Jagd nach einem Schatten

Seite 153, untere Hälfte: „Wer bist Du?“. Ein Aufschrei geht durch den Leser. Wird er sich nun zu erkennen geben? Alles auf den Tisch legen, seinen Antrieb, seine Verfehlungen.

Bis zu diesem Punkt hat man schon einiges gelesen von einem gerissenen, gescheiten jungen Mann. Samuel Ben Nissim Abul Farag wurde als Sohn des Rabbis von Caltabellotta vielleicht nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, doch der Zugang zu Büchern und Schriften und somit zu Wissen war für ihn ein offenes Tor. Gar nicht töricht beschritt er oft und vor allem gern den Weg des Wissens. Ein aufgewecktes Kerlchen, der im Rahmen seiner Möglichkeiten – wir befinden uns im 15. Jahrhundert – seiner Rebellion freien Lauf ließ.

Er ist befreundet mit einem Moslem. Mehr als befreundet. Doch die Liebe soll nicht lange währen. Große Veränderungen warten auf den wissbegierigen (Betonung auf „gierig“!) Jüngling. Eine gesicherte Zukunft ist ihm mehr als sicher. Doch eine, nennen wir es Unachtsamkeit, die Quellen geben dazu auch keine konkreten Auskünfte, zwingen ihn zur Flucht. Aus dem jüdischen Samuel wird der getaufte Guglielmo Raimondo Moncada. Sein neuer Name bezieht sich auf seinen Taufpaten.

Neuer Name, neues Glück! Der Papst, Sixtus IV. bekommt Wind von dem engagierten Prediger. Er lädt ihn ein die Karfreitagsmesse zu zelebrieren. Wieder einmal kennt der Weg des Mannes aus dem tiefsten Süden Italiens, das es so damals noch gar nicht gab, nur eine Richtung: Nach oben, nach vorn. Und wieder klopft das Schicksal an die Tür. Und wieder muss Samuel, dieses Mal als Guglielmo flinke Füße beweisen. Die historischen Fakten liegen dieses Mal aber etwas offener dar: Es war Mord. Mord an einem Geldverleiher, der, nachdem er herausgefunden hat, wer sich hinter Guglielmo in Wirklichkeit verbirgt, noch einmal nachkobert. Das hätte er nicht tun sollen…

Flavio Mitridate, wieder eine Namenswahl, die nicht zufällig geschieht, reist in der Folge durch ganz Europa. Als Kenner vieler Sprachen ist er ein gern gesehener Mitarbeiter und Wissensvermittler. Irland soll er besucht haben. In Deutschland hat er garantiert gelebt und gearbeitet. Doch Mitridate – der natürlich Samuel heißt oder Guglielmo – zieht es zurück in die Heimat. Heimweh? Oder doch irrwitziger Versuch mal zu schauen, ob er doch durch kommen kann mit all dem, was die Vergangenheit ihm bescherte?

Andrea Camilleri stieß Anfang der 70er Jahr auf die mosaikhafte Geschichte eines Mannes, der unter drei Namen für Furore sorgte. Exakte und vollständige Schriften gab es nicht, jedoch Bruchstücke. Leonardo Sciascia hatte sich schon einmal der Geschichte angenommen. Der literarische Wegbereiter Andrea Camilleris, der am 6. September 2018 seinen 93. Geburtstag feiert, ließen diese Bruchstücke keine Ruhe. Seine Gedanken zu dem „Schatten“ erhellen jede noch so kleine lichtverschlingende Stelle in der Geschichte von Samuel, Guglielmo und Flavio. Immer wieder unterbricht er den Leserfluss und unterrichtet den Leser über das, was dieser soeben gelesen hat und was ihm noch bevorsteht. Das Triptychon der Gerissenheit bekommt mit jeder Seite mehr Konturen. So lange bis es ein Gesamtwerk von unendlicher Strahlkraft ergibt. Der Dank gilt in diesem Fall nur einem: Andrea Camilleri.