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Die Flucht der Dichter und Denker

Es gab nicht viele, die mit dem 1979 veröffentlichten Disco-Hit der Village People „Go West“ etwas anderes verbanden als die sagenumwobene Freiheit in San Francisco. Es gab eine Zeit, in der Go West der einzige Weg war, um überhaupt gehen zu können. Es gab zu viele, die diesen steinigen Weg gehen mussten.

Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, gab es nicht wenige, die es für eine Frage der Zeit hielten bis der Spuk vorbei sei. Aber es gab auch die großen Mahner, die die dunklen Wolken nicht mehr nur am Horizont verorteten. Eine Massenflucht der Intellektuellen, Künstler, der Elite rollte an. Erst Frankreich, dann Spanien als Transitland nach Portugal. Dort wartete der erhoffte Dampfer in die USA. Hier war die Freiheit wohl grenzenlos. Dass dem nicht immer so war, erfuhren sie erst hinterher. Auch Jahre nach dem braunen Spuk wurden Widerständler unter der Fuchtel von Senator McCarthy mit Argusaugen beobachtet, bespitzelt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Der Weg, die Strapazen, die die Flüchtigen – Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – sind oft beschrieben worden. Genauso oft aber blieben noch einige Fragen offen. Warum und an welchem Zeitpunkt wurde die Route bestimmt? Gab es Helfer? Herbert Lackner gibt in diesem Buch einige Antworten, die man so noch nie oder nur in Nebensätzen gelesen hat.

Es liest sich wie ein Krimi, wenn man von dieser Hetzjagd liest. Menschen, denen das Wohl eines ganzen Landes am Herzen lag, die sich zeitlebens der Kunst verschrieben hatten, die in ihrem Tun die Gegenwart als Basis ihres Schaffens verstanden, wurde die Lebensgrundlage entzogen. Ihr Freundeskreis war zersplittert, in alle Richtungen verstreut. Wiedersehen gab es nur sporadisch – umso heftiger die Freude. Denn überall lauerte Verrat. Misstrauen und Verzweiflung zerrütteten Allianzen.

Mit jedem Schritt gen Westen – im Osten lauerte Stalin, in Holland und Belgien war es ebenso unsicher wie im größten Teil Frankreichs und in Spanien warteten willfährige Helfer Francos auf fette Beute – wuchs die Hoffnung bald schon wieder einem halbwegs geregelten Tagwerk nachkommen zu können. Nicht jede Flucht war erfolgreich. Und die ersehnte Freiheit war auch nicht immer am ganzen Leib spürbar.

Man stelle sich vor wie die deutsche Kulturlandschaft heute aussehen würde, wenn die in diesem Buch so eindringlich beschriebenen Fluchtrouten nicht nötig gewesen wären…

My darkest prayer

Reverend Esau Watkins ist tot. Der Pfarrer der New Hope Baptist Church in Mathew County, Virginia wurde vor einigen Tagen tot aufgefunden. Nun muss Nathan Waymaker die Beerdigung vorbereiten. Es soll ein würdiges Begräbnis werden. Für einen ehrwürdigen Mann. Ein Mann mit Vergangenheit. Dieb, Dealer, Hehler, Friseurladenbesitzer. Bis er zu Gott fand. Dass er noch nicht unter der Erde liegt, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Umstände seines Todes … nun sagen wir mal … nicht ganz so natürlich zu sein scheinen wie sie es sollten.

Dass er nun doch schneller als der Situation angemessen unter die Erde kommen soll, ist den ziemlich eigenartigen Ermittlungsmethoden der örtlichen Polizisten zu verdanken. Hier stimmt was nicht! In der Gemeinde rumort es. Es muss doch einen ehrlichen, aufrichtigen Menschen geben, der den Mut aufbringt im Dreck zu wühlen, ohne sonderlich viel des selbigen aufzuwirbeln.

Nathan Waymaker scheint dieser Mann zu sein. Schon bei den Marines bekam er den Ruf eines hilfsbereiten und vor allem loyalen Menschen. Wenn Not am Manne ist, war Nathan Waymaker zur Stelle. Und dass er anpacken kann, beweist er tagein tagaus bei seiner Arbeit. Und schon stehen die Gemeindemitglieder bei ihm auf der Matte. Er muss helfen, den Tod des Reverend aufzuklären, flehen sie ihn an. Nathan willigt ein. Ohne zu wissen, worauf er in der nächsten Zeit gefasst sein muss.

Denn auch er hat eine Vergangenheit. Ein Vorleben, das nicht immer frei von Schuld war. Auf ihn gehen mehr als nur eine Kerbe im Sargdeckelholz zurück. Damals … als … er und … na ja, so gern will er nicht darüber sprechen. Und er wird es auch nicht. Das hatte er sich geschworen. Doch nun? Nun steht er selbst im Fokus von Leuten, die ihm in die Suppe spucken wollen. Und es auch können. Sie sind so wie er es fast geworden wäre. So wie es vielleicht der Reverend einmal war. Doch das ist egal. Denn Nathan ermittelt sich fast um Kopf und Kragen.

Kleinstadtidylle, das klingt nach sauberer Luft, zufriedener Nachbarschaft, glücklichem Leben. Nach außen stimmt das auch alles. Doch im Inneren ist es finster wie in den Weiten des Alls. S. A. Cosby mischt die Zufriedenheit dieser Idylle mit dem tiefsten Schwarz der sie füllenden Seelen. Da sitzt jedes Wort. Wie Peitschenhiebe durchschneidet er das Schweigen. Ohne Klischees bedienen zu müssen, zeichnet er Landschaften ins Hirn der Leser, die nur eines sein können: Absolut echt.

Beim Lesen von „My darkest prayer“ fühlt man sich wie ein Kind, das auf dem Boden sitzt, die Ellenbogen in die verschränkten Knie und den Kopf in die Handteller gestützt. Sie lauschen den Worten des Mannes im großen Lehnstuhl. Dieser Mann ist S. A. Cosby. Und er hört einfach nicht auf zu erzählen … Großartig!

Mama Day

Liest man „Mama day“ wie einen Reisebericht, ist man im Nu bereit alles stehen und liegen zu lassen, um den Süden der USA zu bereisen. Und sei es nur, um zu erkunden, ob es hier denn wirklich so aussieht wie es beschrieben ist. Denn hier muss das Paradies sein.

Liest man „Mama Day“ mit dem gebührenden Respekt für Schicksale, rührt einen die Geschichte zu Tränen. Eine Insel, zu Louisiana gehörend, die wahrhaft zu einem Paradies geworden ist für diejenigen, die unter der Knute ihre Herren, Jahrzehnte, Jahrhunderte litten.

Liest man „Mama Day“ ganz unvoreingenommen, hat man alles richtig gemacht. Die Erzählkunst ist überwältigend und findet kein Ende. Der Anfang prasselt wie ein erfrischender Regen überfallartig über einen herein. Und zwischendrin ist Cocoa. Wie jedes Jahr verbringt sie den Sommer nicht im stickigen New York, sondern auf der Insel Willow Springs. Hier herrscht mit Strenge und Sanftmut Mama Day – womit klar sein dürfte, dass es sich bei diesem Buch nicht um das erbarmungswürdige Winseln nach einem passenden Muttertagsgeschenk handelt, womit aber nicht gesagt ist, dass dieses Buch kein ideales Muttertagsgeschenk ist.

Sommer in Willow Springs – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Doch dieses Jahr ist alles anders. George ist mit von der Party. Cocoas Freund. Und mit ihm schwindet die sorgenfreie Zeit auf der Insel auf sonderbare Weise.

Irgendwo zwischen Mystik und knallhartem Überlebenskampf findet das buch seine Mitte. Beharrliche Legenden der Vergangenheit reißen alte Wunden auf und bilden neue Narben. Mama Days Großmutter scheint der Schlüssel zu allerlei aufgeworfenen Fragen zu sein. Denn das Problem ist, es gibt nicht nur eine Legende. Im Dutzend billiger – vereint im Mythos, dass vor ewigen Zeiten hier ein Mord geschah. Hinterhältig, kalkuliert, bedacht. Aber warum soll man in alten Wunden wühlen, wenn das Ergebnis für die meisten ertragbar ist?

Gloria Naylor ist die Neuentdeckung der vergangenen Jahre. Mit einem Fingerschnipp reißt sie den Leser in eine Welt über die wenig bekannt ist. Black community kann man es nennen. Zur Vereinfachung der Sachlage sicher nicht der schlechteste Ansatz. Dennoch ist dies weniger von Belang als man annimmt. Denn Neid und Missgunst sind community-übergreifend. Nach „Die Frauen vom Brewster place“ und „Linden hills“ beweist die Autorin eindrucksvoll, dass einfühlsame Literatur immer wieder kehrt und niemals eine bloße Modeerscheinung ist.

Schmales Land

Der Krieg ist seit fünf Jahren vorbei, und schon scharrt die nächste Generation, um einen Stellvertreterkrieg dieses Mal am anderen Ende der Welt zu führen. Der Waise Michael – aus dem zerbombten Deutschland ins gelobte Amerika verbracht worden – steht auf dem Bahnhof. Trotzig wehrt er sich gegen den Plan von Mrs. Aunt, wie er sie nennt, ihn gen Norden zu schicken. Dort soll er sechs – in ihren Augen wundervolle – Wochen verbringen. Bei Bekannten, ihrem Sohn Richie und einem Hund. Ist das nicht toll?! Für den verschlossenen Michael ist es das nicht! Und er wehrt sich tapfer. Doch all das Bocken und Trotzen nützt ihm nichts.

Am Cape Cod – was ist das denn für ein Name, fragt sich Michael – wird er aber bald auftauen. So viel sei schon verraten: Es wird ein Sommer, den er niemals vergessen wird. Das schmale Land wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Hier macht es sich bequem, wer es sich leisten kann. Das war schon damals, 1950, so und ist es heut noch vielmehr.

Schon bald trifft Michael auf die teils eigenartigen Bewohner dieses Landstriches. Unter anderem auch auf Mrs. Aitch. Sie hat es nicht leicht. Als Künstlerin steht sie im Schatten ihres Gatten Edward. Der kann auch schon mal ordentlich aus der Haut fahren. Dann fliegen Geschirr und die Fetzen. Aber man rauft sich ebenso auch wieder zusammen. Ach ja, dieser Edward heißt mit Familiennamen Hopper.

Ja, genau der Edward Hopper. Eine Ikone der Moderne. Doch das weiß Michael nicht. Ist ihm auch völlig egal. In seinem Ohr klingen immer noch die Worte von Mrs. Aunt. Er solle sich benehmen. Er soll artig und höflich sein. Zeigen, dass er weiß, wie man sich benimmt. Den Schein wahren.

Das Grau und Schwarz seiner ersten Jahre weicht rasch der Farbenpracht an der Ostküste der Staaten. Der Strand ist mit weichem Sand übersät. Die Menschen sind nett und freundlich zu ihm. Hinter vorgehaltener Hand wird zwar das Eine oder Andere gelästert. Aber im Paradies (auch wenn Michael es nicht kennt und nicht richtig einordnen kann, so versteht er doch die Idylle auf seine ihm eigene Art zu genießen) ist eben doch nicht alles paradiesisch. Mrs. Aitch kann davon mehr als nur ein Lied singen…

Christine Dwyer Hickey schafft es mit der Kraft ihrer Phantasie dem Phänomen Edward Hopper auf die Spur zu kommen. Es ist eine Episode aus dem Leben den Künstler verwoben mit dem Schicksal eines Kindes, das Dinge erlebt hat, die man keinem Menschen wünscht. Kleine Splitter aus dem zerrissenen Leben zweier Menschen, die zu einem Puzzle zusammengefügt werden und ein Bild ergeben, das man so schnell nicht vergisst.

Überfluss

Eine nach oben gereckte Hand, im Inhaltsverzeichnis Zahlen mit einem Dollarzeichen dahinter – hier scheint es sich um einen Roman zu handeln, in dem es um das mehr oder weniger vorhandene Geld und den Kampf um selbiges zu handeln. Ja. Ein kämpferisches Buch mit zwei Protagonisten, die nichts anderes kennen als tagein tagaus mit Grips und Tatkraft den Folgetag erleben zu können. Soweit die Fakten.

Jakob Guanzon macht aus diesem wenig liebevollen Zustand eine Geschichte, die den Leser fesselt und nie wieder loslassen wird. Und: Es ist sein Erstlingsroman! Henry und sein Sohn Junior sind unterwegs. Nicht irgendwohin, sondern unterwegs, weil sie nicht anders können. Ihr fahrbarer Untersatz ist mehr als nur das. Es ist ihr Ein und Alles. Das Haus – verloren. Was heißt hier Haus! Selbst aus dem Trailerpark, im Allgemeinen die unterste Stufe der Behausung – sind sie rausgeflogen. Das letzte Mal, dass Henry einen festen (im wahrsten Sinne des Wortes) Wohnsitz hatte, war als er eine Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels verbüßen musste. Und nun geht es auf einen Roadtrip ins Nirgendwo. Henry passt ganz genau auf, dass Junior diese Zeit nicht als Zeit des Mangels in Erinnerung behalten wird.

Es klingt paradox, doch das Vater-Sohn-Gespann lebt im Überfluss. Und zwar mittendrin. Aber sie sind nicht Teil des Überflusses. Wie unbeteiligte Zuschauer in einem lahmen Theaterstück, das einzig allein vom Lichterglanz und der unermüdlichen Effekthascherei derer lebt, die den Überfluss genießen können oder – noch schlimmer – inmitten derer, die diesen Überfluss zu verantworten haben. Egal, ob sie dies bewusst tun oder selbst in einer Tretmühle stecken.

In Rückblenden bekommt die Gegenwart eine nachvollziehbare Vergangenheit. Henry ist nicht der typische Verlierer, der durch die Chuzpe anderer in sein Dilemma geraten ist. Ein bisschen Mitschuld trägt er selbst. Umso mehr bemüht er sich – mit mehr oder weniger anhaltendem Erfolg – Junior das gleiche Schicksal zu ersparen.

Wortgewaltig und immens gefühlvoll verzaubert Jakob Guanzon fortwährend und gibt Einblicke in eine Welt, die man lieber nur von außen betrachtet. Ein Pickup als small world refugium, die Phantasie als Spielplatz der Möglichkeiten und die Welt da draußen als vermeintliches Ideal, dem man nachhecheln muss. Manchmal ist es so einfach glücklich zu sein. Aber manchmal ist es auch verdammt schwer. Von diesem Widerspruch lebt dieser Roman. Die Intensität schöpft das Werk aus der gefühlvollen Empathie des Autors für seine Figuren. Wer „Überfluss“ liest, erlebt ihn selbst, den Überfluss. Der Überfluss an Gefühlen und Hoffnung.

Buch der Tage

Patti Smith schreibt seitdem sie schreiben kann. Den meisten ist sie als Sängerin bekannt. Vielen sind ihre Bilder – bis vor wenigen Jahren waren Polaroids ihr bevorzugtes Stilmittel – ein Begriff. Auch als Schriftstellerin hat sie sich einen Namen gemacht. Eine Künstlerin durch und durch, 24/7.

Vor ein paar Jahren hat sie sich dazu entschlossen einen Instagram-Account zu eröffnen. Wie sie selbst sagt, um denen, die in ihrem Namen Spenden einheimsen wollen, die echte Patti Smith entgegenzustellen. Das harte Los einer berühmten Persönlichkeit. Aber was wäre eine Künstlerin, wenn sie nicht auch diese Plattform als Ausdrucksmittel einzusetzen verstünde?!

Und nun das „Buch der Tage“. Ein Buch, das so schon existiert. Da gibt es doch tatsächlich Bücher, die die Posts von Instagram einfach noch mal in Buchform auf den Markt schmeißen. Manchmal sogar nicht einmal von echten Menschen, sondern ihren Haustieren. Das geht oft bis immer schief, weil es wirklich niemanden interessiert, wann die Miezi etwas schräg in die Kamera glotzt und man sich – als Mensch – darüber vor Lachen krümmt. Irgendwann ist jeder Gag einmal ein gelutschter Drops.

Diese Gefahr besteht bei Patti Smith nicht. Ihr Bilderarchiv muss wie das Weltall unendliche Weiten umfassen. Nicht nur, was die Quantität betrifft, nein, auch die Qualität – sprich Themenvielfalt – ist fast unüberschaubar. Und so taucht man in eine Welt ein, die man sich – egal, ob Fan oder nicht – kaum zu erträumen gehofft hat. Pattis Smith behält sich natürlich das Recht vor nur das zu zeigen, was sie möchte. Sie muss nicht jeden Tag ihr Frühstück mit der Welt teilen. Auch nicht ihr neues It-Piece. Und schon gar nicht irgendwelchen anderen belanglosen Trash, den nur seelenlose Follower als Einblick ins Seelenleben der Stars erkennen wollen.

Hier ist eine Zeitreise in Buchform für einen Kreis von Menschen, die sich nicht nur oberflächlich verführen lassen. Von Rom und Paris über New York reist man in Bildern und Gedanken (den eigenen und denen von Patti Smith) um die Welt, die immer kleiner zu werden scheint. Was sie natürlich nicht tut, aber das Bilder, das vermittelt wird, hat auch seine Vorteile. Da man scheinbar ungezwungen binnen Bruchteilen von Sekunden in eine andere Welt eintauchen kann.

Von Ballettschuhen und dem Portrait von Greta Thunberg, vom dichten Wald bis zu Glenn Gold, von Bobby Fischer Grab bis zu einem Hufeisen, das sie auf dem Anwesen von Arthur Rimbaud gefunden hat – Patti Smiths Auge entgeht nichts. Wer schon einmal das stakkatoartige „Horses, horses, horses, horses“ auf einem verlassenen Industriegelände gehört hat, an dem ein endloser Güterzug vorbeirattert, kennt die Kraft, die Patti Smith verströmen kann. Immer tiefer ziehen ihre Bilder und kurzen Texte denn Leser in ihre Welt, ohne jemals ernsthaft in Gefahr zu geraten. Es ist eine Kunst sich selbst zu inszenieren ohne dabei selbst zum Objekt der Begierde zu werden. Patti Smith for real and forever.

Die Süße von Wasser

„The war is over!“, so schön diese Worte klingen mögen, er ist es nicht. Die Nachwehen eines jeden Krieges sind für manche verheerender als der Krieg selbst. Der amerikanische Bürgerkrieg ist aus. Der Norden hat den Süden besiegt, die Sklaverei ist abgeschafft. So das Resultat, wenn man es auf einem Blatt Papier kurz geschrieben liest. Dass das natürlich nicht so ist, beweist Nathan Harris mit seinem Debütroman.

Die Brüder Prentiss und Landry sind auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie wurde als Sklavin verkauft. Jetzt, da die Kanonen schweigen, ist es in ihrem kurzen Leben wohl die beste Zeit sich auf die Suche zu machen. On Old Ox, Georgia (Südstaaten!) verdienen sie sich ein paar Münzen, um ihren Weg alsbald fortsetzen zu können. Die Besitzer der Farm, George und Isabelle, sind ebenso vom Krieg betroffen gewesen. Ihr Sohn starb in diesem unsäglichen Krieg. Insgeheim hoffen sie auf Linderung in ihrer Trauer als das Brüderpaar sich bei ihnen vorstellt. Es entwickelt sich sogar eine richtige Freundschaft zwischen den beiden Paaren. Nun liegt Old Ox in Georgia – Sklaverei war hier seit Ewigkeiten Normalzustand. Eine Freundschaft zwischen einem Farmerpaar, das aufgrund ihrer Besitzverhältnisse eine andere Hautfarbe hat als die des Bruderpaares, das sich hier etwas dazuverdienen will, um die beschwerliche Reise ohne konkretes, geographisch zu verortendes Ziel, weiterzuführen, stößt in Old Ox nicht gerade auf jubelnde Mengen. Vielmehr sind es anfangs tuschelnde, später keifende Schreie, die der Idylle allzu schnell ein Ende setzen.

Das alles ist schon Stoff genug für ein beeindruckendes Buch über die Umwälzungen in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Doch Buch und Autor standen nicht umsonst auf der Longlist des renommierten Booker-Prize. Nathan Harris fügt seiner Geschichte noch ein drittes Paar hinzu. Zwei Soldaten, die den Krieg hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen wollen. Und das NEU in neues Leben ist wirklich neu! Für die Einwohner von Old Ox. Das Rumoren im Ort wird lauter und lauter und entlädt sich in einem gigantischen Knall. Ein Mord bricht die Idylle und noch vorherrschende Ruhe auf brüchigem Boden. Ein Boden, der alsbald von Vorurteilen und Rückwärtsgewandtheit erste Risse bekommt. Die Lava des Hasses und aufgestauter Wut tritt unter die sengende Sonne des Südens. Ehe sich alle Beteiligten versehen, beherrschen alte Denkmuster die Szenerie.

Ein Krieg kennt keine Gewinner, zumindest keine Allesgewinner. Jeder muss Abstriche machen. Die Errungenschaften der Sieger werden nicht von allen akzeptiert. Und wenn sich die Gelegenheit bietet alte Strukturen wieder herzustellen, nutzen die Ewiggestrigen jede sich ihnen bietende Chance, um die „guten, alten Zeiten“ wieder aufleben zu lassen. Das kann kein gutes Ende nehmen…

Hemingway im Schwarzwald

Hemingway – ein Name wie Donnerhall. Als der kleine Ernie 1899 zur Welt kam, war das sicher nur ein kindliches Schreien. Ein paar Jahrzehnte später jedoch war der als Stilikone nicht mehr vom Thron zu stürzen. Muss ein gutes Jahr gewesen sein, dieses 1899: Ein anderer Künstler, der eine ganze Branche prägte, wurde ebenfalls im Sommer 1899 geboren. Alfred Hitchcock. Der bezog seine Genialität aus den Erfahrungen seiner Kindheit.

Hemingway ebenso.

Ernie, wie er oft genannt wurde, zog es früh an den Schreibtisch. Und das ist in seinem Fall wortwörtlich gemeint. Als Journalist für den Toronto Star schickte man dem Teenageralter Entwachsenen nach Paris. Das muss man sich mal vorstellen. Gerade mal alt genug, um in einer Bar Alkohol zu bekommen und dann ins Paris, das vor Verlockungen nur so strotzte. Zu einer Zeit, in der Europa einen gewaltigen Umbruch erlebte, und noch erleben sollte. Der Krieg – die Ordnungszahl ließ man glückverheißend oder unglückunwissend beiseite – war nur auf dem Reißbrett und dem Diktatspapier vorbei. Doch die neu gezogenen Grenzen noch lange nicht akzeptiert.

Nun ist der aufstrebende, vor Tatendrang strotzende junge Autor in der Stadt, die für Künstler das Paradies ist (noch nicht finanziell), in einem Land, das einen verheerenden Krieg verkraften muss und auf einem Kontinent, der brachliegt. Doch irgendwann kommt auch für ihn die Zeit sich einmal Ruhe zu gönnen.

Deutschland soll es sein. Freiburg, nicht weit von der Grenze entfernt. Der Schwarzwald erinnert ihn an seine Heimat. Dort, wo er das Fischen erlernt und lieben gelernt hat. Doch viele sind misstrauisch, besonders die Wirtsleute. Zum Glück ist der Wechselkurs im August 1922 sehr günstig. Für einen Dollar gibt’s mehr als sechshundert Mark – als er Deutschland ein paar Wochen später wieder verlässt, ist es mehr als das Doppelte. Ein Jahr später hätte er das Billionenfache bekommen… Da jetzt einen Zusammenhang herzustellen, wäre eine Milchmädchenrechnung. Fakt jedoch ist: Hemingway kehrt zurück nach Paris, seine Ehe geht ihrem Ende entgegen und sein Schreibdrang, das Verlangen nach literarischer Betätigung steigt und steigt. Schon bald erscheint seine erste Erzählung. Später wird sein Aufenthalt im Schwarzwald in „Schnee am Kilimandscharo“ den Raum einnehmen, den man so nicht vermuten konnte.

Thomas Fuchs folgt den Spuren des Literaturnobelpreisträgers durch den Schwarzwald. Mit viel Anlauf – ohne die zeit zuvor zu kennen, fehlen dem Leser die Verknüpfungen zur Besonderheit dieses Urlaubs im Schwarzwald – sammelt er immer mehr Spuren und nimmt Fährten auf, die schlussendlich in einer Geschichte zusammenfinden, die dem Meister alle Ehre machen würden. Es ist nur eine Anekdote im ereignisreichen (selbst veröffentlichten) Leben Hemingways. Aber eine, die großen Einfluss auf den viel zu kurzen Rest des selbigen hatte. Für Fans ein Muss, für Neugierige ein gefundenes Fressen.

Die Frauen von Brewster Place

Brewster Place – vier Blöcke und am Ende der Straße eine Mauer, die mehr ist als nur ein Sichtschutz. Es ist die Grenze. Eine Grenze, die nur diejenigen überschauen können, die ganz oben wohnen und den Hals weit rausstrecken können. Hier leben die, die nicht (mehr) wegkommen. Doch sie leben hier alle zusammen. Mit ihren Träumen, ihren Wehwehchen, ihrem Glauben und der Zuversicht, dass der morgige Tag auch nicht viel anders sein wird als die vergangenen. Für die meisten ist das sogar gut so. Getratsche, Leidklagen, Nachbarschaftshilfe – auch das ist Brewster Place. Die große Stadt ist gleich um die Ecke, geographisch. Die große Stadt ist ganz weit weg, in Echt.

Mattie Michael ist so was wie die gute Seele des Blocks. Zu ihr kommt man oder sie kommt zu einem. Immer einen Rat oder zumindest eine Lebensweisheit auf den Lippen. Zusammen mit Etta Johnson besucht sie regelmäßig die Kirche. Doch die beiden Frauen haben unterschiedliche Beweggründe das Gotteshaus aufzusuchen. Rat und Trost und die Suche nach dem Glück. Eine gewaltige Mischung, die nicht zwingend zur Explosion führen muss. Doch die Unterschiedlichkeit sorgt so manches Mal für eine gereizte Stimmung.

Auch Kiswana Browne wohnt hier. Tief im Inneren ist sie eine militante Black Power Sympathisantin. Doch der Trieb wächst sich einfach nicht aus ihr heraus. Lackierte Zehennägel sind öfter wichtiger als der Kampf gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Wohl auch, weil der Kampf in ihren Augen erfolglos erscheinen mag. Die Streitigkeiten mit ihrer Mutter hingegen sind real und allgegenwärtig.

Cora Lee führt auch einen Kampf. Den gegen ihre eigene Kinderschar. Nicht falsch verstehen. Sie liebt jedes ihrer Kinder. Doch machen die es ihr von Mal zu Mal schwerer. Da der Zahnarzt einem der Sprössling Zucker und Süßigkeiten verboten hat, sucht sich das liebe Kind das ersehnte Glukoseglück eben in der Mülltonne. Das bleibt den Nachbarn nicht verborgen und schon stehen sie bei der Mutter auf der Matte.

Gloria Naylors Schriftstellerinnen-Karriere begann mit „Brewster Place“. Hier ist immer was los. Hier tobt das Leben. Hier langweilt sich der Stillstand zu Tode. Rührende Charakterstudien, treffliche Beschreibungen von Menschen, die nichts mehr aus der Bahn werfen kann, rumorende Konflikte – und dennoch bekommt man nie das Gefühl, dass hier die Welt aus den fugen geraten ist. Man arrangiert sich nicht mit den Problemen, man bietet ihnen die Stirn. Das funktioniert nur, weil in diesen vier Häusern eine Gemeinschaft gewachsen ist, die aus der Not eine Tugend gemacht hat. Und Gloria Naylor gibt ihnen eine Stimme, die weithin und lang anhaltend zu hören sein wird.

Linden Hills

Linden Hills – klingt wie ein Hohn, wenn man es sieht. Hügel? Naja, eine kleine Erhebung. Wer hier lebt, ist nochweit vom amerikanischen Traum entfernt. Luther Nedeed hat das Grundstück vor Jahrzehnten erworben. Warum er damals aus Mississippi verschwunden ist, verschwinden musste (?), weiß keiner so genau. Nur, dass er tot ist. Und nun ein weiterer Luther Nedeed die Miete für die Häuser am „Hügel“ einsammelt.

Der alte Luther saß tagein, tagaus vor seinem Haus und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Angsteinflößend war der Alte. Kaum einer trat an ihn heran, um zu erfahren wie er eigentlich sein Leben bestritt. Ein Schwarzer mit Grundbesitz, in Sichtweite des Big Apple? Hier ist vieles möglich, aber ist auch wirklich alles möglich? Sei es wie es sei. Die Nedeeds haben sich eine kleine Dynastie aufgebaut. Der Name wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Nedeeds vermehren sich und der Hügel füllt sich nach und nach mit Menschen, die es sich nicht leisten können woanders zu leben. In, auf Linden Hills haben sie die Möglichkeit bekommen sich niederzulassen.

So auch Lester und Willie. Sie reinigen die Einfahrten in Linden Hills. Seit der Schulzeit sind die beiden befreundet. Echte Freunde. Und schlurfen sie von Einfahrt zu Einfahrt, verrichten ihren Dienst. Ihnen geht auch nie der Gesprächsstoff aus. Immer gibt es was zu bereden. Immer gibt es ein Thema, das abschließend bequatscht werden muss. Immer, jeden Tag, vielleicht für den Rest ihres Lebens?

Ihre Klientel ist den beiden reichlich schnuppe. Das saubere Weiß der Häuser der Schwarzen ringt ihnen nur ein Naserümpfen ab. Jeden Tag auf und ab. Bis hinunter zu Luther Nedeeds Haus. Dass der ein Geheimnis hütet, ist ein offenes Geheimnis. Auch dass sich niemand traut es zu lüften. Vielleicht ist es ja an Lester und Willie Licht ins Dunkel von Linden Hills und den Nedeeds zu bringen?!

Fasziniert folgt man Gloria Naylor wie sie behutsam den Spannungsbogen aufbaut. Rastlos zu Beginn und detailverliebt je mehr Seiten man umblättert. Das Leben von Lester und Willie verläuft in geregelten Bahnen. Einfahrten kehren, sich über die Bewohner lustigmachen, dem Neid ein bisschen Freiraum geben. Dennoch wird jeder Tag als Geschenk angenommen. Erst als die beiden weiter unten ankommen – also beim Haus der Nedeeds – tapsen die beiden, denen das Glück bisher nur in Dosen hold war, in eine Sache, die ihr Leben ordentlich durcheinander rüttelt. Der Alltagsrassismus macht vor niemandem halt. Auch untereinander. Stets müssen alle auf der Hut sein, denn Neid und Missgunst kennen keine Rassenschranken.