Das Schneckenhaus

Es ist eine Szene wie sie millionenfach an Flughäfen rund um den Erdball zu beobachten ist: Ein Paar steht sich gegenüber. Einer der beiden wird bald abreisen und den anderen zurücklassen. Es ist eine Szene wie sie tausendfach an Flughäfen rund um den Erdball zu beobachten ist: Ein Paar steht sich gegenüber. Sie will um alles in der Welt nicht, dass er davonfliegt. Sie fleht, bettelt, weint fast. Ihn zieht es in die Ferne, in die Heimat zurück. Die hat er seit Jahren nicht gesehen. Seine Heimat ist Syrien in den Achtzigerjahren. Hafiz al-Assad regiert das Land mit stahlharter Faust und hat Rückendeckung aus Moskau. In knapp zwei Jahrzehnten wird er seinen Posten an seinen Sohn Baschar vererben.

Der unbekannte junge Mann, der Ich-Erzähler, stimmt in großen Teilen mit dem Autor des Buches Mustafa Khalifa überein. In Frankreich hat er Film studiert, Khalifa nicht. Was nach der Landung geschieht, hat sich niemand vorstellen können. Weder der Autor, seine Freundin, die er heiraten durfte, noch der Ich-Erzähler. Der Geheimdienst nimmt ihm seinen Pass ab, und gemeinsam fahren sie durch die Wüste. Die war einmal seine Heimat, die Heimat, die er so sehnlichst wieder sehen wollte. Den Koffer auspacken und sich heimisch fühlen – diese Handgriffe wird er für Jahrzehnte nicht mehr tun können. Jahr(!)zehnte!

In einem Gefängnis – das Gedächtnistagebuch kennt nur Tage, keine Jahreszahlen, geschweige denn Orte – wird er gleich mit Schreien, später mit Blut und Hautfetzen bekannt gemacht. Auch die Foltersituationen sieht er anfangs mit eigenen Augen. In einen Autoreifen gezwängt, der an der Decke befestigt ist, wird einem Gefangenen das Fleisch von den Fußsohlen geprügelt. Dem Ich-Erzähler blüht alsbald das Gleiche. Und alles nur, weil er in Paris, im Gespräch mit Freunden, einem zu aufgeschlossenen Ohr unverhohlen seine Meinung über den Präsidenten mitteilte. Dieses offene Ohr hatte nichts Besseres zu tun als seinen Bericht postwendend an die Behörden in Syrien weiterzuleiten.

Kaum gelandet beginnt eine Tortur, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Getauft und Atheist in einem islamischen Land, das sich eine funktionierende Diktatur aufgebaut hat – hier kann kein Freigeist existieren. Jeder Strohhalm wird ergriffen und im gleichen Moment fällt das Kartenhaus der Hoffnung krachend und schmerzvoll zusammen. Ein Alkoholiker kann seiner Welt entkommen, nur schwer, aber er hat zumindest die Möglichkeit das Licht am Ende des Tunnels zu erreichen. Die Gefängnisse in Syrien haben keine Tunnel. Und erst recht erlaubt man kein Licht. Nicht einmal Stifte und Papier sind erlaubt. Der Ich-Erzähler / Mustafa Khalifa hat nur eine Zuflucht: Sein eigenes Ich. Er zieht sich zurück wie eine Schnecke, die Gefahr wittert. Aus diesem Schneckenhaus heraus beobachtet er die rohe Welt ohne Horizont. Seine Gehirnwindungen sind die Schreibblöcke. Denn nicht nur die Gefängnisbetreiber und Bediensteten trachten ihm nach dem Leben. Er wird als Muslimbruder in den Büchern geführt. Die sind dem Assad-Regime ein Dorn im Auge. Die Muslimbrüder im Gefängnis beäugen ihn misstrauisch. Ist er einer von ihnen? Will er sie verraten? Hat er es vielleicht sogar schon getan?

„Das Schneckenhaus“ wird als das Evangelium der syrischen Revolution bezeichnet. Mit jeder Zeile, die man mit Kopfschütteln – ja, der Mensch ist tatsächlich zu so vielem im Stande zu tun – aufsaugt, beginnt man diesen Zeilen Glauben zu schenken. So was denkt man sich nicht aus! So was ist wirklich passiert, und passiert immer noch. Wer meint, dass so manche Widerwärtigkeit nicht immer wieder in Erinnerung gebracht werden muss, sollte dieses Buch lesen. Man kann nicht oft genug an Derartiges erinnern!