La Garçonne

Na, das ist ja ein hübsches Früchtchen, diese Monique Lerbier. Möchte man meinen, wenn man die ersten Seiten dieses Romans liest. Die Eltern haben es zu eine gewissen Reichtum gebracht. Was Mama erlaubt den Tag mit Flanieren, den Abend mit Tanzen zu verbringen. Und Papa ist nur am Wochenende daheim, und selbst dann geht es immer nur ums Geschäft. So wird Monique von wechselnden Mademoiselles erzogen. Mal mehr, mal weniger beliebt. Und von Tante Sylvia. Die ist keine Schönheit, aber eine Kühnheit.

Die Jahre vergehen, Papa hat eine Erfindung gemacht, die sehr einträglich ist, der Schützengrabenkrieg dauert an, und bald schon wird Monique zu einer jungen Frau heranreifen, die sich an der Seite ihres liebenden Gatten wiederfindet. So hat es das Standesleben für sie vorgesehen. Und vor allem Papa. Das erfährt Monique aus einem Brief. Anonym, selbstverständlich. Darin wird behauptet, dass Lucien, so der Name des Auserwählten, durchaus anderweitig Zerstreuung sucht (und findet) und ebenso mehr als nur Monique als Grund anführen könnte, sie zu heiraten. Denn die Hälfte der Firma Papas winkt in der Ferne. Die Mitgift würde ein zu großes Loch in den Sparstrumpf Papas reißen. So waren die Zeiten vor reichlich hundert Jahren.

Doch Monique war schon immer etwas anders. Ein bisschen aufmüpfiger ohne dabei gleich eine Revolution vom Zaun zu brechen. Dennoch mit eigenem Kopf. Und für solch einen Viehhandel ist sie sich zu schade. Sie ist keine petit pauvre, kein armes Kind und schon gar nicht eine arme Kleine. Sie ist rigoros, entschlossen, durchsetzungsfähig. Lucien ist Vergangenheit. Vor liegt das Leben, das pralle Leben! Mit all seinen Facetten. Das Theater, der Rausch, die Bohème. Eine echte Garçonne eben. Unabhängig, unangepasst, nicht Willens den Konventionen auch nur eine Handbreit Platz zu geben.

Victor Margueritte schuf mit „La Garçonne“ einen echten Skandalroman. Wie kann sich eine junge Frau erdreisten sich gegen ihre Eltern, ihren Stand, gegen die Gesellschaft zu erheben? Und dann auch noch ins Bohème-Leben des brodelnden Paris eintauchen. Bis heute liest sich „La Garçonne“ wie ein Abenteuerroman. Die Konventionen mögen sich verschoben – gelockert – haben. Doch die Empörung wird immer noch vorhanden sein. In einer Zeit, in der sich scheinbar auf „alte Werte“ zurückbesonnen wird, sind Frauen wie Monique Lebier ein gefundenes Fressen für die neuen Moralwächter der Gegenwart. Auch und gerade aus diesem Grund ist Victor Marguerittes Buch ein Volltreffer, auch fast einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung.