Dämmer und Aufruhr

Wow, was ein Titel! „Dämmer und Aufruhr“, Roman der frühen Jahre. Schaut man in so manche Hinterhöfe, sieht man sie noch oft, die Dämmer. Von Aufruhr keine Spur.

Wow, was ein Buch! Autobiographisch. Bodo Kirchhoff feierte im Sommer seinen 70. Geburtstag. Zeit Bilanz zu ziehen? Nicht unbedingt. Aber einen Blick in die Geschichte dieses (zu Recht!) mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers werfen zu können, ist ein Privileg und eine Freude zu gleichen Teilen.

Ein Privileg, weil man das Gefühl hat heutzutage mit allem hinter dem Berg halten zu müssen. Lügen zu verbreiten ist einfacher und bringt mehr Aufmerksamkeit. Warum sich also noch um Fakten kümmern? Und eine Freude ist es, weil die Erzählkunst (oder ist es Handwerk?) von Bodo Kirchhoff nur eine Art von Tränen erlaubt: Freudentränen. Da liest man von kriegswunden Städten und bellender Intelligenz – die Essenz dieser Worte betört, verzaubert, lässt den Leser erstarren.

In Alassio hat sich er namenlose Erzähler, der natürlich Bodo Kirchhoff heißt niedergelassen, um die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren zu lassen. Hier begann alles. Hier waren alle glücklich, in den Ferien. Mama, Papa, Kind, bald schon Kinder. Sommeridylle, Sorgenfreiheit. Alles weit weg und doch so nah.

Wie erlebt man die eigene Geschichte mit dem Abstand von Jahrzehnten? Man ist reifer geworden, älter natürlich, das auch. Sind die Emotionen von damals noch frisch, bereit eingefangen zu werden? Ein Versuch ist es allemal wert. Und so streift der Blick zurück die Eckdaten der Menschwerdung. Die Mühen ohne männliches Vorbild heranwachsen zu müssen, sind gering im Vergleich zur Zeit im Internet. Wie ein bleischwerer Dämmervorhang hebt sich die unzulässige Zuneigung des Kantors dem noch nicht einmal Teenagers. Das widerwärtige Spiel der Macht verliert sich nicht im Reigen der Worte, wird aber auch nicht impulsiv überhöht.

Die Jahre vergehen. Freunde kommen, Freunde gehen. Bücher, Musik, Mädchen sind die drei Säulen im Leben des Beschriebenen. Mit der Distanz der Zeit, mit der Distanz der Emotionen, mit der Distanz der Orte kehren immer wieder – mal stärker, mal schwächer – die Erinnerungen zurück, umrahmt von neuerlichen Erlebnissen am neuen alten Urlaubsort.

Bodo Kirchhoff in Höchstform. Er muss niemandem mehr beweisen, dass die deutsche Sprache durch ihn auf eine höhere Stufe gehoben wurde. Die über vierhundert Seiten verfliegen wie ein Zielsprint bei der Tour de France oder ein Elferkrimi im Stadion. Wuchtig-gefühlvoll-meisterhaft zielt Bodo Kirchhoff in alle Sinneszentren. Es knallt, es raucht, die Synapsen kollabieren vor Ehrfurcht vor so viel Sprachgewandtheit.

Wow, was eine Wirkung! Wer sich jetzt noch getraut die eigene Geschichte zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, muss mehr zu bieten haben als aufgeschlagene Knie und Alkoholeskapaden in sturmfreier Bude.