Die gelbe Tapete

Wie man es dreht und wendet: Sie hat den Blues. Den Baby-Blues. Kurz nach der Entbindung geht es einer jungen Frau nicht so wie man es allgemein erwartet. Sie fühlt sich schlapp. Selbst geringe Aufgaben zehren an ihren Kräften. Ihr Mann John ist Arzt und verordnet ihr, sich selbst und dem kleinen Wurm einen ausgedehnten Erholungsurlaub. Ein kleines Häuschen weit weg von allem, was an Alltag erinnern könnte, ist schnell gefunden.

Ein hübsches kleines Idyll in nicht minder idyllischer Umgebung. Doch es will sich keine Erholung einstellen. An Besucher ist gar nicht zu denken. Als dann doch eine Party steigt – irgendwann muss das Einsamkeitsidyll ja auch mal ein Ende haben – darf sich die junge Frau an keinerlei Vorbereitung beteiligen.

Denn das Idyll hat Risse. Und damit sind keineswegs selbige in der Wandverkleidung gemeint. Schön wär’s, wenn es doch so wäre. Die Tapete, die gelbe Tapete, macht der Rekonvaleszenten gehörig zu schaffen. Die Farbe allein reicht schon, um sich aufzuregen. Durch die Sonne teils verblasst. Angesiedelt irgendwo zwischen Durchfall und Auswurf. Das alles ist mit ein bisschen gutem Willen verschmerzbar. Doch das Muster! Oh je! Ein Muster zum Verrücktwerden. Immer mehr steigert sich die junge Mutter in wilde Geschichten, was das Muster ihr erzählen kann, erzählen will, hinein. Erholung ade! Drehbuchschreiber könnten aus ihren Psychosen mörderische Geschichten erfinden. Von Monstern, die des Nachts aus ihrer Zweidimensionalität kriechen und dreidimensional für Schrecken und Horror sorgen. John bemerkt die Veränderungen an seiner Frau nicht. Vielmehr sorgt er sich, dass seine Behandlungsmethoden nicht anschlagen. Erst kurz vor dem Ende des Erholungsurlaubes, der diese Bezeichnung noch nie verdient hatte, sind die Anzeichen für Schlimmeres nicht mehr von der Hand zu weisen…

Charlotte Perkins Gilman – drei Jahr vor ihrem Tod wurde ein anderer, durch seine Rolle in einem Psycho-Streifen weltbekannter Schauspieler geboren: Anthony Perkins, der Norman Bates aus Hitchcocks „Psycho“ – macht die Beklemmung einer jungen Frau greifbar, die gefangen ist zwischen Pflicht- und Traumerfüllung. Sie will eine gute Mutter sein, kann es aber nicht, weil ihr die Kraft fehlt. Ebenso wie das Eingeständnis, dass sie sehr wohl das Recht hat ihrem Mann alles zu gestehen. Der wird unfreiwillig zum Handlanger des Bösen. Er sieht nicht, vielleicht will er aus falsch verstandenem Standesbewusstsein es auch nicht sehen, wie sehr seine Frau sich ängstigt in dem Zimmer mit der gelben Tapete.

Ein kleines Buch, das man gleich zweimal, oder sogar doppelt lesen kann. Denn zum Einen ist der englische Originaltext abgedruckt, zum Anderen die Neuübersetzung von Christian Detoux. Und zwar wortwörtlich Seite für Seite. Die Spannung des Originaltextes, der in seiner Intensität an Edgar Allan Poe erinnert, der Charlotte Perkins Gilman rund ein halbes Jahrhundert voraus war, verliert mit keiner Silbe durch die Übertragung ins Deutsche. Ideal für Parkspaziergänge, Erkundungen in unheimlichen Burgruinen oder als tiefgreifende Bettlektüre.