzer. Bis er zu Gott fand. Dass er noch nicht unter der Erde liegt, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Umstände seines Todes … nun sagen wir mal … nicht ganz so natürlich zu sein scheinen wie sie es sollten.

Dass er nun doch schneller als der Situation angemessen unter die Erde kommen soll, ist den ziemlich eigenartigen Ermittlungsmethoden der örtlichen Polizisten zu verdanken. Hier stimmt was nicht! In der Gemeinde rumort es. Es muss doch einen ehrlichen, aufrichtigen Menschen geben, der den Mut aufbringt im Dreck zu wühlen, ohne sonderlich viel des selbigen aufzuwirbeln.

Nathan Waymaker scheint dieser Mann zu sein. Schon bei den Marines bekam er den Ruf eines hilfsbereiten und vor allem loyalen Menschen. Wenn Not am Manne ist, war Nathan Waymaker zur Stelle. Und dass er anpacken kann, beweist er tagein tagaus bei seiner Arbeit. Und schon stehen die Gemeindemitglieder bei ihm auf der Matte. Er muss helfen, den Tod des Reverend aufzuklären, flehen sie ihn an. Nathan willigt ein. Ohne zu wissen, worauf er in der nächsten Zeit gefasst sein muss.

Denn auch er hat eine Vergangenheit. Ein Vorleben, das nicht immer frei von Schuld war. Auf ihn gehen mehr als nur eine Kerbe im Sargdeckelholz zurück. Damals … als … er und … na ja, so gern will er nicht darüber sprechen. Und er wird es auch nicht. Das hatte er sich geschworen. Doch nun? Nun steht er selbst im Fokus von Leuten, die ihm in die Suppe spucken wollen. Und es auch können. Sie sind so wie er es fast geworden wäre. So wie es vielleicht der Reverend einmal war. Doch das ist egal. Denn Nathan ermittelt sich fast um Kopf und Kragen.

Kleinstadtidylle, das klingt nach sauberer Luft, zufriedener Nachbarschaft, glücklichem Leben. Nach außen stimmt das auch alles. Doch im Inneren ist es finster wie in den Weiten des Alls. S. A. Cosby mischt die Zufriedenheit dieser Idylle mit dem tiefsten Schwarz der sie füllenden Seelen. Da sitzt jedes Wort. Wie Peitschenhiebe durchschneidet er das Schweigen. Ohne Klischees bedienen zu müssen, zeichnet er Landschaften ins Hirn der Leser, die nur eines sein können: Absolut echt.

Beim Lesen von „My darkest prayer“ fühlt man sich wie ein Kind, das auf dem Boden sitzt, die Ellenbogen in die verschränkten Knie und den Kopf in die Handteller gestützt. Sie lauschen den Worten des Mannes im großen Lehnstuhl. Dieser Mann ist S. A. Cosby. Und er hört einfach nicht auf zu erzählen … Großartig!

Mama Day

Liest man „Mama day“ wie einen Reisebericht, ist man im Nu bereit alles stehen und liegen zu lassen, um den Süden der USA zu bereisen. Und sei es nur, um zu erkunden, ob es hier denn wirklich so aussieht wie es beschrieben ist. Denn hier muss das Paradies sein.

Liest man „Mama Day“ mit dem gebührenden Respekt für Schicksale, rührt einen die Geschichte zu Tränen. Eine Insel, zu Louisiana gehörend, die wahrhaft zu einem Paradies geworden ist für diejenigen, die unter der Knute ihre Herren, Jahrzehnte, Jahrhunderte litten.

Liest man „Mama Day“ ganz unvoreingenommen, hat man alles richtig gemacht. Die Erzählkunst ist überwältigend und findet kein Ende. Der Anfang prasselt wie ein erfrischender Regen überfallartig über einen herein. Und zwischendrin ist Cocoa. Wie jedes Jahr verbringt sie den Sommer nicht im stickigen New York, sondern auf der Insel Willow Springs. Hier herrscht mit Strenge und Sanftmut Mama Day – womit klar sein dürfte, dass es sich bei diesem Buch nicht um das erbarmungswürdige Winseln nach einem passenden Muttertagsgeschenk handelt, womit aber nicht gesagt ist, dass dieses Buch kein ideales Muttertagsgeschenk ist.

Sommer in Willow Springs – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Doch dieses Jahr ist alles anders. George ist mit von der Party. Cocoas Freund. Und mit ihm schwindet die sorgenfreie Zeit auf der Insel auf sonderbare Weise.

Irgendwo zwischen Mystik und knallhartem Überlebenskampf findet das buch seine Mitte. Beharrliche Legenden der Vergangenheit reißen alte Wunden auf und bilden neue Narben. Mama Days Großmutter scheint der Schlüssel zu allerlei aufgeworfenen Fragen zu sein. Denn das Problem ist, es gibt nicht nur eine Legende. Im Dutzend billiger – vereint im Mythos, dass vor ewigen Zeiten hier ein Mord geschah. Hinterhältig, kalkuliert, bedacht. Aber warum soll man in alten Wunden wühlen, wenn das Ergebnis für die meisten ertragbar ist?

Gloria Naylor ist die Neuentdeckung der vergangenen Jahre. Mit einem Fingerschnipp reißt sie den Leser in eine Welt über die wenig bekannt ist. Black community kann man es nennen. Zur Vereinfachung der Sachlage sicher nicht der schlechteste Ansatz. Dennoch ist dies weniger von Belang als man annimmt. Denn Neid und Missgunst sind community-übergreifend. Nach „Die Frauen vom Brewster place“ und „Linden hills“ beweist die Autorin eindrucksvoll, dass einfühlsame Literatur immer wieder kehrt und niemals eine bloße Modeerscheinung ist.

Schmales Land

Der Krieg ist seit fünf Jahren vorbei, und schon scharrt die nächste Generation, um einen Stellvertreterkrieg dieses Mal am anderen Ende der Welt zu führen. Der Waise Michael – aus dem zerbombten Deutschland ins gelobte Amerika verbracht worden – steht auf dem Bahnhof. Trotzig wehrt er sich gegen den Plan von Mrs. Aunt, wie er sie nennt, ihn gen Norden zu schicken. Dort soll er sechs – in ihren Augen wundervolle – Wochen verbringen. Bei Bekannten, ihrem Sohn Richie und einem Hund. Ist das nicht toll?! Für den verschlossenen Michael ist es das nicht! Und er wehrt sich tapfer. Doch all das Bocken und Trotzen nützt ihm nichts.

Am Cape Cod – was ist das denn für ein Name, fragt sich Michael – wird er aber bald auftauen. So viel sei schon verraten: Es wird ein Sommer, den er niemals vergessen wird. Das schmale Land wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Hier macht es sich bequem, wer es sich leisten kann. Das war schon damals, 1950, so und ist es heut noch vielmehr.

Schon bald trifft Michael auf die teils eigenartigen Bewohner dieses Landstriches. Unter anderem auch auf Mrs. Aitch. Sie hat es nicht leicht. Als Künstlerin steht sie im Schatten ihres Gatten Edward. Der kann auch schon mal ordentlich aus der Haut fahren. Dann fliegen Geschirr und die Fetzen. Aber man rauft sich ebenso auch wieder zusammen. Ach ja, dieser Edward heißt mit Familiennamen Hopper.

Ja, genau der Edward Hopper. Eine Ikone der Moderne. Doch das weiß Michael nicht. Ist ihm auch völlig egal. In seinem Ohr klingen immer noch die Worte von Mrs. Aunt. Er solle sich benehmen. Er soll artig und höflich sein. Zeigen, dass er weiß, wie man sich benimmt. Den Schein wahren.

Das Grau und Schwarz seiner ersten Jahre weicht rasch der Farbenpracht an der Ostküste der Staaten. Der Strand ist mit weichem Sand übersät. Die Menschen sind nett und freundlich zu ihm. Hinter vorgehaltener Hand wird zwar das Eine oder Andere gelästert. Aber im Paradies (auch wenn Michael es nicht kennt und nicht richtig einordnen kann, so versteht er doch die Idylle auf seine ihm eigene Art zu genießen) ist eben doch nicht alles paradiesisch. Mrs. Aitch kann davon mehr als nur ein Lied singen…

Christine Dwyer Hickey schafft es mit der Kraft ihrer Phantasie dem Phänomen Edward Hopper auf die Spur zu kommen. Es ist eine Episode aus dem Leben den Künstler verwoben mit dem Schicksal eines Kindes, das Dinge erlebt hat, die man keinem Menschen wünscht. Kleine Splitter aus dem zerrissenen Leben zweier Menschen, die zu einem Puzzle zusammengefügt werden und ein Bild ergeben, das man so schnell nicht vergisst.

Überfluss

Eine nach oben gereckte Hand, im Inhaltsverzeichnis Zahlen mit einem Dollarzeichen dahinter – hier scheint es sich um einen Roman zu handeln, in dem es um das mehr oder weniger vorhandene Geld und den Kampf um selbiges zu handeln. Ja. Ein kämpferisches Buch mit zwei Protagonisten, die nichts anderes kennen als tagein tagaus mit Grips und Tatkraft den Folgetag erleben zu können. Soweit die Fakten.

Jakob Guanzon macht aus diesem wenig liebevollen Zustand eine Geschichte, die den Leser fesselt und nie wieder loslassen wird. Und: Es ist sein Erstlingsroman! Henry und sein Sohn Junior sind unterwegs. Nicht irgendwohin, sondern unterwegs, weil sie nicht anders können. Ihr fahrbarer Untersatz ist mehr als nur das. Es ist ihr Ein und Alles. Das Haus – verloren. Was heißt hier Haus! Selbst aus dem Trailerpark, im Allgemeinen die unterste Stufe der Behausung – sind sie rausgeflogen. Das letzte Mal, dass Henry einen festen (im wahrsten Sinne des Wortes) Wohnsitz hatte, war als er eine Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels verbüßen musste. Und nun geht es auf einen Roadtrip ins Nirgendwo. Henry passt ganz genau auf, dass Junior diese Zeit nicht als Zeit des Mangels in Erinnerung behalten wird.

Es klingt paradox, doch das Vater-Sohn-Gespann lebt im Überfluss. Und zwar mittendrin. Aber sie sind nicht Teil des Überflusses. Wie unbeteiligte Zuschauer in einem lahmen Theaterstück, das einzig allein vom Lichterglanz und der unermüdlichen Effekthascherei derer lebt, die den Überfluss genießen können oder – noch schlimmer – inmitten derer, die diesen Überfluss zu verantworten haben. Egal, ob sie dies bewusst tun oder selbst in einer Tretmühle stecken.

In Rückblenden bekommt die Gegenwart eine nachvollziehbare Vergangenheit. Henry ist nicht der typische Verlierer, der durch die Chuzpe anderer in sein Dilemma geraten ist. Ein bisschen Mitschuld trägt er selbst. Umso mehr bemüht er sich – mit mehr oder weniger anhaltendem Erfolg – Junior das gleiche Schicksal zu ersparen.

Wortgewaltig und immens gefühlvoll verzaubert Jakob Guanzon fortwährend und gibt Einblicke in eine Welt, die man lieber nur von außen betrachtet. Ein Pickup als small world refugium, die Phantasie als Spielplatz der Möglichkeiten und die Welt da draußen als vermeintliches Ideal, dem man nachhecheln muss. Manchmal ist es so einfach glücklich zu sein. Aber manchmal ist es auch verdammt schwer. Von diesem Widerspruch lebt dieser Roman. Die Intensität schöpft das Werk aus der gefühlvollen Empathie des Autors für seine Figuren. Wer „Überfluss“ liest, erlebt ihn selbst, den Überfluss. Der Überfluss an Gefühlen und Hoffnung.

Buch der Tage

Patti Smith schreibt seitdem sie schreiben kann. Den meisten ist sie als Sängerin bekannt. Vielen sind ihre Bilder – bis vor wenigen Jahren waren Polaroids ihr bevorzugtes Stilmittel – ein Begriff. Auch als Schriftstellerin hat sie sich einen Namen gemacht. Eine Künstlerin durch und durch, 24/7.

Vor ein paar Jahren hat sie sich dazu entschlossen einen Instagram-Account zu eröffnen. Wie sie selbst sagt, um denen, die in ihrem Namen Spenden einheimsen wollen, die echte Patti Smith entgegenzustellen. Das harte Los einer berühmten Persönlichkeit. Aber was wäre eine Künstlerin, wenn sie nicht auch diese Plattform als Ausdrucksmittel einzusetzen verstünde?!

Und nun das „Buch der Tage“. Ein Buch, das so schon existiert. Da gibt es doch tatsächlich Bücher, die die Posts von Instagram einfach noch mal in Buchform auf den Markt schmeißen. Manchmal sogar nicht einmal von echten Menschen, sondern ihren Haustieren. Das geht oft bis immer schief, weil es wirklich niemanden interessiert, wann die Miezi etwas schräg in die Kamera glotzt und man sich – als Mensch – darüber vor Lachen krümmt. Irgendwann ist jeder Gag einmal ein gelutschter Drops.

Diese Gefahr besteht bei Patti Smith nicht. Ihr Bilderarchiv muss wie das Weltall unendliche Weiten umfassen. Nicht nur, was die Quantität betrifft, nein, auch die Qualität – sprich Themenvielfalt – ist fast unüberschaubar. Und so taucht man in eine Welt ein, die man sich – egal, ob Fan oder nicht – kaum zu erträumen gehofft hat. Pattis Smith behält sich natürlich das Recht vor nur das zu zeigen, was sie möchte. Sie muss nicht jeden Tag ihr Frühstück mit der Welt teilen. Auch nicht ihr neues It-Piece. Und schon gar nicht irgendwelchen anderen belanglosen Trash, den nur seelenlose Follower als Einblick ins Seelenleben der Stars erkennen wollen.

Hier ist eine Zeitreise in Buchform für einen Kreis von Menschen, die sich nicht nur oberflächlich verführen lassen. Von Rom und Paris über New York reist man in Bildern und Gedanken (den eigenen und denen von Patti Smith) um die Welt, die immer kleiner zu werden scheint. Was sie natürlich nicht tut, aber das Bilder, das vermittelt wird, hat auch seine Vorteile. Da man scheinbar ungezwungen binnen Bruchteilen von Sekunden in eine andere Welt eintauchen kann.

Von Ballettschuhen und dem Portrait von Greta Thunberg, vom dichten Wald bis zu Glenn Gold, von Bobby Fischer Grab bis zu einem Hufeisen, das sie auf dem Anwesen von Arthur Rimbaud gefunden hat – Patti Smiths Auge entgeht nichts. Wer schon einmal das stakkatoartige „Horses, horses, horses, horses“ auf einem verlassenen Industriegelände gehört hat, an dem ein endloser Güterzug vorbeirattert, kennt die Kraft, die Patti Smith verströmen kann. Immer tiefer ziehen ihre Bilder und kurzen Texte denn Leser in ihre Welt, ohne jemals ernsthaft in Gefahr zu geraten. Es ist eine Kunst sich selbst zu inszenieren ohne dabei selbst zum Objekt der Begierde zu werden. Patti Smith for real and forever.

Die Süße von Wasser

„The war is over!“, so schön diese Worte klingen mögen, er ist es nicht. Die Nachwehen eines jeden Krieges sind für manche verheerender als der Krieg selbst. Der amerikanische Bürgerkrieg ist aus. Der Norden hat den Süden besiegt, die Sklaverei ist abgeschafft. So das Resultat, wenn man es auf einem Blatt Papier kurz geschrieben liest. Dass das natürlich nicht so ist, beweist Nathan Harris mit seinem Debütroman.

Die Brüder Prentiss und Landry sind auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie wurde als Sklavin verkauft. Jetzt, da die Kanonen schweigen, ist es in ihrem kurzen Leben wohl die beste Zeit sich auf die Suche zu machen. On Old Ox, Georgia (Südstaaten!) verdienen sie sich ein paar Münzen, um ihren Weg alsbald fortsetzen zu können. Die Besitzer der Farm, George und Isabelle, sind ebenso vom Krieg betroffen gewesen. Ihr Sohn starb in diesem unsäglichen Krieg. Insgeheim hoffen sie auf Linderung in ihrer Trauer als das Brüderpaar sich bei ihnen vorstellt. Es entwickelt sich sogar eine richtige Freundschaft zwischen den beiden Paaren. Nun liegt Old Ox in Georgia – Sklaverei war hier seit Ewigkeiten Normalzustand. Eine Freundschaft zwischen einem Farmerpaar, das aufgrund ihrer Besitzverhältnisse eine andere Hautfarbe hat als die des Bruderpaares, das sich hier etwas dazuverdienen will, um die beschwerliche Reise ohne konkretes, geographisch zu verortendes Ziel, weiterzuführen, stößt in Old Ox nicht gerade auf jubelnde Mengen. Vielmehr sind es anfangs tuschelnde, später keifende Schreie, die der Idylle allzu schnell ein Ende setzen.

Das alles ist schon Stoff genug für ein beeindruckendes Buch über die Umwälzungen in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Doch Buch und Autor standen nicht umsonst auf der Longlist des renommierten Booker-Prize. Nathan Harris fügt seiner Geschichte noch ein drittes Paar hinzu. Zwei Soldaten, die den Krieg hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen wollen. Und das NEU in neues Leben ist wirklich neu! Für die Einwohner von Old Ox. Das Rumoren im Ort wird lauter und lauter und entlädt sich in einem gigantischen Knall. Ein Mord bricht die Idylle und noch vorherrschende Ruhe auf brüchigem Boden. Ein Boden, der alsbald von Vorurteilen und Rückwärtsgewandtheit erste Risse bekommt. Die Lava des Hasses und aufgestauter Wut tritt unter die sengende Sonne des Südens. Ehe sich alle Beteiligten versehen, beherrschen alte Denkmuster die Szenerie.

Ein Krieg kennt keine Gewinner, zumindest keine Allesgewinner. Jeder muss Abstriche machen. Die Errungenschaften der Sieger werden nicht von allen akzeptiert. Und wenn sich die Gelegenheit bietet alte Strukturen wieder herzustellen, nutzen die Ewiggestrigen jede sich ihnen bietende Chance, um die „guten, alten Zeiten“ wieder aufleben zu lassen. Das kann kein gutes Ende nehmen…