Provokation!

Geil! So ein Wort in den Mund zu nehmen, ja, es gab Zeiten, in denen man dafür mehr als schräg angeschaut wurde. Bruce & Bongo waren die Interpreten des gleichnamigen Titels und sorgten im Frühjahr 1985 wochenlang für heftige Kontroversen. Heute belächelt man eher diejenigen, die „geil“ als vermeintliche Jugendsprache deklarieren. So schnell kann’s gehen, erst der Teufel, dann Lachnummer. Bruce & Bongo brachte es beides, bis sie wieder dahin verschwanden, wo sie herkamen. In den Untiefen der Bedeutungslosigkeit. Ein typisches One-Hit-Wonder.

Doch „Geil“ war bei Weitem nicht das Fanal für Provokationen in der Pop-Musik. Eine Provokation ist per se immer an die herrschenden Verhältnisse gekoppelt. In einer prüden Gesellschaft kann beispielsweise allein schon die bloße Andeutung von sexuellen Handlungen Grund zur Aufregung geben. In einer humanistischen Gesellschaft sind Texte, die gegen Homosexualität, Ausländer und für die Leugnung von historischen Fakten einem hasserfüllten Publikum Futter geben, nicht minder große Aufreger. Bestes Beispiel ist hierfür die Abschaffung des deutschen Musikpreises Echo, nachdem die „Rapper“ Kollegah und Farid Bang (schon allein die Namen sollten eigentlich beim Publikum für Schmunzeln sorgen) mit ihren skandalträchtigen Texten nominiert wurden. Analog zu Bruce & Bongo kann man hier leider nicht davon sprechen, dass Provokation in der Popmusik nun ein Ende hat.

Bei der Provokation muss man zwischen zwei Arten unterscheiden: Der gezielten Provokation (meist kurzfristig, ein Phänomen der Gegenwart, die immer mehr Unbedarfte ins Visier der Öffentlichkeit spült) und dem puren Ausleben der eigenen Leidenschaft, die automatisch provoziert. Kaum einer würde wohl einem Bill Haley unterstellen, dass er die Gesellschaft mit heißen Rhythmen unterwandern wollte. Er liebte den Rock ‘n Roll und das allein war schon Grund zur Besorgnis. Bei Rappern der Gegenwart, egal ob dies- oder jenseits des Atlantiks, überkommt einem nur allzu oft das Gefühl, dass hier eine im Vorfeld genau durchexerzierte Provokation stattfinden soll.

Ob der Playback-Skandal von Milli Vanilli, Alice Coopers Bühnenshows, Westernhagens Anklage gegen Adipöse oder der Aufstieg von Conchita Wurst – Autor Michael Behrendt wühlt im Schmutz der Lautmacher und ihrer Ausdrucksformen. Schon das Cover (Banksys kissing police) führt den Leser auf die richtige Spur. Peter Toshs „Legalize it“, „Antichrist Superstar“ von Marilyn Manson (dessen Name schon für leuchtende Augen bei denen sorgt, die sich bewusst abgrenzen wollen) oder „The queen is dead“ von den Smiths – hier wird jeder fündig, der die Charts als Leitfaden zur Selbstbestimmung versteht.

Nicht jede vokale Provokation ist mit dem Interpreten gleichzusetzen. Denn nicht jeder, der auf einer Bühne nach Beachtung schreit, hat seine Texte selbst verfasst. Das relativiert so manches böse Wort. Und im Laufe der Zeit kehrt der eine oderandere Provokateur seinen Wurzeln des Erfolgs den Rücken. Hier noch ein paar Beispiele aus dem Buch, die dem Leser entweder in Verzückung versetzen, ein „Ach so“ entlocken oder für Verwunderung sorgen: Judas Priest – schwuler Sänger, harte Riffs, explizite Texte. Das führte zur Anhörung vor höchsten Stellen. Tipper Gore, Ehefrau von „Umweltaktivist“ und Ex-US-Vizepräsident Al Gore war die treibende Kraft dahinter. Body Count und „Cop Killer“ – so wird auch die Schusswesten durchschlagende Munition genannt – Erklärung überflüssig. t.A.T.u. – Ihr Liedchen „All the things she said“ – ein Zungenbrecher für die germanischen Sprachhüter brachen mit dem dazugehörigen Video einen Sturm der Entrüstung los. Zwei Mädchen, die sich küssen – wo soll das noch hinführen. Die Antwort wird in Deutschland indirekt immer wieder und immer unverhohlener auch von echten Demokraten versprochen. Die Zukunft sieht deutlich verklemmter aus, als es die jüngere Vergangenheit war.

Dieses Buch ist keine Provokation! Es ist das aufwendig recherchierte Lexikon dessen, was Provokation war und immer noch ist. Nüchtern wirft Michael Behrendt einen Blick hinter den Vorhang der Aufreger der Populärmusik. Ein Buch, das man spätestens dann wieder (und wieder und wieder) in die Hand nimmt, wenn Paul Hardcastles „19“, Prince‘ „Controversy“ im Radio erklingen oder Die angefahrenen Schulkinder wieder einmal vom Sex mit Steffi Graf fantasieren. Falls es noch Musikredaktionen gibt, die dieses Buch nicht im Schrank haben – schämt Euch! – kauft es! Ist allemal besser als die tausendste Nennung der Radiostation und millionenfacher Hinweise auf sinnentleerte Gewinnspiele, um die Quote während der Medienanalyse künstlich anzuheben.