Der USB-Stick

Jeder große Herrscher der Geschichte hatte seine Handlanger, die ihm zu seinem Ruhm verhalfen. Die kleinen Helferlein stehen immer im Schatten. Man sieht sie nicht. Jean Detrez ist auch so ein kleines Helferlein. Doch er steht nicht so unerkannt im Schatten wie man es vermutet. Als Experte der Europäischen Kommission für Machbarkeitsstudien für Blockchain-Technologien – es wie immer ums Geld, Stichwort Bitcoin – wird immer mal wieder von Lobbyisten angesprochen. Meist lässt es ihn kalt. Seine Arbeit hat Vorrang, alles andere interessiert ihn kaum. Dass er geschieden ist, beweist diesen Wesenszug nicht unbedingt, verstärkt aber das Bild des Lesers von Jean Detrez.

Zwei Lobbyisten kommen wieder mal auf ihn zu. Sehr interessant, was er soeben in seinem Vortrag erzählt hätte. Jean kennt das schon. Man will ihn abwerben, seine Arbeit nutzen, sein Wissen für sich selbst nutzen. Alles wie immer. Nein, nicht ganz. Aus unerfindlichen Gründen spitzt Jean Detrez dieses Mal die Ohren. Die beiden Typen legen eine Hartnäckigkeit an den Tag, die es ihm fast unmöglich machen sie zu ignorieren. John Stavropoulos und Dragan Kucka, manchmal in Zusammenarbeit mit Yolanda Paul – mehr Weltläufigkeit kann man kaum in die Namensfindung investieren – laden ihn mal allein, mal im Zweier-, einmal auf im Dreierteam ein, in China sich mit ihrem Boss zu unterhalten. Ganz zwanglos! Na klar, wer‘s glaubt! Ein letztes Treffen zwischen Jean und John soll letzte Zweifel aus dem Weg räumen. Ganz wohl ist Jean bei der ganzen Sache nicht. Ein schleichender Prozess, der mit leichtem Verfolgungswahn beginnt, und mit dem Diebstahl seines Laptops noch nicht ganz beendet sein wird. Dazwischen liegen wenige Tage, die sein Leben komplett aus den Angeln heben.

Jean entschließt sich das Angebot nach China zu reisen anzunehmen. Er ist eh auf dem Weg nach Tokio. Zwei Tage Zwischenstation in China – was soll da schon passieren? Es werden zwei Tage, die offiziell niemals stattgefunden haben. Während dieser 48 Stunden existiert Jean Detrez nicht. Keiner weiß, wo er ist, nicht seine Ex-Frau, seine Kinder, seine Eltern (was am schlimmsten ist, denn sein Vater liegt im Sterben), ganz zu schweigen von seinem Arbeitgeber.

Als Jean endlich wieder zurückkehrt nach Brüssel, ist die Welt eine Andere. Der Terror hat Deutschland erreicht, sein Vater ist tot, seine Aufzeichnungen sind geklaut worden, sein Vortrag in Tokio abgesagt. Und er hat niemanden, mit dem er über das sprechen kann, was ihn die vergangene Zeit beschäftigt hat. Der USB-Stick, den John Stavropoulos verloren hat, den Jean gefunden hat, der ihn in die Welt der Cyberkriminalität auf so subtile Weise geschleudert hat – wurde er letztendlich „absichtlich verloren“? Was ist, wenn alles auf diesem Stick alles Dagewesene in den Schatten stellt?

Jean-Philippe Toussaint ist kein Autor, der die Welt in einen Feuerball aufgehen lässt. Ihn interessiert mehr was Veränderungen mit dem Einzelnen machen. Sein Held ist kein harter Kerl, der im Unterhemd die Welt rettet. Er ist einer, dem das Hirn näher ist als der Bauch. Ob er sich in dieser Rolle wohlfühlt oder sich insgeheim wünscht ein Anderer zu sein, das überlässt Toussaint dem Leser.